Nirgends dichte und magere Mengen
Die Frage, ob jede überabzählbare abgeschlossene Menge ein Intervall enthält, wird durch die Cantormenge also negativ beantwortet. Eine Abschwächung der Frage ist: Enthält eine überabzählbare abgeschlossene Menge immer eine rationale Zahl als Element? Für die Cantormenge ist dies richtig. Im Allgemeinen ist jedoch auch diese Eigenschaft nicht erfüllt:
Hausdorff (1914):
„Aber auch abgeschlossene Mengen mit nichtverschwindendem Kern, z. B. perfekte Mengen, können nirgends dicht sein [müssen keine nichttrivialen Intervalle enthalten]. Um auf der geraden Linie eine solche zu bilden, verstehen wir unter Δ eine offene Strecke (a < x < b) und unter
G = Δ1 + Δ2 + … = Σ Δn
eine Summe von abzählbar vielen, paarweise fremden Strecken, also ein lineares Gebiet [eine offene Teilmenge von ℝ] … Damit das Komplement F perfekt werde, vermeiden wir bei der sukzessiven Wahl der Strecken Δ1, Δ2, … , dass zwei von ihnen mit einem Endpunkt zusammenstoßen, der ja sonst ein isolierter Punkt von F sein würde;
die Figur zeigt den Anfang einer solchen Streckenwahl. Um endlich G dicht, also F nirgendsdicht zu machen, lassen wir G etwa die Menge R = { r1, r2, … } der rationalen Zahlen einschließen; wir wählen alle Δn mit irrationalen Endpunkten, bedecken r1 mit Δ1, das erste (mit niedrigstem Index behaftete) von Δ1 nicht eingeschlossene rβ mit Δ2, das erste von Δ1 + Δ2 nicht eingeschlossene rγ mit Δ3 usw. Hiermit wird R ⊆ G, also G auf der ganzen Linie dicht. Wir werden sehen, dass die perfekte Menge F die Mächtigkeit des Kontinuums hat. Mengen so hoher Mächtigkeit können also nirgendsdicht sein. Man kann sogar, wenn δn die Länge der Strecke Δn bedeutet, die Summe Σ δn (das ‚Längenmaß‘ von G) konvergent und beliebig klein machen, was ja mit der angegebenen Konstruktion verträglich ist; Gebiete [offene Mengen] von beliebig kleinem Längenmaß können also die ganze Gerade dicht erfüllen.
Natürlich kann man diese Konstruktion mannigfach abändern. Ein Beispiel (wo allerdings Σ δn divergiert) ist das folgende: die Menge bestehe aus allen Zahlen, die eine Dezimalbruchentwicklung … zulassen, in der eine der Ziffern 1 − 8 nicht vorkommt, etwa die Ziffer 3 … Das erste Beispiel dieser Art wurde von G. Cantor gegeben, nämlich die Menge der Zahlen, in deren triadischer Entwicklung … die Ziffer 1 nicht vorkommt.“
Die hier rekursiv konstruierte Menge F = ℝ − G = ℝ − ⋃n ∈ ℕ Δn ist also eine perfekte Menge mit F ∩ ℚ = ∅. Während der Konstruktion von F wird sichergestellt, dass alle rationalen Zahlen in einem entfernten Intervall (einem Δn) liegen.
Die angedeutete Variation des Längenmaßes von G während dieser Konstruktion wollen wir noch etwas genauer betrachten. Sei σ ∈ ℝ, σ > 0. Weiter wählen wir eine Folge 〈 εn | n ∈ ℕ 〉 von positiven reellen Zahlen, deren Summe gegen σ konvergiert, etwa εn = σ/2n + 1 für n ∈ ℕ. Bei der von Hausdorff durchgeführten Konstruktion können wir immer Δn = ] an, bn [ so klein wählen, dass das Maß bn − an von Δn kleinergleich εn wird. Dann haben wir während der Konstruktion von F = ℝ − ⋃n ∈ ℕ Δn insgesamt höchstens eine Menge vom Maß σ aus ℝ entfernt. F ist also fast ganz ℝ, enthält aber dennoch kein Intervall. Umgekehrt ist das Komplement G = ⋃n ∈ ℕ Δn allenfalls von der Länge σ, enthält aber für jedes nichtleere reelle Intervall I eine Menge Δn ∩ I ≠ ∅, also ein Teilintervall von I!
Die Diskussion legt folgende Begriffe nahe.
Definition (nirgends dicht, mager)
Sei P ⊆ ℝ. P heißt nirgends dicht, falls cl(P) = P ∪ P′ keine nichttrivialen Intervalle enthält. P heißt mager, falls P eine abzählbare Vereinigung von nirgends dichten Mengen ist. P heißt komager, falls ℝ − P mager ist.
P nirgends dicht ist äquivalent zu int(cl(P)) = ∅. P ist nirgends dicht genau dann, wenn cl(P) nirgends dicht ist. Die Cantormenge C ist nirgends dicht.
Magere Mengen können dicht in ℝ sein: Jede abzählbare Menge ist mager, und insbesondere ist also ℚ mager. Dagegen zeigt eine einfache Variante von Cantors erstem Beweis der Überabzählbarkeit von ℝ, dass die Bezeichnung „mager“ wirklich gerechtfertigt ist: ℝ ist nicht mager. Die mageren Mengen bilden dann offenbar ein ω1-vollständiges Ideal auf ℝ (und die komageren Mengen einen ω1-vollständigen Filter).
