Der Ordnungstyp θ

 Wir charakterisieren nun den Ordnungstyp der reellen Zahlen. Auch dieses Ergebnis geht auf Cantor zurück, der die folgende bemerkenswerte Eigenschaft der reellen Zahlen unter dem Scheffel hervorgerückt hat: Obwohl die reellen Zahlen überabzählbar sind, besitzen sie in den rationalen Zahlen eine abzählbare dichte Teilmenge − zwischen zwei verschiedenen reellen Zahlen liegt immer eine rationale Zahl. Für diese Eigenschaft, die man allgemein für lineare Ordnungen formulieren kann, hat sich ein eigener Begriff durchgesetzt:

Definition (dichte Teilmengen und separable lineare Ordnungen)

Sei 〈 M, < 〉 eine lineare Ordnung. Q ⊆ M heißt dicht in 〈 M, < 〉, falls gilt:

Für alle a, b  ∈  M mit a < b existiert ein q  ∈  Q mit a < q < b.

〈 M, < 〉 heißt separabel, falls eine abzählbare dichte Teilmenge von M existiert.

mengenlehre1-AbbID74

 Für die reellen Zahlen gilt:

〈 , < 〉 ist unbeschränkt, vollständig und separabel.

 Diese drei Bedingungen charakterisieren bereits die Ordnung 〈 , < 〉:

Satz (Charakterisierung von θ)

Sei 〈 M, < 〉 eine lineare Ordnung. Es gelte:

(i)

〈 M, < 〉 ist unbeschränkt,

(ii)

〈 M, < 〉 ist vollständig,

(iii)

〈 M, < 〉 ist separabel.

Dann gilt θ = o. t.(〈 M, < 〉), d. h. 〈 M, < 〉 und 〈 , < 〉 sind ähnlich.

Beweis

Sei Q eine abzählbare dichte Teilmenge von M. Dann ist Q unbeschränkt. Nach dem Satz von Cantor über den Ordnungstyp η sind also 〈 Q, < 〉 und 〈 , < 〉 ähnlich. Sei f : Q   ein Ordnungsisomorphismus.Wir setzen f zu einer Funktion g : M   fort. Da g ein Ordnungsisomorphismus werden soll, müssen Suprema von Teilmengen von M auf die Suprema der Bildmengen abgebildet werden. Da Q in M dicht ist, ist jedes Element von M Supremum einer Teilmenge von Q. Wir definieren also für x  ∈  M:

g(x)  =  sup({ f (q) | q  ∈  Q, q < x }).

Wegen Q dicht gilt für alle x  ∈  Q, dass x = sup({ q | q  ∈  Q, q < x }). Da f : Q   ein Ordnungsisomorphismus ist, gilt also

f (x)  =  sup({ f (q) | q  ∈  Q, q < x }) für alle x  ∈  Q.

Somit ist g(x) = f (x) für alle x  ∈  Q, d. h. g ist eine Fortsetzung von f.

g ist ordnungserhaltend und damit injektiv:

Seien x, y  ∈  M, x < y. Sei z  ∈  Q mit x < z < y. Dann ist g(x) < f (z) < g(y).

g ist aber auch surjektiv: Denn sei x′  ∈   und X′ = { q  ∈   | q < x′ }. Dann ist x′ = sup(X′). Sei X = f −1′′X′ ⊆ Q und x = sup(X). Dann ist

g(x)  =  sup({ f (q) | q  ∈  X })  =  sup({ q | q  ∈  X′ })  =  x′.

Also ist g : M   ein Ordnungsisomorphismus.

〈 M, < 〉 und 〈 , < 〉 sind also ähnlich, und somit gilt θ = o. t.(〈 M, < 〉).

 Lassen wir die Unbeschränktheit fallen, so sind vier Fälle möglich:

Übung

Sei 〈 M, < 〉 eine vollständige separable lineare Ordnung mit mehr als einem Element. Dann ist 〈 M, < 〉 ordnungsisomorph zu 〈 I, < 〉, wobei

I = [ 0, 1 ]  oder  I = [ 0, 1 [  oder  I = ] 0, 1 ]  oder  I = ] 0, 1 [.

[Unterscheide nach der Existenz von kleinsten und größten Elementen in 〈 M, < 〉. Die Ordnung 〈 , < 〉 ist ähnlich zu 〈 ] 0, 1 [, < 〉.]

 Aus dem Beweis erhalten wir einen Einbettungssatz:

Korollar (Einbettungssatz für )

Sei 〈 M, < 〉 eine separable lineare Ordnung. Dann lässt sich 〈 M, < 〉 in 〈 , < 〉 korrekt einbetten.

 Es gilt also α ≼* θ für alle separablen Typen α.

 Cantor hat die Charakterisierung der Ordnung der reellen Zahlen etwas anders formuliert. Er betrachtet das Intervall X = [ 0, 1 ] ⊆  und charakterisiert die Ordnung 〈 X, < 〉 wie folgt:

Cantor (1895):

„Hat eine geordnete Menge M ein solches Gepräge, dass sie 1) ‚perfekt‘ ist, 2) in ihr eine Menge S mit der Kardinalzahl … 0 enthalten ist, welche zu M in der Beziehung steht, dass zwischen je zwei beliebigen Elementen m0 und m1 von M Elemente von S dem Range nach liegen, so ist [ o. t.(〈 M, < 〉) = o. t.(〈 [ 0, 1 ], < 〉) ].“

 Die Eigenschaft perfekt bedeutet hier bei Cantor: Jede aufsteigende bzw. absteigende abzählbare Folge in M hat ein Supremum bzw. ein Infimum in M, und jedes x  ∈  M ist Limes einer abzählbaren auf- oder absteigenden Folge in M.

 Zermelo schreibt in einer Anmerkung zur Cantorschen Charakterisierung:

Zermelo (1932, Anmerkung zu § 11 von Cantor 1895):

„Von den beiden Eigenschaften, durch welche hier Cantor den Ordnungstyp des Linearkontinuums charakterisiert, ist von grundlegender Bedeutung und die eigentliche Cantorsche Entdeckung die von ihm als 2) bezeichnete Eigenschaft: die Existenz einer in M ‚überall dichten‘ abzählbaren Teilmenge S. Weniger glücklich erscheint uns heute seine Formulierung der Eigenschaft 1) … “

 Zermelo schlägt statt 1) die Vollständigkeitsbedingung „〈 M, < 〉 hat keine Lücken“ vor, die unserer Formulierung entspricht.