Die Mächtigkeiten abgeschlossener Mengen: zweiter Beweis
Obige Darstellung entspricht im Wesentlichen Cantors originalem Beweis von 1884, dass überabzählbare abgeschlossene Teilmengen von ℝ gleichmächtig zu ℝ sind. Wir geben noch einen weiteren Beweis dieses Satzes, der die Ergebnisse über den Ordnungstyp ℝ heranzieht und den Begriff der perfekten Mengen nicht verwendet.
Hierzu zunächst zwei für sich interessante Hilfssätze. Der erste zeigt, dass jede überabzählbare Teilmenge A von ℝ einen Punkt besitzt, der A in einen überabzählbaren linken und einen überabzählbaren rechten Teil zerlegt. Der zweite Satz nutzt dann dieses Resultat, um eine Teilmenge Q von A zu konstruieren, die dicht ist unter der von den reellen Zahlen ererbten Ordnung.
Satz (Aufspaltung überabzählbarer Teilmengen von ℝ)
Seien a, b ∈ ℝ, und sei P ⊆ [ a, b ] überabzählbar. Dann existiert ein p ∈ P derart, dass [ a, p ] ∩ P und [ p, b ] ∩ P überabzählbar sind.
Beweis
Wir setzen:
L = { x ∈ ℝ | a ≤ x, [ a, x ] ∩ P ist abzählbar } ,
R = { x ∈ ℝ | x ≤ b, [ x, b ] ∩ P ist abzählbar }.
Ist nun 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 eine streng monoton wachsende Folge mit xn ∈ L für alle n ∈ ℕ, und ist x = sup({ xn | n ∈ ℕ }), so ist
[ a, x [ ∩ P = ⋃n ∈ ℕ [ a, xn ] ∩ P
abzählbar, und damit x ∈ L. Also gilt sup(L) ∈ L. Analog ist inf (R) ∈ R. Dann existiert aber ein p ∈ P mit sup(L) < p < inf (R), denn andernfalls wäre P = ([ a, sup(L) ] ∩ P) ∪ ([ inf (R), b ] ∩ P) abzählbar. Wegen p ∉ L, R sind dann [ a, p ] ∩ P und [ p, b ] ∩ P überabzählbar.
Satz (Existenz abzählbarer dichter Teilordnungen)
Sei P ⊆ ℝ überabzählbar. Dann existiert ein Q ⊆ P mit o. t.(〈 Q, < 〉) = η.
Beweis
Seien a, b ∈ ℝ derart, dass [ a, b ] ∩ P überabzählbar ist (a, b existieren, da sonst P = ⋃n ∈ ℕ P ∩ [ -n, n ] abzählbar wäre). Wir definieren rekursiv endliche Mengen Qn ⊆ P ∪ { a, b } für n ∈ ℕ, die insbesondere die Eigenschaft haben:
(+) Sind x, y ∈ Qn, x < y, so ist [ x, y ] ∩ P überabzählbar.
Sei Q0 = { a, b }. Dann gilt (+) für Q0. Sei Qn definiert für ein n ∈ ℕ, und sei
Qn = { x0, … , xk } mit x0 < … < xk.
Nach (+) und dem Satz oben können wir für jedes i ∈ ℕ mit 0 ≤ i < k ein pi ∈ P wählen derart, dass [ xi, pi ] ∩ P und [ pi, xi + 1 ] ∩ P überabzählbar sind. Wir setzen dann
Qn + 1 = Qn ∪ { p0, … , pk − 1 }.
Dann gilt (+) für Qn + 1. Sei nun
Q = ⋃n ∈ ℕ Qn − { a, b }.
Dann ist Q ⊆ P abzählbar, unbeschränkt und dicht, also o. t.(〈 Q, < 〉) = η.
Da die Dedekind-Vervollständigung einer Ordnung des Typs η die Mächtigkeit der reellen Zahlen besitzt, erhalten wir hieraus:
Korollar (Mächtigkeiten der abgeschlossenen Mengen)
Sei P ⊆ ℝ abgeschlossen und überabzählbar. Dann existiert ein R ⊆ P mit o. t.(〈 R, < 〉) = θ. Insbesondere gilt also |P| = |ℝ|.
Beweis
Wegen P überabzählbar existiert ein Q ⊆ P mit o. t.(〈 Q, < 〉) = η. Sei 〈 𝒟(Q), < 〉 die Dedekind-Vervollständigung von 〈 Q, < 〉. Dann gilt o. t.(〈 𝒟(Q), < 〉) = θ (vgl. Kap. 10), also |𝒟(Q)| = |ℝ|. Wir identifizieren einen Schnitt (L, R) in 〈 Q, < 〉 mit sup(L) ∈ ℝ. Dann ist 𝒟(Q) ⊆ ℝ. Wegen P abgeschlossen und Q ⊆ P ist dann aber 𝒟(Q) ⊆ P, und dann ist R = 𝒟(Q) wie gewünscht.
Damit haben wir auf zwei verschiedenen Wegen die möglichen Mächtigkeiten der abgeschlossenen Mengen bestimmt. Der erste Weg analysierte die Cantormenge im Detail und ergab ein klares Bild über die Natur nirgends dichter perfekter Mengen. Will man lediglich |P| = |ℝ| für nichtleere perfekte P zeigen, so kann man den ersten Weg wie folgt kondensieren:
Übung
Sei P nichtleer und perfekt. Zeigen Sie |P| = |ℝ|, indem Sie die Cantormenge ordnungstreu in P einbetten.
[Konstruieren Sie rekursiv abgeschlossene nichtleere Intervalle Is für endliche 0-2-Folgen s : n → { 0, 2 } mit:
Is⁀0, Is⁀2 ⊆ Is, sup(Is⁀0) < inf (Is⁀2), Is ∩ P ≠ ∅, sup(Is) − inf (Is) ≤ 1/2|dom(s)|,
wobei s⁀i = s ∪ { (n, i) } für i ∈ { 0, 2 } die Verlängerung von s : n → { 0, 2 } um i ist. Betrachte dann xg = ⋂n < ω Ig|n ∈ P für g : ℕ → { 0, 2 }.]
Eine Verfeinerung der Konstruktion liefert wieder einen Ordnungsisomorphismus zwischen der Cantormenge und einer nirgends dichten nichtleeren perfekten Menge P.