Einführung

Cantor definiert 1897 in seinen „Beiträgen zur Begründung der Mengenlehre“ den Ordnungstyp einer linear geordneten Menge durch Neutralisieren ihrer Elemente wie folgt:

 „Nach § 7 hat jede einfach [ linear ] geordnete Menge M einen bestimmten Ordnungstypus M ; es ist dies der Allgemeinbegriff, welcher sich aus M ergibt, wenn unter Festhaltung der Rangordnung ihrer Elemente von der Beschaffenheit der letzteren abstrahiert wird, so daß aus ihnen lauter Einsen werden, die in einem bestimmten Rangverhältnis zu einander stehen. Allen einander ähnlichen Mengen, und nur solchen, kommt ein und derselbe Ordnungstypus zu. Den Ordnungstypus einer wohlgeordneten Menge F nennen wir die ihr zukommende ‚Ordnungszahl‘.

 Die vorliegende Arbeit nimmt diese Vorstellung und die sie tragende allgemeinere Idee der Abstraktion als sinnvollen und natürlichen mathematischen Begriff an. Sie wird zum einen für Wohlordnungen und zum zweiten für Kardinalzahlen untersucht, jeweils im Licht der mathematischen Logik. Die Wohlordnungen werden dabei in einem sprachlichen Rahmen entwickelt, der sich allgemein zur Beschreibung geordneter Strukturen eignet und damit weitere Wege möglich erscheinen lässt.

 Der Cantorsche Abstraktionsvorgang und das entstehende Gebilde aus Einsen ist intuitiv sehr klar, aber in der axiomatischen Mengenlehre dagegen nicht direkt zu realisieren. Kanonische Repräsentanten für Wohlordnungen gleicher Länge lassen sich mit einiger Mühe finden, ihre Definition ist aber verglichen mit der einfachen Idee der Cantorschen Ordinalzahlen recht kompliziert. Cantors Definition liefert zudem allgemeiner für alle linearen Ordnungen einen Ordnungstyp. In ZFC sind kanonische Repräsentanten für lineare Ordnungen nicht mehr auszumachen, und die dort übliche Definition des Ordnungstypus über das Zurückschneiden einer echten Klasse zu einer Menge mit Hilfe einer kumulativen Hierarchie ist eher eine technische denn eine inhaltliche Lösung. Und selbst wenn wir die echte Klasse aller zu einer gegebenen Ordnung isomorphen Ordnungen als Objekt einer Theorie zulassen, so ist diese Konstruktion doch etwas ganz anderes als das, was Cantor − und die lange Tradition, auf die er sich stützt − hier definiert wissen will.

 Mengen erscheinen uns heute begrifflich einfach. Das Arbeiten mit ihnen ist unbeschwert, aufgrund der freien, eleganten und bis ins Detail sehr sorgfältig entwickelten Sprache, aber auch deswegen, weil die mathematische Welt sich auf den Jargon der Mengenlehre und die ZFC-Axiomatik mehr oder weniger bewusst geeinigt hat. „Die mengentheoretische Maschine läuft, und läuft besser als alle anderen, die derartig universelle Einsatzmöglichkeiten anstreben“ − wie mit starken Argumenten so oder ähnlich oft gesagt wird. Die normative Kraft des Erfolges der axiomatischen Mengenlehre überdeckt dabei leicht die Komplexität ihrer Entstehungsgeschichte. So vertraute Dinge wie etwa der Unterschied zwischen x und { x }, die bloße Bildung von Mengen von Mengen, der Begriff der Potenzmenge oder der mengentheoretische Funktionsbegriff brauchten mehrere Generationen, bis sie, als Teil eines größeren und komplexen grundlagentheoretischen Gebäudes, vollständig entwickelt waren. Heute nun werden alle mathematischen Konstruktionen fast automatisch mit dem mengentheoretischen Auge gelesen und interpretiert: „ ‚making a notion precise‘ is essentially synonymous with ‚defining it in set theory‘ “ [ Moschovakis 1994, S. vii ]. Dabei gibt es Strukturen, die durchaus den Anspruch erheben können, wie die Mengen als erste Objekte einer weit gespannten Grundlagentheorie zu gelten. Hausdorff schreibt 1914 in den „Grundzügen der Mengenlehre“ bei der Einführung geordneter Paare:

 „Die Doppelindices (i, k) an Elementen einer Determinante, die rechtwinkligen Koordinaten (x, y) von Punkten der Ebene sind geordnete Zahlenpaare. Dieser Begriff ist also in der Mathematik fundamental, und die Psychologie würde hinzufügen, daß geordnete, unsymmetrische, selektive Verknüpfung zweier Dinge sogar ursprünglicher ist als ungeordnete, symmetrische, kollektive. Denken, Sprechen, Lesen und Schreiben sind an zeitliche Reihenfolge gebunden, die sich uns aufzwingt, bevor wir von ihr absehen können. Das Wort ist früher da als die Menge seiner Buchstaben, das geordnete Paar (a, b) früher als das Paar { a, b }.“  [ Hausdorff 1914, S. 32 ].

