Eine weitere Konstruktion von 〈 ℝ, < 〉 aus 〈 ℚ, < 〉
Eine weitere, in der Analysis bevorzugte Konstruktionsmethode der reellen Zahlen benutzt konvergente Folgen rationaler Zahlen. Diese Methode hat gegenüber der ordnungstheoretischen Konstruktion den Vorteil, dass die Arithmetik auf ℝ leichter aus der Arithmetik auf ℚ gewonnen werden kann.
Die Idee ist, eine reelle Zahl als eine konvergente Folge rationaler Zahlen aufzufassen. Zur Umsetzung dieser Idee ist es nötig, die Konvergenz einer Folge zu definieren, ohne ihren Limes bereits zu benutzen. Entscheidend ist hier der Begriff der Fundamentalfolge, den wir für die reellen Zahlen bereits kennengelernt haben.
Definition (Fundamentalfolge in ℚ)
Sei x = 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 eine Folge rationaler Zahlen. x heißt Fundamentalfolge in ℚ, falls gilt:
Für alle ε ∈ ℚ, ε > 0, existiert ein n0 ∈ ℕ mit der Eigenschaft:
|xm − xn| < ε für alle n, m ∈ ℕ mit n, m ≥ n0.
Zwei Fundamentalfolgen können den gleichen Grenzwert haben. Auch dies lässt sich ohne Vorgriff auf diesen Grenzwert definieren:
Definition (Nullfolge und „gleicher Limes“)
(i) | Eine Fundamentalfolge 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 heißt Nullfolge, falls gilt: Für alle ε ∈ ℚ, ε > 0 existiert ein n0 ∈ ℕ mit: |xn| < ε für alle n ≥ n0. |
(ii) | Zwei Fundamentalfolgen x = 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 und y = 〈 yn | n ∈ ℕ 〉 haben den gleichen Limes, falls 〈 xn − yn | n ∈ ℕ 〉 eine Nullfolge ist. |
Man kann nun die reellen Zahlen einfach als die Menge aller Fundamentalfolgen in ℚ definieren. Zwei reelle Zahlen gelten dann als gleich, falls sie den gleichen Limes haben. (Dies ist eine Gleichheit im Sinne einer Äquivalenzrelation.) Die rationalen Zahlen lassen sich in die reellen Zahlen einbetten, indem q ∈ ℚ mit der Fundamentalfolge identifiziert wird, die konstant den Wert q annimmt.
Diese Konstruktion der reellen Zahlen stammt von Georg Cantor aus dem gleichen Jahr wie die Konstruktion von Dedekind (1872). Unabhängig von Cantor wurde sie bereits früher von Charles Méray (1835 − 1911) durchgeführt (1869, 1872).
Heute wird üblicherweise in dieser Konstruktion eine reelle Zahl nicht als Fundamentalfolge, sondern als Äquivalenzklasse x/∼ von Fundamentalfolgen definiert, wobei x ∼ y, falls x und y den gleichen Limes haben. Dies hat lediglich die Konsequenz, dass der Gleichheitsbegriff auf den reellen Zahlen zur gewohnten Identität wird.
Für diese und weitere Konstruktionsmöglichkeiten und Charakterisierungen der reellen Zahlen verweisen wir den Leser auf [Deiser 2007] und [Rautenberg 2007]. Beide Texte berücksichtigen auch geschichtliche Entwicklungen.