Zur Geschichte des Vergleichs durch Paarbildung
Welche Sammler der grauen Vorzeit Nüsse, Schafe, Untergebene, Skalps, Muscheln oder ähnliches durch Paarbildung miteinander verglichen haben, bleibt uns unerforschlich. Aber es gibt dann bereits im Mittelalter recht abstrakte Paarbildungen, entstanden nicht im Kontext der irdischen Zwänge, sondern beim Ringen um den Begriff der Unendlichkeit, beim scholastischen Argumentieren über die Existenz und Nichtexistenz unendlicher Objekte und Ideen in Raum, Zeit, Mathematik und Gott. (Wir behandeln die Begriffe endlich und unendlich mathematisch im übernächsten Kapitel, hier genügt ein naives Verständnis der Begriffe vollauf.)
Die folgende Darstellung stützt sich zuvörderst auf die Arbeiten von Helmuth Gericke, insbesondere [Gericke 1977], aus der im Folgenden zitiert wird. (Siehe weiter auch [Maier 1949].)
Die griechische Philosophie erkundete seit Anaximander (~ 611 − 546 v. Chr.) die Idee des Unendlichen (des ἂπειρον, d. h. wörtlich: des Unbegrenzten), und Aristoteles (384 − 322 v. Chr.) behandelt das Unendliche ausführlich in seiner Physik. Die Scholastik des Mittelalters kommentiert Aristoteles hauptberuflich, nach und nach werden aber in den Kommentaren des 13. und 14. Jahrhunderts eigene Gedanken entwickelt, es beginnt eine Emanzipierung durch iterierte Kommentierung, und die Position des konservierenden Papageis wird schließlich als unbefriedigend empfunden und abgelegt.
Seit der Antike herrschte der heute noch nachvollziehbare Zweifel daran, dass ein Kontinuum aus einzelnen Punkten zusammengesetzt sein könne; des weiteren herrschte die heute schwer zu verstehende Verwirrung, dass ein Unendliches mit einem anderen Unendlichen völlig identisch sein müsse. Roger Bacon (~ 1210 − 1292) geht der Frage der möglichen Punktartigkeit des Kontinuums nach, und bildet dabei die untere Seite eines Quadrats auf die Diagonale des Quadrats bijektiv ab, indem er jeden Punkt der Seite mit dem darüberliegenden Punkt der Diagonale paart. Damit wäre, so Bacon, die Grundseite identisch mit der Diagonale, ein Widerspruch − also kann ein Kontinuum nicht aus Punkten zusammengesetzt sein.
Hier besonders interessant und kulturgeschichtlich sehr einflussreich ist das Viergestirn Wilhelm von Ockham (~ 1280/1285 − 1347/1349), sein Schüler Johannes Buridan (~ 1295 − 1358), und dessen Schüler Nikolaus von Oresme (~ 1320 − 1382) und Albert von Sachsen (~ 1316/1325 − 1390). Innerhalb dieser Gruppe entstehen neue Aristoteleskommentare, und schließlich finden sich bei ihrem jüngsten Mitglied schockierend moderne Einblicke. Euklid gibt das entscheidende Stichwort mit seinem geometrischen Slogan „was sich deckt, ist gleich“. Albert von Sachsen greift den Gedanken auf und definiert die „Deckungsgleichheit“ für multitudines, also für Mengen: „Wenn zwei Mengen sich so verhalten, dass jeder Einheit der einen eine Einheit der anderen entspricht, dann ist die eine weder größer noch kleiner als die andere. Das erscheint als an sich gesichert, da ja die eine die andere nicht übersteigt.“ Mengenlehre im 14. Jahrhundert! Albert gibt ein Beispiel: Gegeben sei ein zu einer Seite unendlich langer Balken mit einem Quadratfuß Querschnitt. Man schneidet nun iteriert Stücke von je 1 Fuß Länge von diesem Balken ab, und legt diese nach einer volumenerhaltenden Verformung um eine Kugel derart herum, dass der Kugel immer neue Schalen hinzugefügt werden, also Schritt für Schritt eine größere Kugel gebildet wird. In dieser Weise wird der ganze Raum ausgefüllt! Denn der Kugeldurchmesser kann bei dieser Prozedur nicht gegen einen endlichen Wert konvergieren, da sich sonst ein endliches Volumen ergeben würde, der Balken aber ein unbegrenztes Volumen hat. Also sind der Balken und der dreidimensionale Raum „deckungsgleich“. Es scheint also vielleicht doch letztendlich „unendlich gleich unendlich“ zu sein, wenn man „gleich“ als „deckungsgleich“ interpretiert ?
