Teilmengen von ℝ mit der Scheeffer-Eigenschaft
Wir haben gezeigt, dass alle offenen und alle abgeschlossenen Mengen die Scheeffer-Eigenschaft besitzen. Weiter haben wir eine Menge ohne diese Eigenschaft konstruiert − in sehr abstrakter Weise. Es stellt sich die Frage, welchen Teilmengen von ℝ die Scheeffer-Eigenschaft noch zukommt. Alle diese Mengen sind dann abzählbar oder von der Mächtigkeit der reellen Zahlen, d. h. (CH) gilt für alle Mengen mit der Scheeffer-Eigenschaft.
In der Tat bestätigt sich die Intuition: Einfache Teilmengen von ℝ haben die Scheeffer-Eigenschaft. Cantors Resultat über die abgeschlossenen Mengen ist in der Folgezeit mehrfach verallgemeinert worden. Es gilt:
(+) Alle Borelmengen haben die Scheeffer-Eigenschaft.
Diesen Satz haben unabhängig voneinander Hausdorff und Pavel Alexandrov (1896 − 1982) im Jahre 1916 gezeigt. 1903 hatte William Young (1863 − 1942) die Scheeffer-Eigenschaft für 𝒢δ-Mengen nachgewiesen, und Hausdorff konnte 1914 den Satz von Young auf 𝒢δ σ δ-Mengen erweitern.
Für die Borelmengen ist also Cantors Kontinuumshypothese beweisbar richtig. Die Frage ist nun, ob es noch weitere „einfache“ Teilmengen von ℝ gibt, für die das Resultat von Hausdorff-Alexandrov noch einmal erweitert werden könnte. In der Tat gibt es eine natürliche Klasse von Punktmengen hinter den Borelmengen: An die Borel-Hierarchie schließen sich die sog. projektiven Mengen an. Hier gerät die Scheeffer-Eigenschaft zwar ins Reich der Unabhängigkeit der üblichen Mathematik, dafür aber in den Einfluss von großen Kardinalzahlen. Wir geben im Folgenden einen kurzen Überblick über die wichtigsten Definitionen und Ergebnisse.
Die einfachste Erweiterung der Borelmengen um komplexere definierbare Mengen bilden die sog. analytischen Mengen (bzw. dual die koanalytischen Mengen). Wir geben drei äquivalente Definitionen dieser Mengen kurz an.
Man definiert zunächst in naheliegender Weise den Begriff „A ⊆ ℝn ist abgeschlossen“ für 1 ≤ n < ω.
Eine Punktmenge A ⊆ ℝn in einem n-dimensionalen Raum ist abgeschlossen, wenn sie alle ihre Häufungspunkte enthält. Ein Häufungspunkt von A ist ein Punkt x ∈ ℝn, für den gilt: Jede n-dimensionale Kugel um x enthält einen Punkt der Menge A − { x }.
Die offenen Mengen in ℝn sind wieder die Komplemente der abgeschlossenen Mengen in ℝn. Analog zum Fall n = 1 definiert man dann weiter die Borel-Hierarchie, und erhält so den Begriff „A ⊆ ℝn ist eine Borelmenge“.
Ist P ⊆ ℝn + 1 eine Punktmenge des (n + 1)-dimensionalen Kontinuums, so ist die Projektion von P auf den Raum ℝn definiert durch:
Pr(P) = { (x1, …, xn) ∈ ℝn | es gibt ein y mit (x1, …, xn, y) ∈ P }.
Definition (analytisch)
Sei A ⊆ ℝ. A heißt analytisch, Suslinsch oder eine Σ11-Menge, falls gilt:
A = Pr(B) für eine Borelmenge B ⊆ ℝ2.
Statt „B Borelsch“ genügt bereits „B ist 𝒢δ“, d. h. B ist ein abzählbarer Schnitt von offenen Mengen des ℝ2. Zieht man die Theorie über dem Baireraum statt ℝ auf, so genügt bereits „B ist abgeschlossen“.
Äquivalent ist die folgende Definition, die den Umweg über höhere Dimensionen vermeidet:
A ist analytisch, falls A = f ″ B für eine Borelmenge B und ein stetiges f : ℝ → ℝ.
Die analytischen Mengen sind also die Bilder der Borelmengen unter stetigen Funktionen.
Die analytischen Mengen sind nicht abgeschlossen unter Komplementbildung, und man betrachtet daher:
Definition (koanalytisch)
Sei A ⊆ ℝ. A heißt koanalytisch oder eine Π11-Menge, falls ℝ − A analytisch ist.
