Andere Charakterisierungen der Unendlichkeit

 Es gibt eine ganze Reihe weiterer Äquivalenzen zur Endlichkeit und Unendlichkeit, und dieser Zwischenabschnitt bringt hierzu vier Beispiele, ohne einen Sport aus dem Thema zu machen. Der Leser, der mit der obigen Diskussion bereits zufrieden ist, kann ihn überspringen, da die hier diskutierten Begriffe später nicht mehr verwendet werden. Die Existenz vieler verschiedener Definitionen, die sich dann als gleichwertig herausstellen, ist ein sicheres Indiz dafür, dass ein besonders natürliches Konzept zur Diskussion steht. (Der Leser vergleiche die vielen äquivalenten Definitionen des Begriffs „berechenbar/rekursiv“ in den Lehrbüchern zur mathematischen Logik.)

 Obwohl alle Definitionen, die wir geben werden, sich als äquivalent herausstellen, taucht hier in vielen Fällen das gleiche Phänomen auf wie oben: Die Hälfte der Äquivalenz ist elementar (wenn auch zuweilen trickreich), die andere benötigt Auswahlakte. Die folgenden Definitionen sind nun so geordnet, dass die Implikation von einer Definition auf die folgende (also „“) elementar ist, die Rückrichtung (also „“) aber abstrakte Auswahlakte der Form „ein …“ benötigt. Eine Ausnahme bildet die letzte Definition nach Alfred Tarski, die in beiden Richtungen elementar äquivalent zur -Unendlichkeit ist. Wir starten mit Dedekind-unendlich, und gelangen schließlich über mehrere Schritte zur - bzw. Tarski-Unendlichkeit. Es ist interessant, dass sich zwischen den intuitiv schon sehr nahe beieinanderliegenden Aussagen

„|| ≤ |A|“  und  „|n| ≤ |A| für alle n  ∈  

mehrere natürliche Zwischenstufen finden lassen.

 Im Folgenden definieren wir immer nur XYZ-endlich oder XYZ-unendlich. Durch Verneinung der Aussagen erhält man dann XYZ-unendlich bzw. XYZ-endlich.

 Die Dedekind-Definition legt folgenden Begriff nahe:

Definition (Dedekind*-unendlich)

Sei A eine Menge. A heißt Dedekind*-unendlich, falls ein surjektives f : A  A existiert, das nicht injektiv ist.

 Dedekind*-unendlich ist also gerade invers zur Dedekind-Unendlichkeit: Die Bedingung an f : A  A lautet injektiv-nichtsurjektiv für Dedekind-unendlich, und surjektiv-nichtinjektiv für Dedekind*-unendlich.

Übung

Sei A eine Menge. Dann sind äquivalent:

(i)

A ist Dedekind-unendlich.

(ii)

A ist Dedekind*-unendlich.

 Man kann weiter die Charakterisierung || ≤ |A| der Dedekind-Unendlichkeit von A invertieren:

Definition (Dedekind**-unendlich)

Sei A eine Menge. A heißt Dedekind**-unendlich, falls ein surjektives f : A   existiert.

Satz

Sei A eine Menge. Dann sind äquivalent:

(i)

A ist Dedekind*-unendlich.

(ii)

A ist Dedekind**-unendlich.

Beweis

(i)  (ii):  Sei g : A  A surjektiv und nicht injektiv. Seien a, b, c  ∈  A mit b ≠ c und g(b) = g(c) = a. Für x  ∈  A sei wieder Sx der Orbit von x unter g. Es gilt b  ∉  rng(Sa) oder c  ∉  rng(Sa) (!). Ohne Einschränkung sei b  ∉  rng(Sa). Wir definieren dann f : A   durch

f(x)=„daskleinstenmitSx(n)=b“,falls einsolchesnexistiert,0,sonst.

