Kardinalzahlarithmetik, Nachfolger und Suprema
Die Arithmetik mit Kardinalzahlen können wir nun wie in Kapitel 1. 12 entwickeln, wobei sich vieles vereinfacht, da nun die Kardinalzahlen 𝔞 = κ mit einer Wohlordnung versehen sind. Die arithmetischen Operationen definieren wir etwas direkter als früher wie folgt:
Definition (Addition, Multiplikation und Exponentiation von Kardinalzahlen)
Seien κ und λ Kardinalzahlen. Wir definieren die Summe κ + λ, das Produkt κ · λ und die Exponentiation κλ von κ und λ wie folgt:
κ + λ | = |W(κ) × { 0 } ∪ W(λ) × { 1 }|, |
κ · λ | = |W(κ) × W(λ)|, |
κ λ | = |W(λ)W(κ)|. |
Der Leser möge sich nun die Kardinalzahlarithmetik aus 1. 12 in Erinnerung rufen mit Ausnahme aller Argumente, die Zermelosysteme benutzen. Die anderen Beweise gelten wörtlich, wobei wir nun griechische Buchstaben statt 𝔞, 𝔟, 𝔠 verwenden, denn Kardinalzahlen sind nun spezielle Ordinalzahlen. Die Argumente mit Zermelosystemen werden nun trivial mit Ausnahme des Multiplikationssatzes, den wir später noch einmal beweisen. Insbesondere bekommen wir nun durch die Einbettung der Kardinalzahlen in das ordinale Rückgrat der Mengenwelt die Existenz von Nachfolgerkardinalzahlen und die Existenz von Suprema von Mengen von Kardinalzahlen geschenkt.
Der Leser, der 1.12 nicht ausgelassen hat, wird rückblickend erkennen, dass wir dort die wohlgeordnete Struktur der Kardinalzahlen bereits gezeigt haben, und dass nun die Kardinalzahlen ein Abbild der Ordinalzahlen innerhalb der Ordinalzahlen selbst bilden. Im nächsten Kapitel kommen wir darauf noch zurück.
Zu jeder Kardinalzahl κ finden wir eine größere Kardinalzahl, z. B. 2κ. Also können wir definieren:
Definition (kardinaler Nachfolger)
Sei κ eine Kardinalzahl. Dann ist der (kardinale) Nachfolger von κ, in Zeichen κ+, definiert durch:
κ+ = „die kleinste Kardinalzahl μ mit κ < μ“.
Die Kontinuumshypothese und ihre Verallgemeinerung können wir nun prägnant schreiben als:
(CH) | Es gilt 2ω = ω+. |
(GCH) | Für alle unendlichen Kardinalzahlen κ gilt 2κ = κ+. |
Die auf ω folgende Kardinalzahl ist in der Mengenlehre von zentraler Bedeutung und verdient eine eigene Definition:
Definition (ω1)
Wir setzen ω1 = ω+.
Eine Ordinalzahl α heißt abzählbar, falls W(α) abzählbar ist. Dann gilt:
ω1 | = „die kleinste überabzählbare Ordinalzahl“ |
= „die kleinste überabzählbare Kardinalzahl“. |
Neben ω1 ist auch die Cantorsche Aleph-Bezeichnung ℵ1 [gelesen: Aleph 1] gebräuchlich. Weiter haben wir
ℵ0 = ω0 = ω = ℕ.
ℵ1 = ℵ0+.
Für Cantor bezeichnen Omegas und Alephs verschiedene Dinge: ℵ0 = ℕ ist die Kardinalität der natürlichen Zahlen im Sinne einer „zweifachen Abstraktion“ von der Natur der Elemente und ihrer Ordnung; dagegen ist ω = ℕ der Ordnungstypus der natürlichen Zahlen im Sinne einer einfachen Abstraktion von der Natur der Elemente unter Beibehaltung ihrer Ordnung. Cantor sieht ℵ0 auch als die Kardinalzahl des Ordnungstypus ω an, was aus seiner Definition der Kardinalzahl einer Menge nicht hervorgeht, was er aber später explizit festhält (1895, § 7). Allgemein ist für eine Ordinalzahl α dann α die Kardinalität von α, wobei der Einzelstrich die lediglich noch fehlende einfache Abstraktion von der Ordnung anzeigt. Für Cantor ist dann ℵ1 = ω1.
In der Mengenlehre werden zuweilen axiomatische Theorien untersucht, in denen nur gewisse Mengen wohlordenbar sind. In diesem Fall verwendet man Alephs für die Kardinalitäten von wohlordenbaren Mengen, und Frakturbuchstaben 𝔞, 𝔟, 𝔠 für beliebige Kardinalzahlen.
Die Kontinuumshypothese lautet nun:
(CH) Es gilt 2ω = ω1.
Übung
Es gilt ω1ω = 2ω.
[ ω1ω ≤ (2ω)ω = 2ω · ω = 2ω. ]
Wir können die Hypothese auch schreiben als |ℝ| = ω1.
