Versuch einer Visualisierung

 Das folgende Diagramm gibt eine Zusammenfassung unserer Ergebnisse über die Größe von Mengen und eine anschauliche Fassung der Kontinuumshypothese. Wir denken uns den Bereich aller Mengen − das mengentheoretische Universum − in Abschnitte von Mengen gleicher Mächtigkeit eingeteilt, wobei die Mächtigkeiten von links nach rechts ansteigen.

mengenlehre1-AbbID37

 Das Diagramm beginnt links mit den endlichen Mengen, die wir in -viele Streifen „kein Element“, „genau ein Element“, „genau zwei Elemente“, usw. einteilen können. (Bereits die 1-Schicht ist uferlos groß, da für jedes Objekt x die Menge { x } dieser Schicht angehört.) Der Rest der Mengenwelt besteht aus unendlichen Mengen. Unter ihnen bilden die abzählbaren Mengen, die Mengen der Mächtigkeit von , die kleinste Schicht. Wir wissen, dass die Mengen der Mächtigkeit von  und weiter die Mengen der Mächtigkeit von () Schichten bilden, die weiter rechts liegen. Allgemein gelangen wir durch Anwendung der Potenzmengenoperation zu immer größeren Schichten. Die Aussage der Kontinuumshypothese und ihrer Verallgemeinerungen ist, dass diese Schichten aneinander lückenlos anschließen, dass also die mit einem Fragezeichen gekennzeichneten Bereiche leer sind.

 Zur Beschreibung der Länge des Streifenbandes nach rechts brauchen wir die Ordinalzahlen. Denn auch nach allen Schichten

,  (),   2() = (()),   3(), … 

gibt es noch neue Schichten: Die Mengen der Mächtigkeit von M = ⋃n  ∈    n() bilden eine Schicht hinter allen Schichten der Mengen , (),  2(), usw. (De facto ist M ein Repräsentant der auf alle  n() nächstfolgenden Schicht, wie wir später zeigen werden; das nächste Fragezeichen taucht also erst wieder beim Übergang von M zu (M) auf, und nicht etwa unmittelbar vor M.) Durch Bildung von

(M),  2(M), … ,  n(M), … , … , M′ = ⋃n  ∈    n(M), (M′),  2(M′), … , … 

gelangen wir zu immer größeren Mächtigkeiten. Die Ordinalzahlen sind gerade die Kilometersteine dieses nie bis zu seinem Ende beschreitbaren, unbeschreiblich komplexen Weges nach rechts.

Georg Cantors erste Erwähnung der Kontinuumshypothese

 „Da auf diese Weise für ein außerordentlich reiches und weites Gebiet von Mannigfaltigkeiten die Eigenschaft nachgewiesen ist, sich eindeutig und vollständig einer begrenzten, stetigen Geraden oder einem Teile derselben (unter einem Teile einer Linie jede in ihr enthaltene Mannigfaltigkeit von Punkten verstanden) zuordnen zu lassen, so entsteht die Frage, wie sich die verschiedenen Teile einer stetigen geraden Linie, d. h. die verschiedenen in ihr denkbaren unendlichen Mannigfaltigkeiten von Punkten hinsichtlich ihrer Mächtigkeit verhalten. Entkleiden wir dieses Problem seines geometrischen Gewandes und verstehen, wie dies bereits in §. 3 auseinandergesetzt ist, unter einer linearen Mannigfaltigkeit reeller Zahlen jeden denkbaren Inbegriff unendlich vieler, von einander verschiedener reeller Zahlen, so fragt es sich in wie viel und in welche Klassen die linearen Mannigfaltigkeiten zerfallen, wenn Mannigfaltigkeiten von gleicher Mächtigkeit in eine und dieselbe Klasse, Mannigfaltigkeiten von verschiedener Mächtigkeit in verschiedene Klassen gebracht werden. Durch ein Induktionsverfahren, auf dessen Darstellung wir hier nicht näher eingehen, wird der Satz nahe gebracht, dass die Anzahl der nach diesem Einteilungsprinzip sich ergebenden Klassen linearer Mannigfaltigkeiten eine endliche und zwar, dass sie gleich zwei ist.

 Darnach würden die linearen Mannigfaltigkeiten aus zwei Klassen bestehen, von denen die erste alle Mannigfaltigkeiten in sich fasst, welche sich auf die Form: functio ips. ν (wo ν alle positiven Zahlen durchläuft) bringen lassen; während die zweite Klasse alle diejenigen Mannigfaltigkeiten in sich aufnimmt, welche auf die Form: functio ips. x (wo x alle reellen Werte ≥ 0 und ≤ 1 annehmen kann) zurückführbar sind. Entsprechend diesen beiden Klassen würden daher bei den unendlichen linearen Mannigfaltigkeiten nur zweierlei Mächtigkeiten vorkommen; die genauere Untersuchung dieser Frage verschieben wir auf eine spätere Gelegenheit.

    Halle a. S., den 11. Juli 1877.“

(Georg Cantor 1878, „Ein Beitrag zur Mannigfaltigkeitslehre“ )