Suslin hat 1917 gezeigt, dass die Borelmengen auf ℝ genau diejenigen Mengen sind, die sowohl analytisch als auch koanalytisch sind (Satz von Suslin). Die Borelmengen lassen sich also aus den analytischen Mengen definieren.
Die analytischen Mengen kann man weiter durch eine originelle Operation aus den abgeschlossenen Mengen von ℝ gewinnen. Sie geht auf Alexandrov und Suslin zurück.
Definition (die 𝒜-Operation)
Sei S = { s | s : n → ℕ für ein n < ω } die Menge der endlichen Folgen von natürlichen Zahlen. Für jedes s ∈ S sei As ⊆ ℝ. Dann setzen wir:
𝒜(〈 As | s ∈ S 〉) = ⋃f ∈ ℕℕ ⋂n ∈ ℕ Af|n.
Das sieht wilder aus als es ist: Man bestückt alle Knoten des sich an jeder Stelle unendlich verzweigenden Baumes S mit einer Teilmenge von ℝ. Für jeden Pfad f ∈ ℕℕ durch den Baum wird nun der Schnitt der Mengen gebildet, die auf dem Pfad liegen, und alle so erhaltenen Schnitte − ℝ-viele − werden vereinigt.
Die Mengen, die man durch die 𝒜-Operation erhalten kann, wenn man den Baum mit abgeschlossenen Teilmengen von ℝ bestückt, sind nun genau die analytischen Mengen! Man erhält nicht mehr, wenn man den Baum mit Borelmengen bestückt anstatt mit abgeschlossenen Mengen. Auch eine Bestückung mit analytischen Mengen liefert wieder analytische Mengen, d. h. die analytischen Mengen sind abgeschlossen unter der 𝒜-Operation.
Die analytischen und koanalytischen Mengen bilden nur die erste Stufe einer Hierarchie der Länge ω, der sog. projektiven Hierarchie von Nikolai Lusin (1883 − 1950) und Wacław Sierpiński (1882 − 1969) aus dem Jahre 1925, die in der deskriptiven Mengenlehre eine zentrale Position einnimmt.
Definition (projektive Mengen)
A ⊆ ℝ heißt projektiv, falls A durch iterierte Projektion und Komplementbildung aus einer Borelmenge B ⊆ ℝn für ein 1 ≤ n < ω gewonnen werden kann.
Es ergibt sich eine Hierarchie der Länge ω durch Zählen von Projektionen und Komplementbildungen. Für A ⊆ ℝn sei C(A) = ℝn − A. Dann setzt man:
A ∈ Σ11, | falls A = Pr(B), |
A ∈ Π11, | falls A = C(Pr(B)), |
A ∈ Σ12, | falls A = Pr(C(Pr(B))), |
A ∈ Π12, | falls A = C(Pr(C(Pr(B)))), |
A ∈ Σ13, | falls A = Pr(C(Pr(C(Pr(B))))), usw., |
für eine Borelmenge B eines geeignet dimensionalen Raumes ℝn. A ist also eine projektive Menge, falls A ∈ ⋃1 ≤ n < ω Σ1n (= ⋃1 ≤ n < ω Π1n). Die Hierarchie ist echt, es gilt Σ1n ∪ Π1n ⊂ Σ1n + 1 ∩ Π1n + 1 für alle 1 ≤ n < ω.
Die Definition liefert natürlich allgemeiner einen Begriff von „A ⊆ ℝk ist projektiv“, und eine zugehörige Hierarchie. So ist etwa A ⊆ ℝ3 analytisch, falls A = Pr(B) für eine Borelmenge B ⊆ ℝ4, usw.
Alternativ kann man die projektive Hierarchie auch durch „Bild unter einer stetigen Funktion“ und Komplementbildung aufbauen. Induktiv definiert man für alle n ≥ 1:
Σ1n + 1 = { f ″A | A ∈ Π1n, f : ℝ → ℝ stetig },
Π1n + 1 = { ℝ − A | A ∈ Σ1n + 1 }.
Zurück zur Scheeffer-Eigenschaft, und damit letztendlich zu den großen Kardinalzahlen! Alexandrov und Suslin haben 1917 gezeigt:
(++) Die analytischen Mengen haben die Scheeffer-Eigenschaft.
Dagegen kann man in der üblichen Mathematik nicht mehr zeigen, dass auch alle koanalytischen Mengen die Scheeffer-Eigenschaft haben! Gödel zeigte nämlich, dass es in seinem Modell L eine überabzählbare koanalytische Menge gibt, die keine nichtleere perfekte Teilmenge besitzt. Dagegen konstruierte Solovay in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Hilfe einer unerreichbaren Kardinalzahl ein Modell, in welchem sogar alle projektiven Mengen die Scheeffer-Eigenschaft besitzen.
