Die Struktur der perfekten Mengen

 Wir zeigen nun, dass nichtleere perfekte Mengen immer die Mächtigkeit des Kontinuums besitzen. Genauer werden wir beweisen, dass eine perfekte Menge, die keine Intervalle enthält, im Wesentlichen nichts anderes ist als eine verzerrte Cantormenge. Hierzu eine für sich interessante Vorüberlegung:

Definition (Intervallzerlegung einer offenen Menge)

Sei U ⊆  offen und nichtleer. Eine Menge  heißt eine Intervallzerlegung von U, falls gilt:

(i)

Jedes I  ∈   ist ein offenes, nichtleeres reelles Intervall.

(ii)

U  = ⋃ .

(iii)

I ∩ J  =  ∅ für alle I, J  ∈   mit I ≠ J.

Satz (Existenz und Eindeutigkeit der Intervallzerlegung)

U ⊆  offen und nichtleer. Dann existiert eine eindeutige Intervallzerlegung  von U.

Beweis

Die Idee ist, von jedem x  ∈  U soweit nach links und rechts zu gehen, bis wir Elemente aus dem Komplement von U treffen. Alle so erhaltenen Intervalle bilden die gesuchte Zerlegung von U. Sei A =  − U. Für x  ∈  U setzen wir

x=sup({yA|y<x})falls {yA|y<x},,sonst.

rx=inf({yA|x<y})falls {yA|x<y},+,sonst.

Ix  =  ] x, rx [.

Dann gilt Ix ⊆ U für alle x  ∈  U. Sei nun

 =  { Ix | x  ∈  U }.

Dann ist  eine Intervallzerlegung von U: (i) und (ii) sind klar, und (iii) folgt daraus, dass alle Intervallgrenzen x, rx keine Elemente von U sind. Die Intervalle in  können sich also nicht überlappen. Die Eindeutigkeit einer Intervallzerlegung ist klar.

Variante

Eine notationell etwas elegantere Definition von  ist die folgende. Für alle a, b  ∈  U setzen wir:

a ∼ b  falls[ a, b ] ⊆ U und [ b, a ] ⊆ U.

Dann ist ∼ eine Äquivalenzrelation auf U. Weiter ist jede Äquivalenzklasse a/∼ ein offenes, nichtleeres Intervall, und je zwei verschiedene a/∼ und b/∼ sind disjunkt. Wir setzen  = U/∼ = { a/∼ | a  ∈  U }. Dann ist  die gesuchte Intervallzerlegung von U.

 Einige Bemerkungen zur Intervallzerlegung  einer offenen Menge sind:

(1)

Als Menge von paarweise disjunkten offenen Mengen ist  abzählbar (jedes I  ∈   enthält eine rationale Zahl als Element).

(2)

Ist  die Intervallzerlegung von U und ist I = ] c, d [  ∈  , so gilt c, d  ∈   − U, falls c, d  ∈  , d. h. c, d ≠ ±∞. Reelle Grenzen der Intervalle in  gehören also immer zum Komplement von U.

 Der zweite Punkt zeigt den Grund, warum ein analoger Satz schon im 2 falsch ist. Ein U ⊆ 2 ist offen, falls für jedes x  ∈  U ein ε > 0 existiert, sodass das Innere eines Kreises um x mit Radius ε ganz in U liegt. Ein offenes U ⊆ 2 lässt sich nun i. A. nicht in disjunkte offene Kreise (= Kreisscheiben ohne Rand) zerlegen. Ein Gegenbeispiel ist U = ] 0, 1 [ × ] 0, 1 [: Bilden wir für x  ∈  U einen x enthaltenden möglichst großen Kreis K, dessen Inneres ganz in U liegt, so liegen auf der Kreislinie sowohl Punkte von U als auch Punkte von  − U; jedes y  ∈  U, das auf der Kreislinie liegt, kann dann nur noch mit Hilfe eines K überlappenden Kreisinneren eingefangen werden. Im eindimensionalen Fall finden wir dagegen immer ein x  ∈  U enthaltendes offenes Intervall, dessen Rand ganz im Komplement  − U liegt.

 Jede Intervallzerlegung  besitzt eine natürliche lineare Ordnung:

Definition (Intervallordnung auf )

Sei  eine Intervallzerlegung. Wir setzen für I, J  ∈  :

I < J  falls  sup(I) ≤ inf (J).

< heißt die Intervallordnung auf .

mengenlehre1-AbbID80

 Die Intervallordnung ist eine lineare Ordnung auf 𝒥. Der Fall sup(I) = inf (J) ist möglich: Sei U =  − { 0 }. Dann ist die Intervallzerlegung von U die Menge

{  ] −∞, 0 [ , ] 0, +∞ [  }.