Satz (Bairescher Kategoriensatz)
Sei U ⊆ ℝ offen und nichtleer. Dann ist U nicht mager.
Beweis
Sei U ⊆ ℝ offen und nichtleer, und seien Pn ⊆ ℝ nirgends dicht für n ∈ ℕ. Wir konstruieren ein x* ∈ U mit x* ∉ Pn für alle n ∈ ℕ. Dann ist also ⋃n < ω Pn ≠ U. U ist also nicht mager. Sei Ik = ] ak, bk [, k < ω, eine Aufzählung aller nichttrivialen rationalen Intervalle. Wir definieren rekursiv kn für n < ω durch:
k0 | = „das kleinste k mit [ ak, bk ] ⊆ U“, |
kn + 1 | = „das kleinste k > kn mit [ ak, bk ] ⊆ Ikn − Pn“. |
[Ein solches k existiert, da Pn nicht dicht in Ikn ist.] |
Sei [ x, y ] = ⋂k < ω [ akn, bkn ], also
x = supn < ω akn,
y = infn < ω bkn.
Dann ist x ≤ y und [ x, y ] ∩ ⋃n < ω Pn = ∅. Also ist x* = x wie gewünscht.
Der Bairesche Kategoriensatz findet sich in [Baire 1899]. Magere Mengen nennt man auch „von erster Kategorie“, nicht magere Mengen „von zweiter Kategorie“. Der Satz sagt dann: Nichttriviale offene Mengen sind von zweiter Kategorie.
Der Beweis ist lediglich eine Verfeinerung des ersten Cantorschen Beweises der Überabzählbarkeit von ℝ. Wir erhalten also keinen wirklich neuen Beweis der Überabzählbarkeit von ℝ aus dem Baireschen Kategoriensatz durch das Argument: Jede abzählbare Menge ist mager. ℝ ist jedoch nicht mager, also überabzählbar. Andererseits suggeriert der Beweis die folgende Version von Cantors erstem Beweis der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen:
Variante des ersten Cantorschen Überabzählbarkeitsbeweises
Für reelle a < b seien
L(I) = [ a, a + (b − a)/3 ], R(I) = [ b − (b − a)/3, b ]
das linke und rechte Drittelintervall von I = [ a, b ]. (De facto sind zwei beliebige disjunkte abgeschlossene nichtleere Teilintervalle von I geeignet.) Seien nun x0, x1, …, xn, …, n < ω, reelle Zahlen in I0 = [ a, b ]. Wir definieren rekursiv Intervalle In für n < ω durch:
Sei J = ⋂n < ω In. Dann ist J ≠ ∅ und xn ∉ J für alle n < ω. Also ist I überabzählbar.
Abgeschlossene Teilmengen von ℝ sind genau dann nicht mager, wenn sie ein nichttriviales Intervall enthalten. Andernfalls sind sie sogar nirgends dicht.
Für den dualen Begriff der komageren Mengen gilt:
Übung
(a) | Sei A ⊆ ℝ. Dann sind äquivalent:
[direkt oder mit: int(ℝ − A) = ℝ − cl(A), cl(ℝ − A) = ℝ − int(A).] |
(b) | Ist A ⊆ ℝ komager, so ist A dicht in ℝ. |
(c) | Ist Un offen und dicht in ℝ für n ∈ ℕ, so ist ⋂n ∈ ℕ Un komager, und insbesondere dicht in ℝ. |
Der Schnitt über abzählbar viele offene dichte Teilmengen von ℝ ist i. A. nicht mehr offen, und kann sogar ein leeres Inneres haben: Betrachte etwa Uq = ℝ − { q } für q ∈ ℚ. Er ist aber immer komager, was viel stärker ist als dicht.
Obige Konstruktion von Hausdorff zeigt: Es gibt ein Zerlegung von ℝ in Mengen A, B mit: A hat Maß Null, B ist mager. Hierzu wird die Konstruktion abzählbar oft durchgeführt, mit einer Folge von σn > 0, die gegen Null konvergiert. Diese liefert jeweils nirgends dichte Fn und offene dichte Gn wie oben. Dann hat A = ⋂n < ω Gn ein Maß kleiner σn für alle n, also Maß 0, und B = ℝ − A = ⋃n < ω Fn ist mager. Die beiden Begriffe einer kleinen Teilmenge von ℝ, die durch „Maß Null“ und „mager“ gegeben werden − d. h. mathematisch: die zugehörigen Ideale − sind also völlig verschieden.
Wir haben hier den Begriff „Längenmaß“ eher intuitiv behandelt. Eine kurze offizielle Definition von „A hat (Lebesguesches) Längenmaß 0“ für ein A ⊆ ℝ ist: Für alle σ ∈ ℝ, σ > 0 gibt es Intervalle In = [ an, bn ], n < ω, an ≤ bn, mit A ⊆ ⋃n < ω In und ∑n < ω bn − an < σ. Die Mengen vom Maß 0 bilden dann ein ω1-vollständiges Ideal, wie man leicht zeigt.
Bevor wir nun den Ordnungstyp ξ der Cantormenge genauer untersuchen, wollen wir mit dem durch die Cantormenge geschärften Auge noch einmal einen Blick auf die verborgen isolierten Punkte einer abgeschlossenen Menge werfen − und auf die Fallstricke der Theorie.