Annahme rng(f) ≠ . Sei dann n minimal mit n  ∉  rng(f). Wegen f (b) = 0 ist n > 0. Nach minimaler Wahl existiert ein x mit f (x) = n − 1. Dann ist Sx(n − 1) = b. Wegen g surjektiv existiert ein y mit g(y) = x. Dann ist Sy(n) = Sx(n − 1) = b, und somit 0 ≤ f (y) ≤ n. Nach Annahme ist f (y) ≠ n. Aber es gilt f (y) ≠ 0, da sonst y = b, x = a und

b  =  Sa(n − 1)  ∈  rng(Sa)

wäre. Also 0 < f (y) < n. Dann ist Sx(f (y) − 1) = Sy(f (y)) = b. Also ist f (x) ≤ f (y) − 1 < n − 1, Widerspruch.

(ii)  (i):  Sei f : A   surjektiv. Für n  ∈   sei

xn  =  „ein x  ∈  A mit f (x) = n“.

Sei X = { xn | n ≥ 1 }. Wir definieren g : A  A durch

g(xn) = xn − 1  für n  ∈   − { 0 },

g(x) = x für x  ∉  X.

Dann ist g : A  A surjektiv, aber g(x0) = g(x1), x0 ≠ x1.

 Die Funktion f in (i)  (ii) nimmt immer größere Werte an, je weiter wir von b entlang Urbildern zurückgehen, was im Allgemeinen wegen mangelnder Injektivität ein netzartiges Bild ergibt. b  ∉  rng(Sa), g(b) = a liefert, dass wir beim Zurückgehen nie mehr auf b selbst stoßen, und die Existenz eines solchen b ist genau die Stelle im Beweis, wo wir mehr brauchen als die Surjektivität von g.

 Einen schnellen Beweis des Satzes erhält man natürlich, wenn man die Äquivalenz von || ≤ |A| und || ≤* |A|, d. h. „es gibt ein f : A   surjektiv“, benutzt: Dann ist Dedekind**-unendlich äquivalent mit Dedekind-unendlich, und nach der Übung oben dann auch mit Dedekind*-unendlich. Auf diese Weise haben wir (i)  (ii) über die Kette

Dedekind*-unendlich  Dedekind-unendlich  Dedekind**-unendlich

gezeigt, für die erste Implikation aber Auswahlakte verwendet; der obige Beweis von (i)  (ii) ist davon frei.

 Eine weitere Definition der Unendlichkeit stammt von Alfred Tarski (1924). Sie betrifft die ⊆-Relation auf der Potenzmenge (A) einer Menge A: Erlaubt ein Teilmengensystem P ⊆ (A) unbegrenzt viele Schritte, die von einem x  ∈  P zu einem y  ∈  P führen mit x ⊂ y, so treffen wir bei jedem Schritt neue Elemente von A an, und damit ist A dann intuitiv unendlich. Wir definieren hierzu:

Definition (letztes Glied einer Kette)

Sei K eine ⊆-Kette. K hat ein letztes Glied, falls es ein x  ∈  K gibt mit:

y ⊆ x für alle y  ∈  K.

Definition (Tarski-Unendlichkeit und Ketten-Unendlichkeit)

(a)

Eine Menge A heißt Ketten-endlich, falls gilt:

Jede nichtleere Kette K ⊆ (A) hat ein letztes Glied.

(b)

Eine Menge A heißt Tarski-endlich, falls gilt:

Für jedes nichtleere P ⊆ (A) gibt es ein y  ∈  P mit:

non(y ⊂ x)  für alle x  ∈  P.

 Eine äquivalente und sprachlich kompaktere Formulierung der Bedingung in (b) ist: Jedes nichtleere P ⊆ (A) besitzt ein ⊆-maximales Element.

Übung

Jedes unbeschränkte A ⊆  ist Ketten-unendlich.

Übung

Seien A, B gleichmächtige Mengen. Dann gilt:

(i)

Ist A Ketten-endlich, so ist B Ketten-endlich.

(ii)

Ist A Tarski-endlich, so ist B Tarski-endlich.

