Konfinalitäten

 Wir hatten schon das Phänomen beobachtet, dass die relativ große Kardinalzahl ω das Supremum der relativ kleinen Menge { n | n  ∈  ω } ist. Allgemein kann man für lineare Ordnungen die Größe von unbeschränkten Teilordnungen betrachten. Dies führt zu einem fundamentalen Begriff der modernen Mengenlehre, der auf Hessenberg und Hausdorff zurückgeht:

Definition (Konfinalität einer linearen Ordnung, cf (α))

Sei 〈 M, < 〉 eine lineare Ordnung, und sei N ⊆ M. N heißt konfinal in 〈 M, < 〉, falls für alle x  ∈  M ein y  ∈  N existiert mit x ≤ y. Die Konfinalität von 〈 M, < 〉, in Zeichen cf(〈 M, < 〉), ist definiert durch:

cf(〈 M, < 〉)  =  min { |N| | N ⊆ M, N konfinal in 〈 M, < 〉 }.

Wir schreiben cf (α) für cf (〈 W(α), < 〉) für Ordinalzahlen α. Ist N ⊆ W(α) konfinal in 〈 W(α), < 〉, so sagen wir kurz: N ist konfinal in α.

  cf steht für engl. cofinality. Hausdorff hat den Term eingeführt und den Begriff untersucht. Analog definiert er: N ⊆ M heißt koinitial in 〈 M, < 〉, falls für alle x  ∈  M ein y  ∈  N existiert mit y ≤ x. Man kann dann die Koinitialität ci(〈 M, < 〉) von 〈 M , < 〉 definieren als die kleinste Kardinalität einer koinitialen Teilmenge von M. Es gilt ci(〈 M, < 〉) = cf(〈 M, <* 〉) mit < * = < −1. Für jeden Schnitt (L, R) von 〈 M, < 〉 (vgl. Kapitel 10) sind dann cf(〈 L, < 〉) und ci(〈 R, < 〉) wichtige Größen zur Beschreibung des Verhaltens der linearen Ordnung an der „Stelle“ (L, R).

 Es gilt cf (0) = cf(〈 ∅, ∅ 〉) = 0. Hat 〈 M, < 〉 ein größtes Element x, so ist { x } konfinal in der Ordnung, also cf(〈 M, < 〉) = 1. Andernfalls gilt cf(〈 M, < 〉) ≥ ω. Speziell gilt also cf (α) = 1 für alle Nachfolgerordinalzahlen α und cf (λ) ≥ ω für alle Limesordinalzahlen λ. Trivialerweise gilt cf (α) ≤ α für alle α.

Definition (regulär und singulär)

Sei α eine Ordinalzahl. α heißt regulär, falls cf (α) = α. Andernfalls heißt α singulär.

 Offenbar sind 0, 1 und ω regulär, 2, 3, 4, ω + ω, ω · ω sind singulär. Regularität kann nur den Kardinalzahlen zukommen.

Übung

(i)

Ist eine Ordinalzahl α regulär, so ist α eine Kardinalzahl.

(ii)

Es gilt cf (λ) = cf (λ) für alle Limesordinalzahlen λ.

[Betrachte N = { α | α < λ } ⊆ W(λ).]

Beispiele

cf (ω)  =  cf (ωω)  =  cf(ω1 + ω)  =  ω,

cf (ω1)  =  cf 1).

 Die Konfinalitäten von unendlichen Nachfolgerkardinalzahlen lassen sich mit Hilfe des Multiplikationssatzes leicht bestimmen:

Satz (Regularität von unendlichen Nachfolgerkardinalzahlen)

α + 1 ist regulär für alle Ordinalzahlen α.

Beweis

Sei N ⊆ W(α + 1), |N| ≤ α. Dann ist |W(γ)| ≤ α für alle γ  ∈  N und somit:

|⋃γ  ∈  N W(γ)|  ≤  |N| · supγ  ∈  N |W(γ)|  ≤  |N| · α  ≤  α · α  =  α.

Also ist

γ  ∈  N W(γ)  ⊂  W(α + 1),

und somit ist N nicht konfinal in α + 1.

Übung

Zeigen Sie den Multiplikationssatz unter der Annahme der Regularität von unendlichen Nachfolgerkardinalzahlen.

[Sei f : M × M  W(κ+) mit κ = |M| ≥ 0. Für x  ∈  M sei γx = sup(f″({ x } × M)). Wegen Regularität von κ+ ist γx < κ+ für alle x  ∈  M. Wieder wegen Regularität von κ+ ist dann { γx | x  ∈  M } beschränkt in W(κ+), also ist f nicht surjektiv. Also |M × M| < κ+.]

 Hausdorff hat bereits in [Hausdorff 1904] die Regularität von α + 1 behauptet, ohne allerdings einen Beweis anzugeben. Die Regularität von Nachfolgerkardinalzahlen wird für den Beweis der in der Arbeit angegebenen „Hausdorff-Formel“ gebraucht:

Korollar (Hausdorff-Formel)

Seien α, β Ordinalzahlen. Dann gilt:

α + 1β  =  α + 1 αβ.

