1. Transfinite Operationen
Wir geben in den ersten Kapiteln dieses Abschnitts eine Einführung in die Theorie der Ordinalzahlen. Es handelt sich hierbei um die Fortsetzung der natürlichen Zahlenreihe
0, 1, 2, 3, …
ins Transfinite:
(+) 0, 1, 2, … , ω, ω + 1, ω + 2, … , ω + ω, ω + ω + 1, … , … , α, α + 1, … , … , …
Die Elemente dieser Reihe heißen Ordinalzahlen, oder, wie Cantor sie genannt hat, Ordnungszahlen. Die natürlichen Zahlen bilden ein Anfangsstück der Ordinalzahlen. Die erste Ordinalzahl, die größer ist als alle natürlichen Zahlen, wird seit Cantor mit ω bezeichnet, ein Zeichen, das an das Unendlichkeitssymbol erinnert. Ab einschließlich ω werden die Elemente der Reihe transfinite Zahlen genannt.
Die Idee der Ordinalzahlen ist die folgende: Von irgendeiner Stelle der Reihe können wir eine beliebige Reise nach rechts antreten, Schritt für Schritt, oder auch, indem wir große Abschnitte überspringen. Jede solche Reise hat eine eindeutig bestimmte Ordinalzahl als Ziel, den Limes oder das Supremum aller Schritte. Von dieser Ordinalzahl können wir nun eine neue Reise starten − die Ordinalzahlen sind in diesem Sinne unerschöpflich. Die Länge einer solchen Wanderung entlang der Ordinalzahlen ist dabei auch nicht auf die natürlichen Zahlen beschränkt, sondern wird konsequenterweise wieder durch eine Ordinalzahl beschrieben.
Anhand der reellen Zahlengeraden kann man sich diese Idee zumindest ein erstes Stück weit vor Augen führen. Wir betrachten hierzu etwa die Menge M = ℕ ∪ { n − 1/k | n, k ∈ ℕ, n ≥ 1, k ≥ 2 }. M enthält alle natürlichen Zahlen, und zu jeder natürlichen Zahl ungleich Null eine unendliche Folge, die diese Zahl von links approximiert. Versucht man nun, die Elemente von M von links nach rechts durchzuzählen, so wird man zwangsläufig die Schritte dieser Abzählung mit einer Reihe wie in (+) bezeichnen:
Schritt | 0 | 1 | 2 | … | ω | ω + 1 | ω + 2 | … | ω + ω | … |
Element von M | 0 | 1 − 1/2 | 1 − 1/3 | … | 1 | 2 − 1/2 | 2 − 1/3 | … | 2 | … |
Die Menge M visualisiert alle endlichen und transfiniten Ordinalzahlen ω · n + m für n, m ∈ ℕ, wobei ω · 0 = 0, ω · 1 = ω, ω · 2 = ω + ω, … , ω · (n + 1) = ω · n + ω. Der Limes aller zur Aufzählung von M benötigten Schritte hat die natürliche Bezeichnung ω · ω, er entspricht aber keinem Element der Menge M mehr. Komplizierter ist die folgende Teilmenge der reellen Zahlen:
Übung
Sei M′ = ℕ ∪ { n − 1/k − 1/m | n, k, m ∈ ℕ, n ≥ 1, k ≥ 2, m ≥ k(k − 1) }.
Zählen Sie M′ in einer Tabelle auf, analog zur obigen Tabelle für die Menge M. Weisen Sie den dazu benötigten Schritten geeignete ω-Symbole zu, etwa ω · ω, (ω · ω) + ω, … , usw.
Wir betrachten hier ω zunächst nur als ein Symbol, dessen Bedeutung es ist, einen Schritt zu bezeichnen, der sich an unendlich viele, mit den natürlichen Zahlen bezeichnete Schritte anschließt. Eine präzise Definition von ω und den anderen transfiniten Zahlen geben wir im weiteren Verlauf dieses Abschnitts, nachdem wir uns den Begriff der Ordinalzahl inhaltlich vertraut gemacht haben.
