Cantors ursprünglicher Beweis der Überabzählbarkeit von ℝ
Für sich von Interesse ist auch der erste Cantorsche Beweis der Überabzählbarkeit von ℝ, der die Vollständigkeit der reellen Zahlen benutzt: Jede nichtleere nach oben beschränkte Teilmenge von ℝ hat ein Supremum. Genauer bedeutet dies das Folgende:
Sei X ⊆ ℝ und a ∈ ℝ. Wir schreiben X ≤ a, falls x ≤ a gilt für alle x ∈ X.
Die Vollständigkeit von ℝ lautet nun:
Sei X ⊆ ℝ nichtleer und es existiere ein a ∈ ℝ mit X ≤ a.
Dann existiert ein eindeutiges b ∈ ℝ mit:
(i) X ≤ b, (ii) für alle c ∈ ℝ mit X ≤ c gilt b ≤ c.
b heißt das Supremum oder die kleinste obere Schranke von X, in Zeichen
b = sup(X).
Anschaulich: Man wählt zu einer nach oben beschränkten Teilmenge X von ℝ ein a mit X ≤ a. Nun wird diese obere Schranke a von X solange nach unten verschoben, bis sie X von oben berührt. Der Berührungspunkt ist gerade sup(X). (Sowohl sup(X) ∈ X als auch sup(X) ∉ X sind möglich.)
Die Vollständigkeit unterscheidet die reellen Zahlen wesentlich von den rationalen Zahlen und wird in der Analysis an allen Ecken und Enden gebraucht. (So gilt etwa der Zwischenwertsatz nicht für stetige Funktionen f : ℚ → ℚ: Sei f (x) = x2 − 2 für x ∈ ℚ. Dann ist f : ℚ → ℚ stetig, f (0) = − 2 < 0, f (2) = 2 > 0, aber es gibt kein x ∈ ℚ mit f (x) = 0, denn die Quadratwurzel aus 2 ist irrational.)
Den folgenden Beweis der Überabzählbarkeit von ℝ hat Cantor 1874 veröffentlicht. Er ist eine vereinfachte Version des Beweises, den Cantor Dedekind am 7. 12. 1873 brieflich mitgeteilt hatte.
Der ursprüngliche Beweis der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen
Sei f : ℕ → ℝ beliebig. Wir suchen ein x* ∈ ℝ mit x* ∉ rng(f).
Wir setzen xn = f (n) für n ∈ ℕ. Es gilt also rng(f) = { xn | n ∈ ℕ }.
Wir definieren nun rekursiv solange möglich:
i(0) = | 0, |
i(1) = | „das kleinste k ∈ ℕ mit x0 < xk“. |
i(n) = | „das kleinste k ∈ ℕ mit: xk liegt zwischen xi(n − 2) und xi(n − 1)“ für alle n ≥ 2, |
wobei wir sagen: x ∈ ℝ liegt zwischen a, b ∈ ℝ, falls a < x < b oder b < x < a.
Ist i(n) nicht definiert für ein n ∈ ℕ, so ist offenbar rng(f) ≠ ℝ.
[ Es existieren dann sogar a, b ∈ ℝ, a ≠ b, mit der Eigenschaft:
Für alle x zwischen a und b gilt x ∉ rng(f).
Die Funktion f lässt dann sogar ein ganzes Intervall aus.]
Sei also i(n) definiert für alle n ∈ ℕ.
Nach Konstruktion ist i(n) < i(n + 1) für alle n ∈ ℕ (!), und es gilt
xi(0) < xi(2) < xi(4) < … < xi(5) < xi(3) < xi(1).
Wir setzen nun:
x* = sup { xi(n) | n gerade } ∈ ℝ.
Dann liegt x* zwischen xi(n) und xi(n + 1) für alle n ∈ ℕ.
Weiter ist x* ∉ rng(f):
Annahme, es gibt ein k ∈ ℕ mit x* = xk. Sei dann n derart, dass
i(n − 2) < k < i(n − 1).
Dann ist i(n) ≤ k nach Definition von i(n), also i(n) < i(n − 1), Widerspruch.
Wir können die Konstruktion dieses Beweises für eine Bijektion f : ℕ → ℚ zwischen den natürlichen und den rationalen Zahlen durchführen; dann sind alle i(n) für n ∈ ℕ definiert, denn für zwei verschiedene rationale Zahlen a und b existiert immer eine rationale Zahl x zwischen a und b. x* = sup { xi(n) | n gerade } ist dann notwendig nicht im Wertebereich ℚ von f, also notwendig eine irrationale Zahl. Starten wir mit einer Bijektion f : ℕ → 𝔸 zwischen den natürlichen und den algebraischen Zahlen, erhalten wir eine transzendente Zahl x*.