 Eine Intervallzerlegung haben wir implizit bereits kennengelernt: Ist U das Komplement der Cantormenge im Einheitsintervall, also U = [ 0, 1 ] − C, so besteht die Intervallzerlegung von U gerade aus den mittleren Drittelintervallen, die bei der Konstruktion der natürlichen Approximation 〈 Cn | n  ∈   〉 der Cantormenge entfernt wurden.

 Nach diesen Vorüberlegungen können wir nun zeigen, dass alle beschränkten, abgeschlossenen und überabzählbaren Teilmengen von , die keine Intervalle enthalten, nach Entfernung ihrer verborgen isolierten Punkte den Ordnungstyp der Cantormenge besitzen. Dies rechtfertigt dann im nachhinein die folgende Definition:

Definition (C-artige Mengen)

Ein P ⊆  heißt C-artig, falls gilt:

(i)

P ist perfekt und nichtleer,

(ii)

P ist beschränkt,

(iii)

P enthält kein Intervall [ a, b ] mit a, b  ∈  , a < b.

 Wir zeigen nun, dass die von einer C-artigen Menge gebildeten Zwischenräume eine Ordnung des Typs η der rationalen Zahlen bilden.

Satz

Sei P ⊆  eine C-artige Menge, und sei  die Intervallzerlegung von U = [ inf (P), sup(P) ] − P. Weiter seien L und R die Menge der linken bzw. rechten Grenzpunkte der Intervalle aus , und es sei E = L ∪ R. Dann gilt:

(i)

o. t.(〈 , < 〉)  =  η.

(ii)

E′  =  P.

(iii)

Sei x  ∈  P, x ≠ inf (P). Dann gilt: x = sup({ a  ∈  E | a < x }) gdw x  ∉  R.

(iv)

Sei x  ∈  P, x ≠ sup(P). Dann gilt: x = inf ({ a  ∈  E | x < a }) gdw x  ∉  L.

Beweis

zu (i):

Wir verwenden den Charakterisierungssatz von Cantor für den Ordnungstyp η der rationalen Zahlen. Zunächst ist  abzählbar. Weiter hat 〈 , < 〉 wegen P perfekt keine Endpunkte und ist also unbeschränkt. Die Ordnung 〈 , < 〉 ist dicht, da andernfalls P ein nichttriviales Intervall oder einen isolierten Punkt enthalten würde. Also gilt

o. t.(〈 , < 〉)  =  η.

zu (ii):

Seien a, b  ∈   und inf (P) ≤ a < b ≤ sup(P). Dann gilt:

(+)  ] a, b [ ∩ E = ∅  folgt] a, b [ ∩ P = ∅.

Beweis von (+)

Da P keine Intervalle enthält, existiert ein z  ∈  ] a, b [ mit z  ∈  U. Sei dann I  ∈   mit z  ∈  I. Wegen ] a, b [ ∩ E = ∅ gilt dann ] a, b [ ⊆ I. Wegen I ⊆ U also ] a, b [ ∩ P = ∅. Dies zeigt (+).

Aus (+) folgt, dass jedes x  ∈  P Häufungspunkt von E ist, denn andernfalls existieren y, z  ∈   mit y < x < z und ] y, x [ ∩ P = ] x, z [ ∩ P = ∅, und dann ist x ein isolierter Punkt von P, Widerspruch!

zu (iii):

Die Richtung von links nach rechts ist trivial. Sei also x  ∈  P, x ≠ inf (P), und sei x  ∉  R. Annahme sup({ a  ∈  E | a < x }) < x. Dann existiert nach (+) ein y < x mit inf (P) < y und ] y, x [ ∩ P = ∅. Dann ist aber ] y, x [ ⊆ U, und wegen x  ∈  P ist dann notwendig x  ∈  R, Widerspruch.

zu (iv):

Analog zu (iii).

 Aus diesem Resultat über den Ordnungstyp der Zwischenräume von C-artigen Mengen folgt nun, dass C-artige Mengen selbst immer den Ordnungstyp ξ der Cantormenge haben.

Satz (Ordnungstyp der C-artigen Mengen)

Sei P ⊆  eine C-artige Menge. Dann ist o. t.(〈 P, < 〉) = ξ.

Beweis

Sei  die Intervallzerlegung von [ inf (P), sup(P) ] − P, und sei 𝒥 die Intervallzerlegung von [ 0, 1 ] − C. Weiter seien E und F die Mengen der Grenzpunkte der Intervalle in  bzw. 𝒥. Nach dem Satz oben existiert ein Ordnungsisomorphismus f :   𝒥 (bzgl. der Intervallordnungen auf  und 𝒥). Wir definieren einen Ordnungsisomorphismus g : E  F durch

g(a) = a′, g(b) = b′  falls] a, b [  ∈   und f(] a, b [) = ] a′, b′ [.

