Modelle für die Mengenlehre
Man kann Axiomensysteme 𝒜 für die Mengenlehre angeben, die unsere Intuition über den Mengenbegriff gut beschreiben, und uns erlauben, alle Konstruktionen, die wir bislang durchgeführt haben, zu rechtfertigen. (Wir werden in Abschnitt drei eine solche Axiomatisierung 𝒜 angeben, die Zermelo-Fraenkel-Axiomatik ZFC, und alternative Systeme kurz diskutieren.) Viele Axiome postulieren die Existenz von bestimmten Objekten. So könnten etwa
„für alle x, y existiert die Menge { x, y }“ und
„für alle Mengen x existiert die Potenzmenge von x“
Elemente dieses Axiomensystems 𝒜 sein. Sind sie nicht in 𝒜 direkt enthalten, so werden sich diese Aussagen aber mit 𝒜 beweisen lassen, wenn 𝒜 ein umfassendes System für die Mengenlehre sein soll.
Es zeigt sich, dass in einem genügend reichhaltigen mengentheoretischen System 𝒜 bereits die ganze klassische Mathematik interpretierbar ist, d. h.: Für jede mathematische Aussage Φ (der Algebra, der Analysis, der Mengenlehre, usw.) in der üblichen mathematischen Umgangssprache existiert eine Übersetzung φ von Φ in die formalisierte Sprache der Mengenlehre, für die gilt:
(+) Φ ist mathematisch beweisbar gdw φ ist beweisbar mit Hilfe von 𝒜.
„Mathematisch beweisbar“ auf der linken Seite ist zu verstehen als „es existiert ein Beweis von Φ, wie er in Vorlesungen, Büchern, auf Tagungen, usw. geführt wird“. Zum Beispiel sind alle bisher geführten Beweise in diesem Text Beweise im Sinne der linken Seite. Auf der rechten Seite ist der akkurate Sekretär am Werk, der alles peinlichst genau aufschreibt.
„Φ ist beweisbar (im Rahmen der üblichen Mathematik)“ heißt also nach (+):
„φ ist beweisbar mit Hilfe der Axiome 𝒜“,
wobei das Sytem 𝒜 eine genügend reichhaltige Axiomatisierung der Mengenlehre darstellt.
Wir identifizieren im Folgenden Φ und φ. Beweisbar in 𝒜 ist dann nichts als „beweisbar in der klassischen Mathematik“ im Sinne der obigen Diskussion.
Zwischen Φ und φ gibt es noch eine, auch historisch vorhandene, Zwischenstufe, nämlich die der Interpretation einer mathematischen umgangssprachlichen Aussage Φ in eine mengensprachliche − noch nicht formalisierte − Aussage Φ′. Φ und Φ′ verhalten sich etwa so wie ein Punkt P in einem zweidimensionalen Raum und ein (x, y) ∈ ℝ2. Die Ebene kann in dieser Weise arithmetisch interpretiert werden. Griechische Dreiecke werden zu neuzeitlichen Teilmengen des ℝ2. Analog kann man die Mathematik mengentheoretisch interpretieren, z. B. eine Funktion als eine Menge von geordneten Paaren auffassen, eine Gruppe als ein Paar (G, ·) mit bestimmten Eigenschaften, usw. Nach einer gewissen Zeit identifiziert man die beiden Ebenen, und da die Interpretationsebene zumeist eine Spur genauer ist, möchte man sie bald nicht mehr missen, und vergißt sogar oft, dass die Übersetzung eine Übersetzung ist. Und so, wie man heute einen Punkt P der Ebene geradezu als Paar (x, y) ∈ ℝ2 definiert wissen will, erwartet man von mathematischen Begriffen heute eine Formulierung innerhalb der Sprache der Mengenlehre. Vieles geht auch ohne solche Interpretationen: Die Griechen haben Geometrie auf hohem Niveau ohne eine arithmetische Übersetzung betrieben, der Leser kannte Funktionen wahrscheinlich auch ganz gut, ohne Kuratowskipaare zu kennen, und allgemein sprach die Mathematik eine klare Sprache auch vor der Erfindung der Sprache der Mengenlehre. Die Funktionen der Analysis haben sich nicht geändert und die Sätze über Dreiecke sind die gleichen geblieben, sie werden aber heute anders behandelt und formuliert. Die höhere Genauigkeit ist der Grund, warum sich die mengentheoretische Interpretation durchgesetzt hat, auch wenn für viele Anwendungen diese Genauigkeit − und der Mengenreichtum − gar nicht gebraucht wird, ganz so, wie nicht für jede Berechnung die volle Prozessorleistung verwendet werden muss. Aber auch außerhalb der erhöhten Genauigkeit gibt es einen großen Gewinn: Eine universale Sprache für alle mathematischen Teilgebiete erlaubt erst einen uneingeschränkten Gedankenaustausch und eine gegenseitige Befruchtung der einzelnen Disziplinen. Und speziell für die Geometrie brachte die mengentheoretische Sprache eine Befreiung von der Arithmetik in Form der mengentheoretischen Topologie.