Zermelosysteme und ein allgemeines Prinzip

 Beim Betrachten des Beweises des Vergleichbarkeitssatzes fällt auf, dass ab der Definition einer geschlossenen Menge von der speziellen Natur der Elemente f und ihren Erweiterungen f* überhaupt nicht mehr die Rede ist. Wir verwenden nicht einmal, dass f* eine einelementige Erweitertung von f ist (was den Beweis minimal vereinfachen würde). Es ist nun leicht, ein allgemeines Prinzip aus dem Beweis herauszufiltern, das des Pudels Kern zum Vorschein bringt, oder, anders formuliert, das den Hauptteil des Beweises in den Rang eines mathematischen Satzes erhebt. Dies ermöglicht uns, in ähnlichen Fällen alles griffbereit zu haben, ohne das ganze Argument immer wieder neu aus dem Keller holen zu müssen.

 Offiziell definieren wir den Begriff einer Kette:

Definition (⊆-Kette)

Eine Menge T heißt eine ⊆-Kette oder kurz Kette, falls gilt:

Für alle x, y  ∈  T gilt x ⊆ y oder y ⊆ x.

Eine Kette T heißt Kette in einer Menge A, falls x ⊆ A für alle x  ∈  T.

 Die leere Menge gilt nun, aus Gründen der späteren Fügsamkeit des Begriffs, als Kette.

 Eine wichtige Eigenschaft, die im Beweis des Vergleichbarkeitssatzes auftrat, war die Abgeschlossenheit von 𝒵 unter der Vereinigung jeder nichttrivialen Kette:

Definition (Zermelosysteme und ihre Ziele)

Sei 𝒵 eine nichtleere Menge. 𝒵 heißt ein Zermelosystem, falls gilt:

Ist T ⊆ 𝒵 eine nichtleere Kette, so ist ⋃ T  ∈  𝒵.

x  ∈  𝒵 heißt ein Ziel des Zermelosystems 𝒵, falls gilt:

Es gibt kein y  ∈  𝒵 mit x ⊂ y.

 In vielen Fällen − so etwa für 𝒵 aus dem obigen Beweis − wird ∅  ∈  𝒵 gelten, und dann ist ⋃ T  ∈  𝒵 sogar für alle Ketten T, denn ⋃ ∅ = ∅.

Satz (Satz über Zermelosysteme)

Sei 𝒵 ein Zermelosystem, und sei x0  ∈  𝒵.

Dann existiert ein Ziel x  ∈  𝒵 mit x0 ⊆ x.

 Der Leser kann sich gemütlich zurücklehnen. Der Beweis ist genau der obige − nur dass jedes f jetzt ein x ist, da nicht suggeriert werden soll, dass 𝒵 aus Funktionen bestehen muss.

Beweis

Annahme, ein solches Ziel existiert nicht. Wir definieren dann eine Schmidt-Expansion * für das Zermelo-System 𝒵0 = { x  ∈  𝒵 | x0 ⊆ x } durch Auswahlakte. Für jedes x  ∈  𝒵0 sei hierzu

x*  =  „ein y  ∈  𝒵 mit x ⊂ y“.

Ein T ⊆ 𝒵0 heißt geschlossen, falls gilt:

(i)

x 0  ∈  T.

(ii)

Für alle x  ∈  𝒵0 gilt: x  ∈  T  folgt  x*  ∈  T.

(iii)

Ist T′ ⊆ T eine nichtleere Kette, so ist ⋃ T′  ∈  T.

𝒵0 selbst ist als Zermelosystem offenbar geschlossen.

Wir definieren die Zermelo-Reduzierung geschlossener Mengen durch:

T*  =  ⋂ { T ⊆ 𝒵0 | T ist geschlossen }.

Dann ist T* geschlossen, und es gilt x 0  ∈  T*.

Genau wie im Beweis des Vergleichbarkeitssatzes folgt:

T* ist eine Kette.

Sei x = ⋃ T*. Dann ist nach (iii) x  ∈  T*, also nach (ii) x*  ∈  T*.

Also ⋃ T* = x ⊂ x* und x*  ∈  T*. Widerspruch!

 Wir werden diesen Satz in Kapitel 12 mehrfach verwenden, und im zweiten Abschnitt eine ordnungstheoretische Umformulierung des Satzes über die Existenz von Zielen in Zermelosystemen kennenlernen, das „Zornsche Lemma“ − formuliert von Max Zorn (1906 − 1993) als Schweizer Taschenmesser 1935 −, und daneben das nahverwandte Hausdorffsche Maximalitätsprinzip (1914).

 Nimmt man den Satz über Zermelosysteme als „Blackbox“, so ergibt sich leicht ein Beweis des Vergleichbarkeitssatzes:

Übung

Beweisen Sie den Vergleichbarkeitssatz mit Hilfe des Satzes über Zermelosysteme.

[Seien M, N, 𝒵 wie im Vergleichbarkeitssatz. Ist T ⊆ 𝒵 eine Kette, so ist ⋃ T  ∈  𝒵. Ein Ziel von 𝒵 liefert |M| ≤ |N| oder |N| ≤ |M|.]