Wir werden zeigen, dass dem Zählprozess über die natürlichen Zahlen hinaus nichts Vages oder Mystisches anhaftet, und dass die Ordinalzahlen mit gutem Recht als Zahlen bezeichnet werden können. Mit ihrer Hilfe können wir die Elemente jeder beliebigen endlichen oder unendlichen Menge durchzählen und numerieren. Wir zählen die Elemente einer Menge entlang obiger Reihe (+) auf, bis die Menge M erschöpft ist.
Es zeigt sich, dass die Reihe der Ordinalzahlen unermesslich lang ist. Wie „weit draußen“ eine Ordinalzahl α liegen kann, ist bis heute Gegenstand der mengentheoretischen Forschung (wobei hier nicht das Fehlen einer unstrittigen Definition der Ordinalzahlen gemeint ist, sondern Fragen der Form „Existiert eine Ordinalzahl mit den und den Eigenschaften?“ ). In jedem Falle gibt es aber ungeheuer viele Ordinalzahlen: Wie wir sehen werden, bilden die Ordinalzahlen eine echte Klasse − es gibt ihrer zu viele, als dass sie ein „fertiges Ganzes“ bilden könnten. In einer geeigneten Schichtung des Universums V durch Ränge kann man sie sich als − im Rang unbeschränkte − senkrechte Mittelachse von V vorstellen.
Eine formale Begründung der Ordinalzahltheorie, des „Gehirns der Mengenlehre“, innerhalb einer axiomatischen Festung ist sicher wünschenswert, zumal man durch die Ordinalzahlen in natürlicher Weise an die Grenzen des mengentheoretischen Universums gelangt, wo die Physik eine andere wird. Die Ideen und Intuitionen hinter den Ordinalzahlen sind aber, wie im Fall der Mächtigkeitstheorie, unabhängig von einem formalen Rahmen, und gehen ihm unbedingt voraus.
In Übereinstimmung mit der historischen Entwicklung gesellt sich einer informalen Diskussion der Ordinalzahlen in natürlicher Weise ein weiteres Themengebiet der Cantorschen Forschung hinzu, nämlich die Untersuchung von Teilmengen reeller Zahlen − „linearen Punktmannigfaltigkeiten“ in den Worten Cantors. Seine Arbeiten in diesem Gebiet wurden zum Ausgangspunkt zweier weiterer neuer mathematischer Disziplinen des 20. Jahrhunderts, der Topologie und der Maßtheorie, und die Begriffe, die wir hier anhand der reellen Zahlen entwickeln, stehen heute in sehr allgemeiner Form in den Eingangshallen des mathematischen Gesamtgebäudes. Innerhalb der Mengenlehre werden die Cantorschen Ideen zur Untersuchung der reellen Zahlen von der deskriptiven Mengenlehre fortgeführt.
Drei Ansatzpunkte für transfinite Zahlen
Das Zählen über die natürlichen Zahlen hinaus hat sich bisher bereits an mehreren Stellen fast von selbst aufgedrängt:
(1) | Beim Algorithmus des Abtragens zum Vergleich der Größe zweier Mengen. Wenn dieser Algorithmus für unendliche Mengen durchgeführt wird, werden nach dem Abtragen von unendlich vielen Elementen unter Umständen Zwischenstufen, sogenannte Limesschritte, nötig (vgl. 1.4 und die Diskussion nach dem Beweis des Vergleichbarkeitssatzes in 1.5). Wir brauchen also Stufen des Abtragens hinter den natürlichen Zahlen, und diese Stufen sind offenbar von der Form obiger Reihe (+). |
(2) | Bei der Erzeugung immer größerer Mächtigkeiten durch iterierte Anwendung der Potenzmengenoperation (vgl. 1.10 und 1.11): ℘(M), ℘2(M), ℘3(M), … , M′ = ⋃n ∈ ℕ ℘n(M), ℘(M′), ℘2(M′), … , … Auch hier entspricht die Struktur der durchgeführten Operationen der Reihe (+), wobei wir „im Nachfolgerschritt“ die Potenzmengenoperation anwenden, und „im Limesschritt“ die Vereinigung der bisherigen Reihe bilden. |
