Baireraum und Cantorraum

Definition (Baireraum und Cantorraum)

heißt der Baireraum, { 0, 1 } der Cantorraum.

 Der Baireraum − benannt nach René Baire (1874 − 1932) − und der Cantorraum sind in der Mengenlehre von großer Bedeutung. In vielen Untersuchungen ersetzen sie die reellen Zahlen. Die Zuordnung einer reellen Zahl x  ∈  I = [ 0, 1 ] zur Folge b  ∈  { 0, 1 } ihrer Nachkommastellen in Binärdarstellung ist nicht immer eindeutig. In der Analysis ist  als stetige Linie fundamental, in der Mengenlehre ist das Phänomen der Uneindeutigkeit eher lästig. Die Folgenräume haben aber ganz ähnliche Eigenarten wie die reellen Zahlen: Wie eine reelle Zahl durch Angabe von immer mehr Nachkommastellen immer genauer beschrieben wird, so werden Elemente f der Folgenräume durch Angabe von immer längeren Anfangsstücken

f (0),  f (1),  ...,  f (n)

immer besser approximiert. Der Leser kann sich die Elemente der Folgenräume als Information vorstellen, die portionsweise und insgesamt abzählbar oft gesammelt wird. Bei Elementen des Baireraumes ist an jeder Stelle einer von abzählbar vielen Informationstypen 0, 1, 2, … möglich, im Cantorraum gibt es an jeder Stelle nur eine von zwei Möglichkeiten 0 oder 1. (Die Folgenräume n für n > 2 bringen im Vergleich zum Cantorraum nichts wesentlich Neues, da man n verschiedene Informationstypen im Cantorraum durch eine 0-1-Sequenz der Länge m mit 2m > n simulieren kann.)

 Bei diesen Informationsfolgen identifizieren wir, im Gegensatz zur b-adischen Darstellung von x  ∈  , zwei Informationen

f (0),  f (1),  f (2),  …  und

g(0),  g(1),  g(2),  …

wirklich nur dann, wenn sie punktweise übereinstimmen, d. h. wenn f (n) = g(n) für alle n  ∈  .

 Zwei Informationen sind sich intuitiv ähnlich, wenn sie auf einem langen Anfangsstück übereinstimmen. Man erhält so einen Begriff von „x liegt nahe bei y“ für Elemente x, y aus den Folgenräumen ganz so, wie man ihn für die reellen Zahlen besitzt. Eine Präzisierung dieser Intuition liefert dann insgesamt Räume, die den reellen Zahlen sehr ähnlich sind, und zudem sehr handsam in der Anwendung.

 Wir werden in diesem Buch weiter mit den vertrauten reellen Zahlen  und ihrer linearen Struktur arbeiten, in der deskriptiven Mengenlehre tritt dann aber langfristig der Baireraum an die Stelle von . Hier wollen wir nur noch einige interessante Abbildungen betrachten und uns mit den Räumen spielerisch vertraut machen. Versuchen wir, eine Baire-Information als eine Cantor-Information darzustellen. Hierzu betrachten wir die Abbildung F, die f  ∈   auf das folgende g  ∈  { 0 , 1 } abbildet:

mengenlehre1-AbbID31

Sei

A  =  { g  ∈  { 0 , 1 } | es gibt ein n0  ∈   mit g(n) = 1 für alle n ≥ n0 }.

Es ist leicht zu sehen, dass das so konstruierte F :   { 0, 1 } − A bijektiv ist. Weiter sind die Bilder und Urbilder ähnlicher Informationen unter F wieder ähnlich. Die Abbildung erhält also die wesentliche Struktur.

 Wir definieren nun H : { 0, 1 } − A  [ 0, 1 [ durch

H(g)  =  0, g(0) g(1)…  in Binärdarstellung.

Dann ist H : { 0, 1 } − A  [ 0, 1 [ bijektiv, wie man leicht sieht. Die Nähebeziehungen werden aber nicht besonders gut respektiert: Die Bilder der Informationen

g1  =  01000…,  g2  =  011000…,  g3  =  0111000…, …

nähern sich dem Bild 1/2 von g = 1000… in , die Informationen gn stimmen aber an der ersten Stelle niemals mit der Information der ersten Stelle von g überein, sind also aus Sicht des Cantorraumes grob verschieden.

 Statt F betrachten wir nun die Abbildung F*, die f  ∈   auf die folgende Funktion g  ∈  { 0 , 1 } abbildet, und 0 und 1 viel symmetrischer behandelt als F:

mengenlehre1-AbbID32

Sei  B  =  { g  ∈  { 0 , 1 } | es gibt ein n0  ∈   mit:  g(n) = 1 für alle n ≥ n0oder  g(n) = 0 für alle n ≥ n0 }.

Dann ist F* :   { 0, 1 } − B bijektiv. Wie oben sei

H*(g)  =  0, g(0) g(1)…  in Binärdarstellung  für alle g  ∈  { 0, 1 } − B.

Dann ist H* : { 0, 1 } − B  [ 0, 1 [ − C bijektiv, wobei hier C = { x  ∈ [ 0, 1 [ | es gibt eine endliche Binärdarstellung von x }. H* erhält nun zudem die Nähebeziehungen in perfekter Weise, wie sich der Leser leicht überlegt.

mengenlehre1-AbbID33

 Insgesamt zeigen die Überlegungen, dass der Baireraum zu den reellen Zahlen im Einheitsintervall, die keine endliche Binärdarstellung besitzen, strukturell äquivalent ist. Mit Hilfe von Kettenbrüchen kann man ein gleichwertiges Ergebnis erzielen: Einem Element f des Baireraums wird durch einen Kettenbruch die Zahl x = K(f) wie im Diagramm zugeordnet, wobei f′(n) = f (n) + 1 für alle n  ∈  . In der Analysis zeigt man, dass jedes solche K(f) eine irrationale Zahl ist, dass jede irrationale Zahl x des Einheitsintervalls als Kettenbruch geschrieben werden kann, und dass die Nähebeziehungen durch die Kettenbruchzuordnung perfekt erhalten bleiben. Der Baireraum ist damit strukturell äquivalent zu den irrationalen Zahlen des Einheitsintervalls.