Interpretation der Paradoxien
Wir können die Paradoxien positiv deuten:
Deutung der Paradoxien
Die Zusammenfassungen
V = { x | x = x } , V ′ = { x | x ist Menge } ,
R = { x ∈ V ′ | x ∉ x },
M = U = { x | x ist fundiert } = ⋂ { x | x ist induktiv }
können wir nicht als Mengen, d. h. nicht als ein Ganzes, betrachten.
Bei der Cantorparadoxie entstand der Widerspruch durch die Anwendung des für alle Mengen gültigen Satzes |M| < |℘(M)| auf M = V. Wir haben also gezeigt, dass der Satz nicht für V gilt, dass also V keine Menge ist. Ebenso ist V ′ keine Menge.
Im Falle der Paradoxie von Russell-Zermelo haben wir gezeigt, dass R nicht im Wertebereich V ′ der Identität idV ′ auf V ′ = { x | x ist Menge } liegt, d. h. R ist keine Menge.
Die Mirimanov-Paradoxie zeigt, dass nicht nur der 0-irreflexive Teil R von V, sondern bereits der fundierte Teil M von V bzw. der Schnitt U ⊆ V′ aller induktiven Mengen nicht zu einem konsistenten Ganzen zusammengefasst werden kann.
In diesen drei Fällen − und in allen weiteren aufgetretenen Paradoxien der Mengenlehre − ist für die Widersprüche lediglich das Komprehensionsaxiom verantwortlich, mit dessen Hilfe wir Zusammenfassungen unbegrenzt vieler Mengen zu einem Ganzen vornehmen dürfen. Dies führt zu Widersprüchen. Es gibt Grenzen der Methode, Vielheiten als Einheiten oder Mengen aufzufassen. Die Cantorsche Definition, die wir zu Beginn diskutiert hatten, erlaubt uns auch solche beliebige Zusammenfassungen gar nicht. Sie sagt: Eine Menge ist jede Vielheit, die als Ganzes aufgefasst werden kann. Sie sagt nicht: Jede Vielheit ist eine Menge. Manche Vielheiten sind zu umfangreich, um iterativ als Objekte verwendet werden zu können. Wir können sie benennen, sie hinschreiben und sie uns vorstellen, aber sie zerfallen logisch, wenn wir sie zu Objekten machen wollen, und in die Mengenwelt, aus der sie von außen gezogen sind, zurückschicken. Der logische Zerfall des Russell-Zermelo-Konstrukts R als Objekt der Mengenwelt ist dabei instantan, er hängt nicht von mengentheoretischen Operationen wie der recht wilden Schnittbildung bei der Definition von U ab. R als Objekt der Mengenwelt nimmt sich selbst als Objekt auf und stößt sich selbst als Element „logisch gleichzeitig“ ab, ohne dass Potenzmengen, Vereinigungen oder ähnliches bei der Destruktion von R erst mithelfen müßten.
Cantor hat nur vereinzelt diskutiert, welche Vielheiten zu Mengen zusammengefasst werden können (vgl. die Briefauszüge am Ende von 3. 1). Er scheint Existenzannahmen und Bildungsprinzipien von Mengen als offenes Konzept verstanden zu haben. Seiner berühmten Ansicht, dass das Wesen der Mathematik gerade in ihrer Freiheit liege [1883 b, § 8], würde auch ein starres System von Mengenbildungsprinzipien nicht entsprechen. Wir untersuchen die Welt der Mengen, entdecken dabei immer neue Aspekte und lernen ihre Phänomene immer besser kennen. Bei dieser Untersuchung des Mengenbegriffs stoßen wir auf die Ideen der Unendlichkeit, der Abzählbarkeit und Überabzählbarkeit, der Vergleichbarkeit, auf Eigenarten der reellen Zahlen und der Potenzmengenbildung, usw. Wir stoßen schließlich auch auf die Grenzen der „Zusammenfassung zu einem Ganzen,“ und dies ist eine weitere schöne Erkenntnis über die Mengenwelt, nicht etwa ein Hinweis auf ihren pathologischen Charakter. Die Idee der freien Entdeckung einer unabhängig von uns gegebenen Wirklichkeit bleibt durch die Paradoxien unberührt. Auch bei einem Erdbeben wird man nicht gleich an der Existenz des festen Bodens unter den Füßen zweifeln. Diese Sicht der Dinge stimmt schließlich auch mit der Geschichte der Mengenlehre überein: In ihrem Verlauf sind immer wieder neue Prinzipien über die Existenz von Mengen aufgestellt worden, deren genauere Erkundung mit „Entdeckung von Neuland“ vielleicht am besten beschrieben wird.
Im Verlauf dieser Einführung haben wir viele Mengen gebildet, zum Teil recht umfassend im Übergang von M zu ℘(M), oder etwa im Beweis des Vergleichbarkeitssatzes. Es ist nun im Hinblick auf die Paradoxien der vollen Komprehension nur natürlich, sich − gewissermaßen als vorläufige Bestandsaufnahme − eine Liste von denjenigen Mengenbildungen zusammenzustellen, die wir für unsere Argumente wirklich brauchen, und die durch unsere Intuition und die bisherigen Erfahrungen mit dem Mengenbegriff als abgesichert, legitimiert und wünschenswert gelten. Dass zum Beispiel die Zusammenfassung aller Teilmengen einer unendlichen Menge zu einem Ganzen, der Potenzmenge, möglich ist, können wir nicht beweisen. Diese Zusammenfassung führt immerhin zu sehr großen fertigen Gesamtheiten, und es ist nicht auszuschließen, dass diese Operation widerspruchsvoll ist. Z. B. ist ein Widerspruch der folgenden Art denkbar: Wir bilden mit Hilfe von ℘(ℕ) „diagonal“ eine Teilmenge von ℕ, die nicht in ℘(ℕ) vorkommt. Demnach wäre die Zusammenfassung aller Teilmengen einer unendlichen Menge zu einem Ganzen nicht erlaubt, ℘(ℕ) wäre, wie V oder R, keine Menge mehr, sondern nur eine Vielheit, die nicht als Ganzes betrachtet werden kann.
Bislang ist aber in der Liste der Mengenbildungen, die wir in dieser Einführung benutzt haben, und die wir im dritten Abschnitt explizit vorstellen werden, keine Paradoxie einer zu umfangreichen Zusammenfassung festgestellt worden. Die Liste schwebt aber prinzipiell immer in der Gefahr, substantiell verkleinert oder umgeschrieben werden zu müssen. Andererseits ist sie auch erweiterungsfähig, wenn sich unsere Kenntnis der Mengenwelt soweit entwickelt hat, dass wir eine eindeutige Erweiterung oder Erweiterungen in verschiedene Äste als natürlich und angemessen empfinden, − so natürlich und angemessen wie die Existenz von ℕ, ℝ, ω1, oder wie die Existenz der Potenzmenge einer beliebigen Menge.
In anderer Hinsicht sind abweichende Deutungen der Paradoxien denkbar. Die Interpretation, dass manche Komprehensionen „zu groß“ sind, drängt sich auf, und führt, viel wichtiger, zu einer natürlichen Theorie, die fast ganz wie die naive Mengenlehre ist. Vielleicht werden dieser Interpretation aber einmal andere, ebenso brauchbare und überzeugende an die Seite treten, die feinere Unterscheidungen bei der Komprehension treffen als nur „klein“ oder „groß“. Bis jetzt steht sie übermächtig und unerreicht hinter der Cantorschen Mengenlehre, und schützt sie mit der Keule vor allen irgendwie verdächtigen Instanzen der Komprehension.