Gültigkeit in Modellen ist hübsch, besser sind aber direkte Implikationen. Eines der großen Resultate der jüngeren Mengenlehre ist nun das Martin-Steel-Resultat (1989). Die Aussage kann man sehr grob etwa so formulieren:
(+++) | Existieren genügend starke, aber immer noch gut verstandene große Kardinalzahlen, so haben die projektiven Mengen alle erdenklichen Regularitätseigenschaften. Insbesondere hat jede projektive Menge die Scheeffer-Eigenschaft, und ist also abzählbar oder gleichmächtig mit ℝ. |
Der Leser vergleiche dies mit Gödels Resultat über L, wo bereits für eine koanalytische Menge die Scheeffer-Eigenschaft verletzt ist. Mit der Trommel hervorzuheben ist, dass der Satz nicht über Modelle redet: Es handelt sich um eine direkte Implikation, nicht um eine relative Gültigkeit in einem Modell, und darin unterscheidet sich (+++) wesentlich etwa von dem Ergebnis von Solovay, das nur die relative Widerspruchsfreiheit der Hypothese „alle projektiven Mengen haben die Scheeffer-Eigenschaft“ liefert.
„Genügend stark“ ist von Donald Martin und John Steel genau bestimmt worden, die Annahme lautet in etwa „es existieren unendlich viele Woodin-Kardinalzahlen“. Eine messbare Kardinalzahl liefert bereits Regularität (insb. die Scheeffer-Eigenschaft) für Σ12-Mengen (Martin 1970). Für höhere Komplexitäten muss man dann die viel größeren Woodin-Kardinalzahlen bemühen. Es gibt eine übergeordnete Super-Regularitätseigenschaft, die sog. Determiniertheit von Teilmengen von ℝ. „Projektive Determiniertheit“ besagt, dass alle projektiven Mengen diese Eigenschaft haben, und projektive Determiniertheit folgt aus der Existenz von unendlich vielen Woodin-Kardinalzahlen.
Neben „A hat die Scheeffer-Eigenschaft“ gibt es noch zwei weitere prominente Regularitätseigenschaften von Teilmengen von ℝ: Die eine ist „A ist Lebesgue-messbar“, d. h. „es gibt eine Borelmenge B mit A Δ B = (A − B) ∪ (B − A) hat Längenmaß 0“ (vgl. die Definition oben), und „A hat die Baire-Eigenschaft“, d.h. „es gibt ein offenes U mit A Δ U ist mager“. Es zeigt sich:
(a) | A ⊆ ℝ ist genau dann Lebesgue-messbar, wenn A = F ∪ N für eine ℱσ-Menge F und eine Nullmenge N, |
(b) | A ⊆ ℝ hat genau dann die Baire-Eigenschaft, wenn A = G ∪ M für eine 𝒢δ-Menge G und eine magere Menge M. |
Die Lebesgue-messbaren Mengen und die Mengen mit der Baire-Eigenschaft bilden jeweils eine σ-Algebra. Diese σ-Algebren enthalten die analytischen und koanalytischen Mengen (Lusin 1917). Lebesgue-Messbarkeit und Baire-Eigenschaft für höhere Stufen der projektiven Hierarchie verhalten sich wie die Scheeffer-Eigenschaft, folgen also insbesondere aus der Existenz genügend großer Kardinalzahlen, und gelten nicht in Gödels Modell L. Die Gegenbeispiele in L mit kleinstmöglicher Komplexität sind dabei Δ12-Mengen, wobei Δ12 = Π12 ∩ Σ12.
Eine Bernstein-Menge X für 𝒫 = { P ⊆ ℝ | P nichtleer und perfekt } ist weder messbar noch hat sie die Baire-Eigenschaft: Die ℱσ- und 𝒢δ-Mengen haben die Scheeffer-Eigenschaft, und abzüglich einer Nullmenge bzw. einer mageren Menge sind ein messbares bzw. ein Bairesches X ⊆ ℝ und sein Komplement ℱσ oder 𝒢δ. X oder ℝ − X enthält also eine nichtleere perfekte Teilmenge, falls X messbar ist oder die Baire-Eigenschaft hat.
Borel-Determiniertheit (also Super-Regularität für die Borelmengen) lässt sich noch ohne große Kardinalzahlen zeigen (Martin 1975), und liefert dann ein weitgespanntes Dach über den Sätzen von Hausdorff und Alexandrov betreffend die Scheeffer-Eigenschaft der Σ11-Mengen (und betreffend die Lebesgue-Messbarkeit und Baire-Eigenschaft der Σ11- und Π11-Mengen). Für die Borel-Determiniertheit muss allerdings die mengentheoretische Maschinerie schon ungewöhnlich stark beansprucht werden (Friedman 1971): Es werden die Mengen ℘α(ℝ) für α < ω1 benötigt, um dieses Resultat über Teilmengen von ℝ zeigen zu können.