Satz

Sei A eine Menge. Dann sind äquivalent:

(i)

A ist Dedekind**-unendlich.

(ii)

A ist Ketten-unendlich.

Beweis

(i)  (ii):

Sei f : A   surjektiv. Für n  ∈   sei

An  =  f −1″ n  =  { x  ∈  A | f (x) < n }.

Dann gilt An ⊂ Am für alle n < m. Also ist { An | n  ∈   } ⊆ (A) eine Kette ohne letztes Glied.

(ii)  (i):

Sei K ⊆ (A) eine nichtleere Kette ohne letztes Glied. Sei X0  ∈  K beliebig. Wir definieren Xn  ∈  K für n ≥ 1 rekursiv durch

Xn + 1  =  „ein X  ∈  K mit Xn ⊂ X“.

Weiter definieren wir f : A   durch

f(x)=„daskleinstenmitxXn“,falls einsolchesnexistiert,0,sonst.

Dann ist f : A   surjektiv.

 Die beiden noch fehlenden Äquivalenzen behandeln die folgenden Übungen:

Übung

Sei A eine Menge. Dann sind äquivalent:

(i)

A ist Ketten-unendlich.

(ii)

A ist Tarski-unendlich.

[Die nichttriviale Richtung (ii)  (i) verwendet eine Auswahldefinition zur Gewinnung einer nichtleeren Kette ohne ein letztes Glied aus einem Zeugen P ⊆ (A) für die Tarski-Unendlichkeit von A.]

Übung

Sei A eine Menge. Dann sind äquivalent:

(i)

A ist Tarski-unendlich.

(ii)

A ist -unendlich.

[Für die Richtung (i)  (ii) zeige „n ist Tarski-endlich“ durch Induktion. Für (ii)  (i) betrachten wir P = { X ⊆ A | |X| = |n| für ein n  ∈   }. Beide Richtungen verwenden keine Auswahlakte.]

 Im Sinne der ewigen Wiederkunft des Auswahlthemas erhalten wir damit nun das folgende Bild:

mengenlehre1-AbbID24

 Der Autor hofft, dass der vorangehende logische Abstieg von Dedekind-unendlich zu -unendlich dem Leser eine abwechslungsreiche Wanderung gewesen ist. Abwärts geht es zu Fuß, aufwärts brauchen wir einen Sessellift, mit Ausnahme der elementar äquivalenten unendlichen Talstationen -unendlich und Tarski-unendlich.

 Um die tatsächliche Notwendigkeit der Auswahlakte zu beweisen, braucht man viel weitergehende Techniken; es könnte ja ein einfacher Beweis übersehen worden sein.

 Wir schließen dieses Kapitel mit einem Auszug aus einem Vortrag von David Hilbert, gehalten am 4. Juni 1925 in Münster anläßlich der „Ehrung des Andenkens an Weierstraß“ (Karl Weierstraß 1815 − 1897).

David Hilbert über Unendlichkeit

„ … Durch diese Bemerkungen wollte ich nur dartun, dass die endgültige Aufklärung über das Wesen des Unendlichen weit über den Bereich spezieller fachwissenschaftlicher Interessen vielmehr zur Ehre des menschlichen Verstandes selbst notwendig geworden ist.

 Das Unendliche hat wie keine andere Frage von jeher so tief das Gemüt der Menschen bewegt; das Unendliche hat wie kaum eine andere Idee auf den Verstand so anregend und fruchtbar gewirkt; das Unendliche ist aber auch wie kein anderer Begriff so der Aufklärung bedürftig.

 Wenn wir uns nun dieser Aufgabe, das Wesen des Unendlichen aufzuklären, zuwenden, so müssen wir uns in aller Kürze vergegenwärtigen, welche inhaltliche Bedeutung dem Unendlichen in der Wirklichkeit zukommt; wir sehen zunächst, was wir aus der Physik darüber erfahren.

