Die algebraischen Zahlen sind abzählbar

Definition (algebraische Zahlen)

Ein x  ∈   heißt algebraisch, falls x Nullstelle eines nichttrivialen Polynoms P mit ganzzahligen Koeffizienten ist, d. h. es existieren ein n  ∈   und a0, … , an  ∈  , an ≠ 0, mit:

P(x)  =  anxn  +  an − 1xn − 1  +  …  +  a1x  +  a0  =  0.

Wir setzen 𝔸 = { x  ∈   | x ist algebraisch }.

Übung

Es gilt  ⊆ 𝔸. Weiter erhält man die gleiche Menge 𝔸, wenn man Koeffizienten aus  in den Polynomen zulässt.

 Es gilt 𝔸 −  ≠ ∅. Denn sei x die positive Quadratwurzel aus 2, d. h. die Länge der Diagonalen eines Quadrats mit Seitenlänge 1. Dann gilt

x2 − 2  =  0,

also ist x algebraisch. Annahme, x = p/q  ∈  . Dann gilt (p/q)2 = 2, also

p2  =  2 q2.

Der Faktor 2 hat in der Primfaktorzerlegung von p2 einen geraden Exponenten − nämlich das Doppelte des entsprechenden Exponenten in der Primfaktorzerlegung von p −, dagegen hat er in der Zerlegung von 2 q2 einen ungeraden Exponenten − nämlich das Doppelte des Exponenten der 2 in der Zerlegung von q plus 1 −, im Widerspruch zu p2 = 2 q2 und der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung.

 Die Entdeckung der Existenz irrationaler Zahlen durch die Pythagoräer war für die − in geistigen Dingen − harmoniesüchtigen alten Griechen ein mathematischer Schock und bildet ein frühes Kapitel im Buch der allergischen Irritationen, die der erste Pollenflug neuer Zahlen anscheinend immer auslöst. Zu Zeiten Platons (427 − 347 v. Chr.) galt es dann schon als nicht besonders rühmlich, von der „Unverhältnismäßigkeit“ der Diagonalen eines Quadrat zu dessen Seite nichts zu wissen. In einer Zeit, in der allgemein angenommen wird, dass die Sterne ihr Licht von der Sonne haben, wäre es wohl unangebracht, über das Schattendasein der transfiniten Zahlen kulturpessimistisch zu lamentieren. Kommen wir also lieber zu unserem nächsten Satz, entdeckt und bewiesen von Cantor und Dedekind im Jahre 1873.

Satz (Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen )

𝔸 ist abzählbar.

Beweis

Für n  ∈   sei

An  =  { x  ∈  𝔸 | x ist Nullstelle eines nichttrivialen Polynoms vom Grad ≤ n, dessen Koeffizienten a alle |a| ≤ n erfüllen }.

Da ein Polynom vom Grad n bekanntlich höchstens n reelle Nullstellen besitzt, ist jedes An abzählbar (sogar endlich). Es gilt

𝔸  =  ⋃n  ∈   An.

Also ist 𝔸 abzählbar.

Georg Cantor über algebraische Zahlen und die Überabzählbarkeit des Kontinuums

„Unter einer reellen algebraischen Zahl wird allgemein eine reelle Zahlgröße ω verstanden, welche einer nicht identischen Gleichung von der Form genügt:

(1.)  a0 ωn + a1 ωn − 1 + … + an = 0,

wo n, a0, a1, … , an ganze Zahlen sind; wir können uns hierbei die Zahlen n und a0 positiv, die Koeffizienten a0, a1, … , an ohne gemeinschaftlichen Teiler und die Gleichung (1.) irreduzibel denken; mit diesen Festsetzungen wird erreicht, dass nach den bekannten Grundsätzen der Arithmetik und Algebra die Gleichung (1.), welcher eine reelle algebraische Zahl genügt, eine völlig bestimmte ist; umgekehrt gehören bekanntlich zu jeder Gleichung von der Form (1.) höchstens so viele reelle algebraische Zahlen ω, welche ihr genügen, als ihr Grad n angibt. Die reellen algebraischen Zahlen bilden in ihrer Gesamtheit einen Inbegriff von Zahlgrößen, welcher mit (ω) bezeichnet werde; es hat derselbe, wie aus einfachen Betrachtungen hervorgeht, eine solche Beschaffenheit, dass in jeder Nähe irgendeiner gedachten Zahl α unendlich viele Zahlen aus (ω) liegen; um so auffallender dürfte daher für den ersten Anblick die Bemerkung sein, dass man den Inbegriff (ω) dem Inbegriffe aller ganzen positiven Zahlen ν, welcher durch das Zeichen (ν) angedeutet werde, eindeutig zuordnen kann, so dass zu jeder algebraischen Zahl ω eine bestimmte ganze positive Zahl ν und umgekehrt zu jeder ganzen positiven Zahl ν eine völlig bestimmte reelle algebraische Zahl ω gehört, dass also, um mit anderen Worten dasselbe zu bezeichnen, der Inbegriff (ω) in der Form einer unendlichen gesetzmäßigen Reihe:

(2.)  ω1, ω2, … , ων, … 

gedacht werden kann, in welcher sämtliche Individuen von (ω) vorkommen und ein jedes von ihnen sich an einer bestimmten Stelle in (2.), welche durch den zugehörigen Index gegeben ist, befindet. Sobald man ein Gesetz gefunden hat, nach welchem eine solche Zuordnung gedacht werden kann, lässt sich dasselbe nach Willkür modifizieren; es wird daher genügen, wenn ich in § 1 denjenigen Anordnungsmodus mitteile, welcher, wie mir scheint, die wenigsten Umstände in Anspruch nimmt.

 Um von dieser Eigenschaft des Inbegriffs aller reellen algebraischen Zahlen eine Anwendung zu geben, füge ich zu § 1 den § 2 hinzu, in welchem ich zeige, dass, wenn eine beliebige Reihe reeller Zahlgrößen von der Form (2.) vorliegt, man in jedem vorgegebenen Intervalle (α … β) Zahlen η bestimmen kann, welche nicht in (2.) enthalten sind; kombiniert man die Inhalte dieser beider Paragraphen, so ist damit ein neuer Beweis des zuerst von Liouville bewiesenen Satzes gegeben, dass es in jedem Intervalle (α … β) unendlich viele transzendente, d. h. nicht algebraische reelle Zahlen gibt. Ferner stellt sich der Satz in § 2 als der Grund dar, warum Inbegriffe reeller Zahlgrößen, die ein sogenanntes Kontinuum bilden (etwa die sämtlichen reellen Zahlen, welche ≥ 0 und ≤ 1 sind), sich nicht eindeutig auf den Inbegriff (ν) beziehen lassen; so fand ich den deutlichen Unterschied zwischen einem sogenannten Kontinuum und einem Inbegriffe von der Art der Gesamtheit aller reellen algebraischen Zahlen.“

(Georg Cantor 1874, „Über eine Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen“ )