Zusammenfassend :
(1) | In der üblichen Mathematik lässt sich zeigen: Alle Borelmengen sind determiniert. Alle analytischen Mengen haben die Scheeffer-Eigenschaft. Alle analytischen und koanalytischen Mengen sind Lebesgue-messbar und haben die Baire-Eigenschaft. |
(2) | Die Resultate in (1) sind bestmöglich: In Gödels L gibt es eine koanalytische Menge ohne die Scheeffer-Eigenschaft, und eine Δ12-Menge (also eine Menge, die sowohl Σ12 als auch Π12 ist), die nicht Lebesgue-messbar ist und nicht die Baire-Eigenschaft besitzt. |
(3) | Determiniertheit (und damit alle erdenkliche Regularität) für alle projektiven Mengen folgt aus der Existenz großer Kardinalzahlen (und darüber hinaus auch aus vielen kombinatorischen Prinzipien, etwa aus „𝒞ω1 ist ω1-dicht“). |
Dies ist alles eine längere Geschichte, die zwar in der Gründerzeit der Mengenlehre beginnt, aber lange Jahre über sie hinaus weitergesponnen wurde. Wir belassen es hier also bei diesem kleinen und notgedrungen unhistorischen Ausblick. Die reellen Zahlen bilden eine komplizierte Struktur, die wir nur in Ansätzen verstehen − dies ist vielleicht die Grundbotschaft der Mengenlehre. Zum ersten Mal wurde dies deutlich durch Cantors Punktmengenanalyse, seine Entdeckung der transfiniten Prozesse und seine Kontinuumshypothese. Das den analytischen Rechenmeistern seit Jahrhunderten so vertraut erscheinende Objekt ℝ erweist sich in der Mengenlehre als ein Abgrund. Tief ist der Brunnen der reellen Zahlen. Sollte man ihn nicht unerforschbar nennen? Zuweilen erscheint er als ein unerhört waghalsiges Konstrukt.
Das Buch „Reelle Zahlen. Das klassische Kontinuum und die natürlichen Folgen“ ([Deiser 2007]) greift viele dieser Gesichtspunkte auf. Dort findet sich auch eine Einführung in unendliche Spiele und ein Beweis der Borel-Determiniertheit.
Arthur Schoenflies über nicht perfekt reduzierbare Mengen
„L. Scheeffer hat bereits die Frage aufgeworfen, ob jede nicht abzählbare Menge einen perfekten Bestandteil besitzen müsse [Fußnote hierzu: Acta math. 5 (1884), S. 287.] Dies trifft jedoch nicht zu, wie von F. Bernstein nachgewiesen wurde [Fußnote: Leipz. Ber. 60 (1908), S. 325.] Mengen ohne perfekten Bestandteil bezeichnet er als total imperfekte Mengen. Ihre Existenz ist für den Fall, dass 𝔠 [ = |ℝ| ] > ℵ1 ist, evident. Denn da es Teilmengen des Kontinuums von der Mächtigkeit ℵ1 gibt, und jede perfekte Menge die Mächtigkeit 𝔠 besitzt, so kann eine Teilmenge der Mächtigkeit ℵ1 keinen perfekten Bestandteil enthalten, ist also total imperfekt.
Für den Fall, dass 𝔠 = ℵ1 ist, folgt der Bernsteinsche Satz aus dem S. 210 mitgeteilten Theorem [entspricht dem Satz über die Existenz von Bernstein-Mengen], das er über wohlgeordnete Mengen bewiesen hat. Wir haben dazu das Kontinuum als wohlgeordnete Menge zugrunde zu legen; es stellt dann die Menge W des eben genannten Theorems dar. Jede perfekte Menge ist eine Teilmenge von W, und da sie ebenfalls die Mächtigkeit 𝔠 hat, so ist sie eine Menge wα [wobei 〈 wα | α < 𝔠 〉 eine Aufzählung der nichtleeren perfekten Teilmengen von ℝ ist]. Endlich hat aber auch die Menge aller perfekten Punktmengen des Raumes … die Mächtigkeit 𝔠. Damit sind die Bedingungen des genannten Theorems realisiert, und die Menge A [entspricht X oben], die wir S. 210 aufgestellt haben, ist notwendig total imperfekt, da sie keine Menge wα ganz enthält. Sie hat selbst die Mächtigkeit 𝔠.“
(Arthur Schoenflies 1913, „Entwicklung der Mengenlehre und ihrer Anwendungen“ , S. 361ff.)