(3) | Bei der Schichtung von V durch Ränge (vgl. 1.13). Die ersten Schichten numerieren wir der Reihe nach mit den natürlichen Zahlen 0, 1, 2, 3, … Alle diese Schichten sind Mengen. Die Vereinigung abzählbar vieler Mengen ist aber sicher wieder eine Menge, und somit gibt es eine Schicht nach den ersten unendlich vielen Schichten, und auch nach dieser Schicht kommen weitere Schichten. Die Nummern der Schichten entsprechen der Reihe (+). |
Der Leser, der die zweite Hälfte des Kapitels über Kardinalzahlarithmetik nicht zurückgestellt hat, kennt ein weiteres Beispiel: Kardinalzahlen haben einen Nachfolger, und Mengen von Kardinalzahlen haben ein Supremum. Die Auflistung der Kardinalzahlen nach ihrer Größe beginnt mit 0, 1, 2, …, ℵ0, (ℵ0)+, … Sie hat die Struktur der Reihe (+): Einer Kardinalzahl 𝔞 folgt 𝔞+ unmittelbar nach, und an eine Menge 𝔄 von Kardinalzahlen ohne ein größtes Element schmiegt sich „im Limesschritt“ 𝔟 = sup(𝔄) an.
Bevor wir aus den Gemeinsamkeiten dieser drei Punkte die Ordinalzahlen herauslösen, behandeln wir im nächsten Kapitel ein weiteres Beispiel − dasjenige Beispiel, an Hand dessen Cantor die Ordinalzahlen entdeckte. Einer der ersten Erfolge Cantors als Mathematiker war der Beweis eines Eindeutigkeitssatzes über die Entwicklung einer Funktion in eine trigonometrische Reihe. Erweiterungen dieses Satzes − im Hinblick auf zulässige Ausnahmemengen für die Konvergenz der Reihe − führten Cantor zur Untersuchung bestimmter Teilmengen reeller Zahlen. Diese Untersuchung nahm bald einen abstrakten Charakter an und entwickelte eine Eigendynamik, aus der schließlich neben der Mengenlehre auch die Topologie und die Maßtheorie hervorgehen sollten.
Wir beenden dieses Kapitel mit einer Bemerkung von Felix Hausdorff, die eine Haltung ausdrückt, die unserer Unbekümmertheit gegenüber den aufgetretenen Paradoxien entspricht: Diese Paradoxien bedürfen zwar langfristig einer Klärung, jedoch ist dies im Hinblick auf eine inhaltliche Weiterentwicklung der Cantorschen Mengenlehre nicht vorrangig.
Felix Hausdorff über die Überbewertung der Paradoxien
„Daß eine Untersuchung wie diese, die den positiven Bestand der noch so jungen Mengenlehre im Sinne ihres Schöpfers um einen, wenn auch nur bescheidenen, Zuwachs zu vermehren trachtet, sich nicht prae limine damit aufhalten kann, in die Diskussion um die Prinzipien der Mengenlehre einzutreten, wird vielleicht an den Stellen Anstoß erregen, wo gegenwärtig ein etwas deplaziertes Maß von Scharfsinn an diese Diskussion verschwendet wird. Einem Beobachter, der es auch der Skepsis gegenüber nicht an Skepsis fehlen lässt, dürften die ‚finitistischen‘ Einwände gegen die Mengenlehre ungefähr in drei Kategorien zerfallen: in solche, die das ernsthafte Bedürfnis nach einer, etwa axiomatischen Verschärfung des Mengenbegriffs verraten; in diejenigen, die mitsamt der Mengenlehre die ganze Mathematik treffen würden, endlich in einfache Absurditäten einer an Worte und Buchstaben sich klammernden Scholastik. Mit der ersten Gruppe wird man sich heute oder morgen verständigen können, die zweite darf man getrost auf sich beruhen lassen, die dritte verdient schärfste und unzweideutigste Ablehnung. In der vorliegenden Arbeit werden diese drei Reaktionen stillschweigend vollzogen … “
(Felix Hausdorff 1908, „Grundzüge einer Theorie der geordneten Mengen“ )