6.Unendliche Mengen

Wir haben |A| = |B| als „A und B haben die gleiche Größe“ interpretiert, wobei „gleiche Größe“ durch die Existenz einer Bijektion zwischen A und B definiert wird. Gilt |A| = |B|, so ist eine vollständige Paarbildung der Elemente von A und B möglich, die Elemente der Mengen entsprechen sich vollkommen, wenn wir eine bestimmte Abbildung zugrunde legen.

 Es taucht nun das merkwürdige und zunächst irritierende Phänomen auf, dass manche Mengen gleich groß sind zu einem echten Teil von sich selbst: Es gibt Mengen A, B mit |A| = |B| und B ⊂ A.

 Man kann dieses Phänomen zur Definition der Unendlichkeit einer Menge benutzen, die nur von den elementaren Mächtigkeitsbegriffen und nicht von einer irgendwie definierten Anzahl der Elemente einer Menge Gebrauch macht, und wir werden diesem Weg folgen. Vor einer derartigen Definition stellen wir zur Motivation eine an dieser Stelle fast schon etwas naive Frage, und betrachten dann noch ein merkwürdiges Gebäude, das sogenannte „Hilbertsche Hotel“.

 Die frühe Literatur zur Mengenlehre verwendete viele didaktisch ambitionierte Seiten auf die Diskussion der vermeintlich paradoxen Eigenschaften unendlicher Mengen, und vor Cantor schrieb Bolzano ein ganzes Buch über „Paradoxien des Unendlichen“. Heute sind wir durch eine viel strenger aufgebaute und logisch durchtrainierte Mathematik daran gewöhnt, dass Begriffe wie „ist größer als“ oder „unendlich“ erst durch Definition zu Begriffen der Mathematik werden. Die Intuition spielt für die Formulierung einer Definition eine große Rolle, hat sich dann aber an deren Konsequenzen zu orientieren und nicht umgekehrt. Die sorgfältige mathematische Entfaltung einer Definition zeigt zum Glück zumeist, dass hier keine subtile Gehirnwäsche stattfindet, sondern eine Aufklärung im besten platonischen Sinne: Schattenhafte verschwommene Bilder werden schließlich farbig und scharf umrissen. Die Erfahrung ist die des Findens und Entdeckens und nicht die des eigentlichen Erschaffens oder auch nur des freien Gestaltens nach festen Spielregeln.