Die Genese von „Menge“

 Der Term „Menge“ selbst wurde von Bernard Bolzano (1781 − 1848) geprägt, und Cantor hat ihn von Bolzano übernommen. Bolzano beschreibt Mengen umständlich über „Inbegriffe“. In den posthum „aus dem schriftlichen Nachlasse des Verfassers“ herausgegebenen „Paradoxien des Unendlichen“ heißt es:

Bolzano (1851):

„Es gibt Inbegriffe, die, obgleich dieselben Teile [Elemente] A, B, C, D, … enthaltend, doch nach dem Gesichtspunkte (Begriffe), unter dem wir sie so eben auffassen, sich als verschieden … darstellen… Wir nennen dasjenige, worin der Grund dieses Unterschiedes an solchen Inbegriffen besteht, die Art der Verbindung oder Anordnung ihrer Teile. Einen Inbegriff, den wir einem solchen Begriffe unterstellen, bei dem die Anordnung seiner Teile gleichgültig ist (an dem sich also nichts für uns Wesentliches ändert, wenn sich bloß diese ändert), nenne ich eine Menge…“

 Bei Cantor sind nun erstaunlicherweise Mengen oft mit einer im Hintergrund stillschweigenden „inbegrifflichen Anordnung“ versehen, von der der intuitive Mengenbegriff heute, nicht zuletzt aufgrund Cantors eigener Umschreibungen, völlig frei ist. Ordnungen werden heute Mengen erst nachträglich aufgeprägt in Form von Relationen (s. u.), insbesondere also in Form von anderen ungeordneten Mengen. Cantor stellt sich das Gegebensein von Mengen oft geordnet vor, aber er arbeitet mit ihnen dann derart, dass nur ihre Extension in die Argumente eingeht. Wir kommen später auf diese, außerhalb von ordnungstheoretischen Überlegungen völlig stumme, Ordnung der Cantorschen Mengenvorstellung noch zurück (2. 6). Sie ist interessant, aber für Cantors mathematische Ergebnisse irrelevant und bei der Lektüre seiner Werke nicht störend.

 Neben „Menge“ wurde im 19. Jahrhundert auch mehr oder weniger gleichwertig verwendet: Mannigfaltigkeit, Gesamtheit, Inbegriff, Varietät, Klasse, Vielheit, System.

 Dedekinds Wortwahl „System“ orientiert sich an der griechischen Tradition der Zahl als System von Einheiten oder Monaden (μονάδων σύστημα). Diese Vorstellung wird bereits Thales (~ 625 − 547 v. Chr.) zugeschrieben, explizit steht sie bei Nikomachos von Gerasa etwa 100 n. Chr. Euklid (~ 295 v. Chr.) spricht nicht von Systemen, dafür wird bei ihm der Akt der Zusammenfassung betont: Eine Zahl ist eine aus Einheiten zusammengesetzte Menge, τὸ ἑκ μονάδων συνκείμενον πλήϑος, wobei πλήϑος Menge, Anzahl, Vielheit bedeutet. Dessen Wurzel ist πολυ, das im fremdsprachlich angereicherten Deutschen als Vorsilbe poly- überlebt hat. Die Monaden hat Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 − 1716) zu neuen Ehren gebracht, und auch noch Cantor wird derartige Einheiten bei seiner Definition von Kardinalzahl und Ordinalzahl verwenden. Euklid und eine lange Tradition trösten den extensional „verdorbenen“ Betrachter dieser Definitionen dann nur wenig: Eine Menge, die aus ununterscheidbaren Einheiten zusammengesetzt ist, kann nicht mehr als ein Element haben.

 In anderen Sprachen sind heute gebräuchlich: englisch set, französisch ensemble, italienisch insieme, spanisch conjunto, niederländisch das für deutsche Ohren hübsche verzameling, neugriechisch σύνολο. Im Mittelhochdeutschen sagte man manec, wenn man „viel, reichlich“ meinte, was die Zunge dann zu manch und mannigfach abgeschliffen hat (das englische many gehört ebenfalls hierher). Die Menge und die in der Mathematik heute sehr geometrisch aufgeladene Mannigfaltigkeit sind also etymologische Schwestern. Das Wort Menge selber stammt vom mittelhochdeutschen menige, gebildet aus manec wie etwa Länge aus lang. Menge hat dagegen mit vermengen etymologisch zum Glück nichts zu tun. Das „viel, reichlich“ hinter dem Begriff mag erklären helfen, warum lange Zeit Mengen, die gar kein Element oder nur ein einziges besitzen, als Sonderfälle betrachtet, isoliert oder sogar mit ihrem einzigen Element verwechselt wurden.

 Der Leser möge diese etymologischen Ausflüge verzeihen, aber der Autor ist seit der Zeit, als er zum ersten Mal erfahren hat, dass der altgriechische Begriff für Wahrheit wörtlich genommen nichts anderes bedeutet als das Unverborgene vom Wert des Zurückhorchens überzeugt. Er wird sich bis zum Auftreten von Kardinalzahlen aber zurückhalten.