Reduktible Teilmengen von ℝ

Definition (reduktibel)

Sei P ⊆ . P heißt reduktibel, falls eine Ordinalzahl γ existiert mit P(γ) = ∅.

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Obige Frage lautet also: Ist jede abgeschlossene abzählbare Menge reduktibel? Oder: Kann eine nichtleere perfekte Menge abzählbar sein? Jede nichtleere perfekte Menge P ⊆  ist offenbar unendlich, da jedes x  ∈  P ein Häufungspunkt von P ist. Mit einem Argument, das dem ersten Cantorschen Beweis der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen verwandt ist, zeigen wir nun, dass nichttriviale perfekte Mengen sogar überabzählbar sind.

Satz (Überabzählbarkeit der perfekten Mengen)

Sei P ⊆  perfekt und nichtleer. Dann ist P überabzählbar.

Beweis

Sei f :   P injektiv, und sei xn = f (n) für n  ∈  . Wir konstruieren ein x*  ∈  P, das von allen xn verschieden ist. Dann kann f keine Bijektion sein, und es folgt, dass P überabzählbar ist. Für alle n  ∈   können wir annehmen:

(+)  Für alle ε > 0, ε  ∈  , ist (Uε(xn) − { xn }) ∩ rng(f) ≠ ∅.

Andernfalls ist f sicher nicht bijektiv: Denn (Uε(xn) − { xn }) ∩ P ist unendlich, da xn ein Häufungspunkt von P ist. Wir konstruieren nun rekursiv:

(a)

eine konvergente Teilfolge xi0, xi1, xi2 … von x0, x1, x2, … , wobei

i0 < i1 < i2 < … ,

(b)

eine Nullfolge ε0 > ε1 > ε2 > … von reellen Zahlen εn > 0.

Sei i0 = 0, ε0 = 1. Seien in und εn konstruiert für ein n  ∈  . Wir setzen:

in + 1 =  „das kleinste m  ∈   mit xm  ∈  Uεn(xin) − { xin }“,
εn + 1 =  1/2 · min(σn, εn − σn),  wobei σn = |xin + 1 − xin|.

(Die Idee ist, dass Uεn + 1(xin + 1) samt Rand ganz in Uεn(xin) − { xin } liegt.)

Nach (+) ist in wohldefiniert für alle n  ∈  , und es gilt i0 < i1 < i2 < … (! ). Weiter ist εn + 1 < 1/2 εn für alle n  ∈  , also lim ∞ εn = 0. Nach Konstruktion ist 〈 xin | n  ∈   〉 eine Cauchyfolge, also existiert

x*  =  lim ∞ xin.

Dann ist x*  ∈  P, da x* ein Häufungspunkt von P ist. Aber nach Konstruktion gilt x* ≠ xn für alle n  ∈  .

Cantor (1884b):

Theorem A.Eine … Punktmenge P kann, wenn sie von der ersten Mächtigkeit [abzählbar unendlich] ist, nie eine perfekte Punktmenge sein.“

 Mit diesem Ergebnis können wir die Frage nach der Reduktibilität abzählbarer abgeschlossener Mengen positiv beantworten:

Korollar (abgeschlossene abzählbare Mengen sind reduktibel)

Sei P ⊆  abgeschlossen und abzählbar. Dann existiert eine abzählbare Ordinalzahl α mit P(α) = ∅.

Beweis

Sei α eine abzählbare Ordinalzahl, für die P(α) perfekt ist. Wegen P abgeschlossen ist P(α) ⊆ P, also ist P(α) perfekt und abzählbar. Aber nichtleere perfekte Mengen sind überabzählbar, also ist P(α) = ∅.

Cantor (1884b):

Theorem C′.Ist P irgend eine abgeschlossene Punktmenge von der ersten Mächtigkeit [abzählbar unendlich], so gibt es immer eine kleinste der ersten oder zweiten Zahlenklasse zugehörige Zahl α [ein abzählbares α], so dass P(α) gleich Null ist, oder was dasselbe heißen soll, solche Mengen sind immer reduktibel.“

Übung

Sei P ≠ ∅ abgeschlossen und abzählbar, und sei α minimal mit P(α) = ∅. Dann ist α eine Nachfolgerordinalzahl.

 Explizit halten wir die folgende Umformulierung fest:

Korollar

Sei P ⊆  nichtleer, abgeschlossen und abzählbar. Dann hat P einen isolierten Punkt.

 Eine weitere Folge der Überabzählbarkeit nichtleerer perfekter Mengen ist die Eindeutigkeit der Cantor-Bendixson-Zerlegung.

Korollar (Eindeutigkeit der Cantor-Bendixson-Zerlegung)

Sei P ⊆ , und sei P = P1 ∪ A1 = P2 ∪ A2 mit

(i)

P1, P2 perfekt,

(ii)

A1, A2 abzählbar,

(iii)

P1 ∩ A1 = P2 ∩ A2 = ∅.

Dann gilt P1 = P2 und A1 = A2.

Beweis

Annahme P1 ≠ P2. Sei dann o. E. x  ∈  P1, x  ∉  P2. Wegen P2 abgeschlossen existiert ein Intervall I = ] a, b [ mit x  ∈  I und I ⊆  − P2. Weiter existiert ein Intervall I′ = [ a′, b′ ] mit a < a′ < x < b′ < b. Dann ist P1 ∩ I′ nach evtl. Entfernung von a′ und b′ perfekt (!) und nichtleer. Also ist P1 ∩ I′ überabzählbar. Aber es gilt

P1 ∩ I′  ⊆  P ∩ I  ⊆  A2,

und damit ist A2 überabzählbar. Widerspruch! Also gilt P1 = P2 und folglich auch A1 = A2.

 Wir fassen die wesentlichen Resultate noch einmal in einem Satz zusammen.

Satz (Fundamentalsatz über Ableitungen)

Sei P ⊆ . Dann gilt:

(a)

Ist P(α) abzählbar für eine Ordinalzahl α, so ist P abzählbar.

(b)

Ist P abzählbar und abgeschlossen, so ist P(α) = ∅ für ein abzählbares α.

(c)

Ist P überabzählbar und abgeschlossen, so existiert ein perfektes P* ⊆ P, für das P − P* abzählbar ist. Ein solches P* ist eindeutig bestimmt, und es gilt P* = P(α) für ein abzählbares α.

 Die im Hinblick auf (c) an dieser Stelle natürliche Frage, ob jede überabzählbare lineare Punktmenge eine nichtleere perfekte Teilmenge besitzt, behandeln wir im nächsten Kapitel.