Albert gibt noch ein zweites Beispiel: Auf die Intervalle [ 0, 1/2 ], [ 1/2, 3/4 ], [ 3/4, 7/8 ], … legt man abwechselnd weiße und schwarze Steine. Dann nimmt man die schwarzen Steine nacheinander von links nach rechts weg, und rückt dabei die Steine von rechts auf die freiwerdenden Plätze nach. Dadurch wird schließlich jeder Platz mit einem weißen Stein dauerhaft besetzt. Die Menge der weißen Steine ist also deckungsgleich mit der Menge aller verwendeten Steine. All dies steht bei Albert innerhalb eines Kommentars zu „Über den Himmel“ von Aristoteles. Das Balkenbeispiel findet sich genau so auch in einem Kommentar von Oresme, sodass mutmaßlich einige der von Albert niedergeschriebenen Gedanken der Vierergruppe als Ganzes zuzurechnen sind.
Galileo Galilei (1564 − 1642) ordnet, mutmaßlich unter Kenntnis der Werke von Albert von Sachsen, die Quadratzahlen n2 den natürlichen Zahlen n bijektiv zu und schließt nachvollziehbar, aber voreilig, dass „groß“, „klein“, „gleich“ offenbar im Unendlichen keinen Sinn machen.
Bernard Bolzano diskutiert in seinen 1848 geschriebenen und 1851 posthum veröffentlichten „Paradoxien des Unendlichen“ ebenfalls die merkwürdige Eigenschaft, dass zwei unendliche Mengen bijektiv auf einander abbildbar sein können, obwohl die eine eine echte Teilmenge der anderen ist. Aber erst Georg Cantor, der Bolzanos Buch sehr geschätzt hat, erkennt die fundamentale Bedeutung des Mächtigkeitsbegriffs, und geht ihm, motiviert durch einen frühen Erfolg, beharrlich nach. Er ist philosophisch interessiert, und gleichzeitig, aus der mathematischen Praxis der Fourierreihen kommend, an keiner Stelle philosophisch blockiert. Ihn plagen keine Skrupel noch Zweifel, wenn er mit unendlichen Mengen Mathematik nach allen Regeln der Kunst betreibt. Bolzano wollte ebenfalls zeigen, dass die Paradoxien des Unendlichen Scheinparadoxien sind, aber zu vieles bei ihm bleibt Alchemie, er will den Stein der Weisen finden, stolpert dabei über den Kern der Sache, und lässt ihn links liegen. Er erkennt noch nicht, was die Unendlichkeit im Innersten zusammenhält und ordnet. Bolzano bildet so das Endglied der mengentheoretischen Vorzeit.
Die Mengenlehre beginnt irgendwann vor der Erfindung des Zählens und wird von diesem dann wahrscheinlich frühkapitalistisch verdrängt. Sie keimt selbst bei den Griechen nirgendwo auf, im Mittelalter schlägt sie Wurzeln in Kommentaren oft recht dunkler aristotelischer Heiligtümer, und gelangt in dieser Form in die Hände der Neuzeit, wo sie von Wissenschaftlern wie Galilei und Bolzano zwar gegrüßt, aber dann doch noch einmal übersehen wird, bis sie schließlich unter Cantor zum ersten Mal ihre Knospen öffnet.