 Der erste naive Eindruck von dem Naturgeschehen und der Materie ist der des stetigen, des Kontinuierlichen. Haben wir ein Stück Metall oder ein Flüssigkeitsvolumen, so drängt sich uns die Vorstellung auf, dass sie unbegrenzt teilbar seien, dass ein noch so kleines Stück von ihnen immer wieder dieselben Eigenschaften habe. Aber überall, wo man die Methoden der Forschung in der Physik der Materie genügend verfeinerte, stieß man auf Grenzen für die Teilbarkeit, die nicht an der Unzulänglichkeit unserer Versuche, sondern in der Natur der Sache liegen, so dass man geradezu die Tendenz der modernen Wissenschaften als eine Emanzipierung von dem Unendlichkleinen auffassen könnte und dass man jetzt an Stelle des alten Leitsatzes: ‚natura non facit saltus‘ das Gegenteil ‚die Natur macht Sprünge‘ behaupten könnte.

 Bekanntlich ist alle Materie aus kleinen Bausteinen, den Atomen zusammengesetzt … Während bis dahin die Elektrizität als ein Fluidum galt … , so erwies sich jetzt auch sie aufgebaut aus positiven und negativen Elektronen … Nun selbst die Energie lässt, wie heute feststeht, die unendliche Zerteilung nicht schlechthin und uneingeschränkt zu; Planck entdeckte die Energiequanten.

 Und das Fazit ist jedenfalls, dass ein homogenes Kontinuum, welches die fortgesetzte Teilbarkeit zuließe, und somit das Unendliche im Kleinen realisieren würde, in der Wirklichkeit nirgends angetroffen wird. Die unendliche Teilbarkeit eines Kontinuums ist nur eine in Gedanken vorhandene Operation, nur eine Idee, die durch unsere Beobachtungen der Natur und die Erfahrungen der Physik und Chemie widerlegt wird.

 Die zweite Stelle, an der uns in der Natur die Frage nach der Unendlichkeit entgegentritt, treffen wir bei der Betrachtung der Welt als Ganzes. Hier haben wir die Ausdehnung der Welt zu untersuchen, ob es in ihr ein Unendlichgroßes gibt.

 Die Meinung von der Unendlichkeit der Welt war lange Zeit die herrschende; bis zu Kant und auch weiterhin noch hegte man an der Unendlichkeit des Raumes überhaupt keinen Zweifel.

 Hier ist es wieder die moderne Wissenschaft, insbesondere die Astronomie, die diese Frage von neuem aufrollt und sie nicht durch das unzulängliche Hilfsmittel metaphysischer Spekulation, sondern durch Gründe, die sich auf die Erfahrung stützen und auf der Anwendung von Naturgesetzen beruhen, zu entscheiden sucht. Und es haben sich schwerwiegende Einwände gegen die Unendlichkeit herausgestellt. Zur Annahme der Unendlichkeit des Raumes führt mit Notwendigkeit die Euklidische Geometrie. Nun ist zwar die Euklidische Geometrie ein in sich widerspruchsfreies Gebäude und Begriffssystem; daraus folgt aber noch nicht, dass sie in der Wirklichkeit Gültigkeit besitzt. Ob dies der Fall ist, kann allein die Beobachtung und Erfahrung entscheiden … Einstein hat die Notwendigkeit gezeigt, von der Euklidischen Geometrie abzugehen. Auf Grund seiner Gravitationstheorie nimmt er auch die kosmologischen Fragen in Angriff und zeigt die Möglichkeit einer endlichen Welt, und alle von den Astronomen gefundenen Resultate sind auch mit [dieser] Annahme … verträglich.

 Die Endlichkeit des Wirklichen haben wir nun in zwei Richtungen festgestellt: nach dem Unendlichkleinen und dem Unendlichgroßen. Dennoch könnte es sehr wohl zutreffen, dass das Unendliche in unserem Denken einen wohlberechtigten Platz hat und die Rolle eines unentbehrlichen Begriffes einnimmt … “

(David Hilbert, 1925. Auch in: David Hilbert 1964, „Hilbertiana“)