Überlegungen

 Wir haben eine Theorie der Aggregate entwickelt, die als Abglanz der Listentheorie von vorneherein eine hoch organisierte Struktur der Kardinalzahlen verwendet: Die Kardinalzahlen − Gebilde aus Nullen − sind reichhaltig vorhanden, und sie sind wohl geordnet. Diese Strukturvoraussetzung ist, wenn sie auch durch die Erfahrungen der Mengenlehre und Listentheorie gestützt wird, sicher ad hoc. Verzichtet man auf Teile dieser Struktur, so werden die auftauchenden Schwierigkeiten allerdings wohl eher größer als kleiner. Speziell auf die Existenz von Suprema über Kardinalzahlen ist schwer zu verzichten.

 Es ergibt sich folgendes Bild: Der auch für unendliche Objekte intuitiv klare Ersetzungsvorgang scheint nicht derart formalisierbar zu sein, dass die Zählung der Elemente eines Objektes gleichsam automatisch erfolgt, und sich der Zusammenhang mit Bijektionen dann als Satz ergeben würde. Die eine Richtung, die von der Existenz einer Korrespondenz zwischen x und y auf c(x) = c(y) schließt, konnten wir noch recht natürlich aus der Grundüberzeugung der Kommutativität der Kardinalzahladdition gewinnen, und diese lässt sich im Kommutativitätsschema ansprechend formulieren. Dagegen scheint die andere Richtung, von c(x) = c(y) auf die Existenz einer Korrespondenz zwischen x und y zu schließen, nur recht direkt axiomatisch gefordert werden zu können. Im Endlichen ist alles noch vergleichsweise problemlos. Unsere c-Funktion tendiert dagegen dazu, die Anzahl der Elemente eines unendlichen Aggregats zu unterschätzen. Das Leitmotiv der Reichhaltigkeit der Kardinalzahlen rechtfertigt das Repräsentationsaxiom, und mit diesem ist die auf die Mengen eingeschränkte Funktion c surjektiv auf den Kardinalzahlen. Ohne diese Reichhaltigkeitsvoraussetzung strebt die Kardinalitätsfunktion in gewisser Weise die Lösung c(x) = 0 für alle unendlichen Mengen x an.

 „Versammeln wir also einmal einige Herren zur Betrachtung eines Bleistiftes und ersuchen wir sie, mit aller Kraft von der Beschaffenheit und der Ordnung des Gegebenseins seiner Elemente zu abstrahieren. Nachdem wir ihnen hinreichend Zeit zu diesem schwierigen Werke gelassen haben, fragen wir den ersten: „Welcher Allgemeinbegriff ist Ihnen entstanden?“ Unmathematisch, wie er ist, antwortet er: „das reine Sein“. Der zweite meint vielmehr: „das reine Nichts“, der dritte − ein Schüler vermutlich des Herrn Cantor −: „die Kardinalzahl Eins“. Einem vierten ist vielleicht das Gefühl der Wehmut zurückgeblieben, daß alles verduftet sei, einem fünften - wohl einem Schüler des Herrn Cantor − hat eine innere Stimme zugeflüstert, daß Graphit und Holz, Bestandteile des Bleistifts, „konstitutive Elemente“ seien, und es entsteht in ihm der Allgemeinbegriff, genannt die Kardinalzahl Zwei. Nun warum sollte nicht bei dem Einen dies, bei dem Anderen jenes herauskommen? Ob freilich den Definitionen des Herrn Cantor die Schärfe und Bestimmtheit zukommt, die ihr Urheber von ihnen rühmt, ist mir hiernach zweifelhaft. Vielleicht kommt es daher, daß wir unseren Versuch gerade mit einem Bleistift angestellt haben. Man sagt vielleicht: „ein Bleistift ist doch keine Menge“! Warum nicht? Nun, dann lassen wir den Mond ansehen! „Der Mond ist auch keine Menge!“ Schade! Die Kardinalzahl Eins möchte doch auch gerne irgendwo und irgendwann entstehen, und der Mond schien so passend als Geburtshelfer. Nun, dann nehmen wir einen Sandhaufen. Ach, da will ihn schon einer auseinander rühren. „Sie wollen doch nicht etwa gar zählen? Das ist streng verboten! Sie müssen die Zahl durch einen einzigen Abstraktionsakt gewinnen.“ „Aber, um von der Beschaffenheit eines Sandkorns abstrahieren zu können, muß ich es doch erst einmal angeschaut, aufgefaßt, seine Bekanntschaft gemacht haben!“ „Das ist ganz unnötig. Wo blieben sonst die unendlichen Kardinalzahlen? Wenn Sie das letzte Sandkorn anschauten, würden Sie ja doch die ersten schon wieder vergessen haben. Sie sollen ja, ich hebe es nochmals hervor, durch einen einzigen Abstraktionsakt die Zahl gewinnen. Freilich bedürfen Sie dazu des Beistandes höherer Wunderkräfte…“.

(Frege [ 1983, S. 79f ], Entwurf zur Rezension von [ Cantor 1890 ])

 Freges veröffentlichte Rezension ist milder als der Entwurf, aber immer noch sehr scharf ausgefallen. Zu scharf, wie unsere Untersuchungen über Listen und Aggregate versucht haben zu zeigen.