Eine vielleicht nützliche Vorstellung ist: ω1 ist winzig, wenn wir es als ein Mitglied aller Kardinalzahlen betrachten. ω1 ist dagegen weit weg, wenn wir versuchen, es durch Zählen 0, 1, 2, …, ω, ω + 1, … zu erreichen. Das Supremum einer Reihe von abzählbaren Ordinalzahlen α0 < α1 < … < αn < …, n ∈ ℕ, ist eine abzählbare Ordinalzahl, kann also nie ω1 sein. Wir brauchen also überabzählbar viele Schritte, um ω1 von unten zu erreichen.
Weiter setzen wir ℵ2 = ω2 = ω1+, und allgemein ℵn + 1 = ωn + 1 = ωn+ für natürliche Zahlen n. Dann bilden also
ω0, ω1, ω2, … , ωn, …
ein Anfangsstück der Reihe der unendlichen Kardinalzahlen. Der Limes dieser Folge ist wieder eine Kardinalzahl. Wir zeigen hierzu allgemein, dass das ordinale Supremum einer Menge von Kardinalzahlen wieder eine Kardinalzahl ist:
Satz (Suprema von Kardinalzahlen)
Sei A eine nichtleere Menge von Kardinalzahlen. Dann ist sup(A) eine Kardinalzahl.
Beweis
Die Aussage ist klar, falls sup(A) ∈ A. Sei also μ = sup(A) ∉ A. Annahme, μ ist keine Kardinalzahl. Dann existiert ein α < μ mit |W(α)| = |W(μ)|. Wegen μ = sup(A) existiert nun ein κ ∈ A mit α < κ. Trivialerweise gilt |W(α)| ≤ |W(κ)| ≤ |W(μ)|. Mit |W(α)| = |W(μ)| folgt |W(α)| = |W(κ)|, im Widerspruch zu α < κ und κ Kardinalzahl.
Die auf die Reihe ω1, ω2, … , ωn, … als Nächstes folgende Kardinalzahl wird mit ℵω oder ωω bezeichnet:
ℵω = ωω = sup { ωn | n ∈ ℕ }.
Wir definieren schließlich noch:
Definition (Nachfolgerkardinalzahl, Limeskardinalzahl)
Eine Kardinalzahl μ > 0 heißt Nachfolgerkardinalzahl, falls eine Kardinalzahl κ existiert mit μ = κ+. Andernfalls heißt μ eine Limeskardinalzahl.
Nach dem Satz ist eine Limeskardinalzahl μ das Supremum aller Kardinalzahlen κ < μ.
Cantor (1895):
„Aus ℵ0 geht nach einem bestimmten Gesetze die nächstgrößere Kardinalzahl ℵ1, aus dieser nach demselben Gesetze die nächstgrößere ℵ2 hervor und so geht es weiter.
Aber auch die unbegrenzte Folge der Kardinalzahlen
ℵ0, ℵ1, ℵ2, … , ℵν, …
erschöpft nicht den Begriff der transfiniten Kardinalzahl. Es wird die Existenz einer Kardinalzahl nachgewiesen werden, die wir mit ℵω bezeichnen und welche sich als die zu allen ℵν nächstgrößere ausweist; aus ihr geht in derselben Weise wie ℵ1 aus ℵ0 eine nächstgrößere ℵω + 1 hervor und so geht es ohne Ende fort.“
ℵω hat die bemerkenswerte Eigenschaft, das Supremum einer abzählbaren Menge von Kardinalzahlen zu sein. Dennoch ist ℵω eine Kardinalzahl und größer als jedes ℵn für n ∈ ℕ.
Die gesamte Aleph-Reihe der unendlichen Kardinalzahlen definieren wir im nächsten Kapitel, wo wir allgemein Induktionen und Rekursionen entlang der Ordinalzahlen − oder entlang von Wohlordnungen − untersuchen.
Felix Hausdorff über die Ordinalzahlen
„Der Leser wird an dieser Stelle gern einen kurzen Blick rückwärts tun und der genialen Schöpfung G. Cantors, dem System der Ordnungszahlen, seine Bewunderung nicht versagen. Die letzten Betrachtungen über den Anfang dieses Systems zeigen, dass die paradox erscheinende Idee, über die endliche Zahlenreihe hinaus den Zählprozess fortzusetzen, wirklich ausführbar ist, und zwar nicht in einer nebelhaften Weise mit fragwürdigen Unendlichkeitssymbolen wie ∞, sondern nach einem präzisen Gesetz, das an jeder Stelle des Zahlensystems die nunmehr folgende Zahl als Typus der Menge aller vorangehenden Zahlen eindeutig bestimmt. Für die wohlgeordneten Mengen ist damit auch das Postulat erfüllt, dass der Zählprozess nicht nur die ganze Menge, sondern auch ihre Elemente ‚zählen‘, ihnen nämlich bestimmte Zahlzeichen als Nummern oder Indices zuordnen sollte; denn die Elemente einer wohlgeordneten Menge A vom Typus α werden eben durch die Zahlen der Menge W(α) in diesem Sinne gezählt, d. h. umkehrbar eindeutig repräsentiert.“
(Felix Hausdorff 1914, „Grundzüge der Mengenlehre“ )