 Die Mengenlehre arbeitet minimalistisch mit der Relation des ungeordneten Enthaltenseins und führt alle anderen ordnenden Beziehungen a posteriori ein. Die Flexibilität der mengentheoretischen Sprache und ihrer Axiomatik in der nachträglichen Organisation der Dinge ist überraschend und beeindruckend; gerade bei der Definition von Zahlen und geordneten Strukturen entstehen aber durch diese Strukturerzeugung dann die vielbeschworenen „Interpretationen“ mathematischer Ideen und nicht ihr möglichst direkter Ausdruck, nicht ihr „irdisches Abbild“. Dass dieses Vorgehen, urspüngliche Struktur erst nachträglich zu etablieren nicht überall unproblematisch ist, zeigt ein Blick auf die Informatik: Während innerhalb der Mathematik der Mengenbegriff durch seine Gefügigkeit besticht, starten die heutigen Programmiersprachen mit geordneten Strukturen. „Mengen“ sind dort nur sehr aufwendig zu realisieren, und in der Praxis wird mit Feldern, Listen, Arrays usw. programmiert und nicht mit Mengen. Die Vereinigung zweier Mengen ist vom Standpunkt der Informatik weitaus komplexer als die Verkettung zweier Folgen. Selbst die fundamentale „Hash“-Datenstruktur der Programmiersprache Perl, die einer Menge bzw. dem mengentheoretischen Funktionsbegriff sehr nahe kommt, wird dort selten mit Hilfe des mengentheoretischen Vokabulars erläutert. Ähnliches gilt für formale Ansätze innerhalb der Linguistik, wo ebenfalls Folgen natürlicher erscheinen als Mengen.

 Ganz unabhängig von grundlagentheoretischen Aspekten scheint es natürlich und berechtigt zu fragen, ob und wie die uralte Idee der Abstraktion von der Natur der Elemente, sei es zur Definition eines Ordnungstyps oder zur Definition einer Anzahl, mathematisch präzisiert werden kann: Gibt es eine Theorie der Prädikatenlogik, die diese Idee in Bezug auf die Wohlordnungen, die linearen Ordnungen, die Bäume, usw. so umsetzt, dass wir sie darin unmittelbar ausgedrückt finden? Gibt es eine derartige Theorie in Bezug auf die Anzahlen? Die vorliegende Arbeit verfolgt zuallererst diese in der Tradition wurzelnden Fragen.

 Wir stellen in einem kurzen ersten Kapitel eine Sprache für geordnete Strukturen vor, die auf dem Begriff eines abstrakten „Ortes“ ruht. Als eine spezielle Ausgestaltung dieses noch sehr allgemein gehaltenen sprachlichen Rahmens entwickeln wir dann eine axiomatische Theorie der Wohlordnungen, welche hier „Listen“ genannt werden. Im dritten Kapitel diskutieren wir schließlich die zur Definition des Ordnungstyps analoge Cantorsche Definition einer Kardinalzahl und ihre lange Geschichte, und versuchen, in einem neuen sprachlichen Umfeld, uns einer axiomatischen Theorie der „Aggregate“ oder Multimengen zu nähern.

 Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift an der FU Berlin aus dem Jahre 2006. Mein Dank gilt besonders Herrn Prof. Donder, LMU München, für wertvolle Diskussionen über das Thema.

Berlin, im November 2009, Oliver Deiser   

 Beim Erstellen dieser Arbeit ist der Autor bei der (weitgehend erfolglosen) Suche nach ähnlichen Vorhaben auf folgende Passage in einem Artikel von Andreas Blass und Yuri Gurevich gestoßen. In diesem Artikel wird die Rolle der Mengenlehre in der Mathematik und Informatik in Form von Frage und Antwort diskutiert. Es heißt darin:

„Q [ = Quisani ]:  Anyway, granting the value of a reduction of mathematics to a simple foundation, why should it be set theory? For example, since sequences are so important in computing, it’s natural to ask whether they could replace sets in the foundation of mathematics.

A [ Authors ]:  We don’t know of any attempts in this direction. Transfinite sequences are a messy business. Nor do we know of attempts to use multisets, which are also computationally useful, for foundational purposes.“

[ Blass / Gurevich 2004, Why Sets? ]

Es war verblüffend zu lesen, dass die beiden Richtungen, nämlich Listen und Aggregate, die hier verfolgt werden, in dieser Passage als „sequences“ und „multisets“ in einem Atemzug genannt werden. Die in der vorliegenden Arbeit angesprochenen historischen Bezüge lassen die beiden Konzepte zwar als diejenigen erscheinen, die am ehesten die Chance gehabt hätten, den heutigen Platz der Mengenlehre einzunehmen, aber es wirkt unterstützend, dass sie sich auch im Hinblick auf die Informatik anbieten, wo Mengen als Grundmaterial nur wenige Anhänger finden.

 Die folgenden Seiten können, wenn man über das oben angesprochene Ziel der Präzisierung einer alten Idee hinausgehen will, als „attempt in using transfinite sequences and multisets for foundational purposes“ gelesen werden. Sie zeigen dann, dass das Prädikat „messy“ vielleicht eher auf Multimengen denn auf transfinite Folgen zutrifft.