Der Satz von Hartogs
Man kann umgekehrt den Vergleichbarkeitssatz von Mächtigkeiten verwenden, um den Wohlordnungssatz zu zeigen. Das Argument ist nicht trivial und braucht einen auch andernorts nützlichen Satz von Friedrich Hartogs (1874 − 1943) aus dem Jahre 1915. Hartogs ist heute eher bekannt für seine Arbeiten zur Funktionentheorie mehrerer komplexer Veränderlicher, aber seine Arbeit von 1915 gehört sicher zum Kulturerbe innerhalb der Mengenlehre. Sie bringt ein neues Argument für die Existenz langer Wohlordnungen. Schwächer als die Frage nach der Wohlordenbarkeit jeder Menge ist:
Kann es eine Menge geben, deren Mächtigkeit größer ist als die Mächtigkeit jeder wohlordenbaren Menge?
Wenn sich jede Menge wohlordnen lässt, so kann es eine solche Menge offenbar nicht geben. Die Frage lässt sich aber ohne den Wohlordnungssatz elementar verneinen, und zusammen mit dem Vergleichbarkeitssatz für Mächtigkeiten erhalten wir einen neuen Beweis für den Wohlordnungssatz.
Satz (Satz von Hartogs)
Sei M eine Menge. Dann existiert eine wohlordenbare Menge W derart, dass non(|W| ≤ |M|) gilt.
Wir schreiben non(|W| ≤ |M|) statt |M| ≤ |W|, da wir den Vergleichbarkeitssatz für Mächtigkeiten nicht verwenden wollen. Ein W mit non(|W| ≤ |M|) ist genau das, was der Satz von Hartogs liefert.
Beweis
Wir setzen
H | = { 〈 A, < 〉 | 〈 A, < 〉 ist eine Wohlordnung und A ⊆ M }. |
W | = H/≡ . |
W ist also die Menge der Äquivalenzklassen der Relation „gleichlang“ auf H.
Wir setzen für 〈 A, < 〉/≡ , 〈 B, < 〉/≡ ∈ W:
〈 A, < 〉/≡ ≺ 〈 B, < 〉/≡ falls 〈 A, < 〉 kürzer als 〈 B, < 〉 ist.
Die Definition von ≺ auf H/≡ hängt nicht von der Wahl der Repräsentanten 〈 A, < 〉 und 〈 B, < 〉 ab. Weiter gilt:
(+) ≺ ist eine Wohlordnung auf H/≡ .
Beweis von (+)
Linearität folgt aus dem Vergleichbarkeitssatz für Wohlordnungen.
Zur Wohlordnungseigenschaft:
e Sei J ⊆ H/≡ , J ≠ ∅, und sei 〈 A, < 〉/≡ ∈ J beliebig. Wir setzen:
B = { x ∈ A | 〈 Ax, < 〉/≡ ∈ J }.
Ist B = ∅, so ist offenbar 〈 A, < 〉/≡ das ≺-kleinste Element von J. Andernfalls sei x das <-kleinste Element von B in 〈 A, < 〉. Dann ist 〈 Ax, < 〉/≡ ∈ J das ≺-kleinste Element von J.
Weiter gilt offenbar für alle 〈 A, < 〉/≡ ∈ W:
(++) 〈 W〈 A, < 〉/≡ , ≺ 〉 = 〈 { 〈 Ax, < 〉/≡ | x ∈ A }, ≺ 〉 ≡ 〈 A, < 〉.
[W〈 A, < 〉/≡ ist das durch 〈 A, < 〉/≡ gegebene Anfangsstück von 〈 W, ≺ 〉, also identisch mit { Y ∈ W | Y ≺ 〈 A, < 〉/≡ }.]
Annahme, es gibt ein injektives f : W → M. Dann ist 〈 W, ≺ 〉 ≡ 〈 A, < 〉 für ein 〈 A, < 〉 ∈ H, denn f induziert eine zu 〈 W, ≺ 〉 gleichlange Wohlordnung auf A = rng(f) ⊆ M. Nach (++) ist dann
〈 W, ≺ 〉 ≡ 〈 W〈 A, < 〉/≡ , ≺ 〉,
also 〈 W, ≺ 〉 ⊲ 〈 W, ≺ 〉, Widerspruch! Also gilt non(|W| ≤ |M|).
Der Leser lasse sich durch die Flut von „/≡ “ nicht irritieren, der Beweis hat eine einfache Struktur. Sieht man jede Äquivalenzklasse von H/≡ als (dicken) Punkt an, so werden diese Punkte durch ≺ natürlicherweise wohlgeordnet. Jede Wohlordnung 〈 A, < 〉 mit A ⊆ M repäsentiert über die − wieder in natürlicher Weise wohlgeordnete − Reihe 〈 Ax, < 〉, x ∈ A, ein Anfangsstück dieser Punkte, und repräsentiert selbst einen Punkt von 〈 W, ≺ 〉. Da 〈 W, ≺ 〉 wie jede Wohlordnung nicht gleichlang zu einem ihrer Anfangsstücke sein kann, kann kein 〈 A, < 〉 die Länge von 〈 W, ≺ 〉 haben.
Übung
Sei M eine Menge. Dann existiert eine wohlordenbare Menge W derart, dass non(|W| ≤* |M|) gilt, d. h. es gibt kein surjektives f : M → W.
[ohne „ein …“: es gilt |N| ≤* |M| folgt |N| ≤ |℘(M)| für alle M, N.]
Definition (Hartogswohlordnung)
Sei M eine Menge. Dann heißt die im Beweis konstruierte Wohlordnung 〈 W, ≺ 〉 die Hartogswohlordnung von M, in Zeichen ℋ(M) = 〈 W, ≺ 〉.