Weiter definieren wir h : P  C durch

h(x)=g(x),falls xE,inf(C),falls x=inf(P),sup({g(a)|aE,a<x}),falls xPE,xinf(P).

Seien x, y  ∈  P, x < y. Existieren z1, z2  ∈  E mit x < z1 < z2 < y, so gilt

h(x)  ≤  h(z1)  =  g(z1)  <  g(z2)  =  h(z2)  ≤  h(y).

Andernfalls gilt aber ] x, y [  ∈  , also x, y  ∈  E, und dann ist

h(x)  =  g(x)  <  g(y)  =  h(y).

Also ist h ordnungstreu und injektiv.

h ist aber auch surjektiv:

Sei hierzu y  ∈  C. Ist y  ∈  F oder y = inf (C), so ist offenbar y  ∈  rng(h). Andernfalls gilt nach dem Satz oben y = sup({ a  ∈  F | a < y }). Sei dann

x  =  sup({ a  ∈  E | g(a) < y }).

Dann ist h(x) = y. Also ist h : P  C ein Ordnungsisomorphismus, und damit gilt

o. t.(〈 P, < 〉)  =  o. t.(〈 C, < 〉)  =  ξ.

 Hieraus erhalten wir nun leicht:

Korollar (Mächtigkeit der perfekten Mengen)

Sei P ⊆  perfekt und nichtleer. Dann gilt |P| = ||.

Beweis

Enthält P ein Intervall I = [ a, b ], a < b, so ist |P| = || wegen |I| = ||. Andernfalls seien x  ∈  P und a, b  ∈   mit a, b  ∉  P und a < x < b. Dann ist der Durchschnitt P ∩ [ a, b ] C-artig, also ordnungsisomorph zur Cantormenge C. Insbesondere also |P ∩ [ a, b ]| = |C| = ||, und damit |P| = ||.

Korollar (Mächtigkeiten der abgeschlossenen Mengen)

Sei P ⊆  abgeschlossen. Dann ist P abzählbar oder es gilt |P| = ||.

Beweis

Sei P abgeschlossen und überabzählbar, und sei P = P* ∪ A die Cantor-Bendixson-Zerlegung von P. Dann ist P* ⊆ P nichtleer und perfekt. Also |P*| = ||, und damit |P| = ||.

Cantor (1884b):

„Wir haben also den folgenden Satz:

Eine unendliche abgeschlossene lineare Punktmenge hat entweder die erste Mächtigkeit [ist abzählbar unendlich] oder sie hat die Mächtigkeit des Linearkontinuums … 

 Dass dieser merkwürdige Satz eine weitere Gültigkeit auch für nicht abgeschlossene lineare Punktmengen und ebenso auch für alle n-dimensionalen Punktmengen hat, wird in späteren Paragraphen bewiesen werden … 

 Hieraus wird … geschlossen werden, dass das Linearkontinuum die Mächtigkeit der zweiten Zahlenklasse (II.) hat [ d. h. || = 1 ].

Halle, 15. Novbr. 1883.

(Fortsetzung folgt).“

 Cantor hat hier also die Lösung des Kontinuumsproblems angekündigt. Und aus dem Satz über die Mächtigkeit der abgeschlossenen Teilmengen von  kann man in der Tat die Hoffnung schöpfen, das Kontinuumsproblem lösen zu können. Cantor hatte folgendes Ziel im Auge:

Konstruiere eine beliebige abgeschlossene Menge P der kleinsten überabzählbaren Mächtigkeit 1!

 Dann hat P als überabzählbare abgeschlossene Menge einen nichtleeren perfekten Kern, also gilt |P| = ||. Andererseits gilt nach Konstruktion |P| = 1. Also ist die Mächtigkeit des Kontinuums kleinstmöglich, und die Kontinuumshypothese ist bewiesen.

 Die Konstruktion einer abgeschlossenen Menge P ⊆  der Mächtigkeit 1 erscheint nicht unmöglich. Man wirft überabzählbar viele Punkte auf die Linie , sodass möglichst wenig Häufungspunkte entstehen, die man wegen der Abgeschlossenheitsforderung immer mit dazu nehmen muss. Um isolierte Punkte braucht man sich nicht zu kümmern … 

 Es wäre ein schöner, trickreicher, wahrhaft Cantorscher Beweis der Kontinuumshypothese gewesen, und ein krönender Höhepunkt eines Lebenswerks. Es ist eine Schande, dass es nicht funktioniert!