Mit dem Satz von Hartogs folgt nun leicht:
Beweis des Wohlordnungssatzes mit Hilfe des Vergleichbarkeitssatzes
Sei M eine Menge, und sei ℋ(M) = 〈 W, ≺ 〉 die Hartogswohlordnung von M. Dann gilt non(|W| ≤ |M|). Nach dem Vergleichbarkeitssatz für Mächtigkeiten gilt also |M| ≤ |W|. Sei also f : M → W injektiv. Dann ist
< = { (x, y) ∈ M × M | f (x) ≺ f (y) }
eine Wohlordnung auf M.
Hartogs (1915):
„Im Folgenden gebe ich für den Satz, dass jede Menge wohlgeordnet werden kann, einen Beweis, der sich von den beiden Zermeloschen Beweisen [1904, 1908] dadurch unterscheidet, dass das sogenannte Auswahlprinzip [Definitionen der Form ‚ein …‘] bei ihm nicht zur Anwendung kommt, dafür jedoch eine Prämisse anderer Art benutzt wird, nämlich die Annahme der ‚Vergleichbarkeit der Mengen‘…
Wird von den drei genannten Prinzipien [Auswahlprinzip, Vergleichbarkeit, Wohlordenbarkeit] keines vorausgesetzt, so liefern die folgenden Betrachtungen immer noch einen Nachweis für den Satz, dass es keine Menge geben kann, deren Mächtigkeit größer ist als die Mächtigkeit jeder beliebigen wohlgeordneten Menge**) …
**) Dieser Satz ist meines Wissens ohne Anwendung des Auswahlprinzips bisher noch nicht streng bewiesen worden.“
In diesem Zusammenhang ist eine Fußnote von Arthur Schoenflies (1853 − 1928) nicht ohne Witz, und Hartogs bezieht sich möglicherweise auf diese Stelle:
Schoenflies (1908, S. 32f.):
„Es liegt nahe, Mengen, deren Mächtigkeit jedes Aleph übertrifft [deren Mächtigkeit die jeder wohlordenbaren Menge übertrifft], als widerspruchsvoll zu betrachten. Aber dies hängt andererseits so enge mit den nicht hinlänglich geklärten Problemen der Wohlordnung und der Vergleichbarkeit zusammen, dass ich vorziehe, mich dahin auszusprechen, es liege hier noch eine Lücke der Erkenntnis vor. Immerhin scheint es mir zweckmäßig jede Berufung auf die Existenz oder Nichtexistenz derartiger Mengen zu vermeiden.“
Im Jahr 1908 war das Problem der Wohlordnung und der Vergleichbarkeit eigentlich schon geklärt, aber vielerorts bestand immer noch Skepsis gegenüber Zermelos Beweis des Wohlordnungssatzes. Schoenflies diagnostiziert eine Lücke der Erkenntnis, vermutet sie aber am falschen Ort: Hartogs zeigt, dass keine Menge existiert, deren Mächtigkeit hinter dem Reich der wohlordenbaren Mengen liegt, und sein Argument der Verschmelzung aller auf Teilmengen einer Menge existierenden Wohlordnungen zu einer neuen Wohlordnung hat mit dem Vergleichbarkeitssatz nichts zu tun, und es ist frei von abstrakten Auswahlakten.
Eine weitere Anwendung des Satzes von Hartogs ist ein elementarer Beweis des Wohlordnungssatzes mit Hilfe der Blackbox Multiplikationssatz.
Beweis des Wohlordnungssatzes mit Hilfe des Multiplikationssatzes
Sei M eine beliebige Menge, und sei 〈 W, < 〉 eine Wohlordnung mit non(|W| ≤ |M|). Ohne Einschränkung ist W unendlich. Dann gilt
|M × W| ≤ |M2 ∪ M × W ∪ W × M ∪ W2| = |(M ∪ W)2| = |M ∪ W|,
wobei im letzten Schritt der Multiplikationssatz verwendet wird. Nach dem Satz von Bernstein (1. 5) gilt also |M| ≤ |W| oder |W| ≤ |M|. Der Fall |W| ≤ |M| ist nach Wahl von W unmöglich, also gilt |M| ≤ |W|. Wie oben induziert eine Injektion f : M → W eine Wohlordnung auf M.
Der Beweis ist elementar in dem Sinne, dass Auswahlakte nicht verwendet werden müssen: Der Leser, der den Beweis des Satzes von Bernstein in 1. 5 betrachtet, wird sehen, dass die dortige Verwendung von „ein …“ eine Auswahl innerhalb der Menge N betrifft. Hier ist N = W wohlordenbar, sodass „ein …“ durch „das <-kleinste …“ ersetzt werden kann.
Dass die Kombination des Satzes von Bernstein mit dem Satz von Hartogs den Wohlordnungssatz elementar aus dem Multiplikationssatz liefert, hat Tarski bemerkt [Tarski 1924]. Der Trick mit der binomischen Gleichung findet sich ebenfalls schon in der Dissertation von Bernstein 1901 [vgl. Bernstein 1905, S. 132].
Der Beweis zeigt eine lokale Version des Satzes: Gilt |(M ∪ W)2| = |M ∪ W| für eine einzige Wohlordnung W, die mindestens so lang ist wie die Hartogswohlordnung ℋ(M), so ist M wohlordenbar.
In der axiomatischen Mengenlehre lesen sich unsere „mit Hilfe von …“-Resultate dann insgesamt wie folgt: Auswahlaxiom, Wohlordnungssatz, Vergleichbarkeitssatz und Multiplikationssatz sind über den restlichen Axiomen äquivalent (vgl. hierzu Abschnitt 3).
Wir werden den Satz von Hartogs im übernächsten Kapitel noch einmal verwenden.