Beweis

Nach dem Multiplikationssatz gilt offenbar α + 1β  ≥  α + 1 αβ.

Wir zeigen noch ≤.

1. Fall:  α + 1 ≤ β

Dann ist α + 1β  ≤  (2α + 1)β  =  2α + 1 β  =  2β  ≤  α + 1 αβ.

2. Fall:  β < α + 1

Wegen α + 1 regulär ist rng(f) beschränkt in W(α + 1) für alle f : W(β W(α + 1). Damit gilt dann:

α + 1β  =  |W(β)W(α + 1)|  =  |⋃γ < α + 1W(β)W(γ) |  ≤  α + 1 αβ,

denn für alle γ < α + 1 ist |W(β)W(γ)|  ≤  αβ wegen |W(γ)| ≤ α.

Übung

Es gilt:

(i)

10 = 20,  und allgemein n + 1n = 2n für n < ω.

(ii)

20 = 2 · 20,  und allgemein n + kn = n + k 2n für n, k < ω.

 Im ersten Abschnitt hatten wir die μ-Zerlegbarkeit einer Kardinalzahl κ definiert (1. 12): κ ist μ-zerlegbar, falls κ = Σi  ∈  I κi ist für Kardinalzahlen κi < κ und |I| = μ. Zerlegbarkeit und Konfinalität hängen wie folgt zusammen:

Satz (Konfinalität und Zerlegbarkeit)

Sei κ ≥ ω eine Kardinalzahl. Dann gilt:

cf (κ)  =  „das kleinste μ mit κ ist μ-zerlegbar“.

Beweis

Sei μ = „das kleinste μ′ mit κ ist μ′-zerlegbar“.

zu μ ≤ cf (κ):  Sei N ⊆ W(κ) konfinal in κ, |N| = cf (κ). Dann gilt:

κ  =  |⋃ N|  ≤  α  ∈  N |α|  ≤  |N| · κ  =  κ.

Also ist 〈 κα | α  ∈  N 〉 mit κα = |α| eine cf (κ)-Zerlegung von κ.

zu cf (κ) ≤ μ:  Sei 〈 κα | α < μ 〉 eine μ-Zerlegung von κ. Sei

λ  =  sup { κα | α < μ }.

Dann gilt κ = α < μ κα = μ · λ. Also κ  ∈  { μ, λ }. Ist μ = κ, so ist cf (κ) ≤ κ ≤ μ. Andernfalls ist λ = κ, und dann ist N = { κα | α < μ } konfinal in κ, also ebenfalls cf (κ) ≤ μ.

 Zerlegungen bzw. Konfinalitäten sind in der Kardinalzahlarithmetik von großer Bedeutung. Aus dem Satz von König-Zermelo hatten wir im ersten Abschnitt schon die ω-Unzerlegbarkeit von 2ω bewiesen. Allgemeiner halten wir nun fest:

Satz (Konfinalitätsungleichungen)

Sei κ ≥ ω eine Kardinalzahl. Dann gilt:

(i)

κ < κcf (κ),

(ii)

κ < cf κ)  für alle Kardinalzahlen μ ≥ 2.

Beweis

zu (i): Sei κ = i  ∈  I κi für Kardinalzahlen κi < κ und eine Menge I mit |I| = cf (κ). Dann gilt nach dem Satz von König-Zermelo:

κ  =  i  ∈  I κi  <  i  ∈  I κ  =  κ|I|  =  κcf (κ).

zu (ii): Sei I eine Menge mit |I| ≤ κ, und seien κi < μκ Kardinalzahlen für i  ∈  I. Dann gilt nach dem Satz von König-Zermelo:

i  ∈  I κi  <  i  ∈  I μκ  ≤  (μκ)κ  =  μκ · κ  =  μκ.

Also ist μκ ≥ ω nicht κ-zerlegbar, d. h. cf κ) > κ.

 Die erste Aussage folgt auch aus der zweiten, denn es gilt cf (κ) < cf cf (κ)) nach (ii), also ist κcf (κ) = κ unmöglich. Also κcf (κ) > κ.

Beispiele

||  =  20, 10, ω0 sind verschieden von ω, ω1 + ω, ε0,  usw.,

21, 01, 11, 21 sind verschieden von ω1, ω2 + ω1, ωω1, usw. 

ω0  >  ω,  ω12  ≥  ω11  >  ω1.

Weiter gilt 2cf (κ) ≠ κ für alle κ ≥ ω, da sonst cf (κ) < cf (2cf (κ)) = cf (κ).

 Die Operation κcf (κ) für κ ≥ ω ist neben 2κ die wichtigste Operation, die uns von einer unendlichen Kardinalzahl zu einer größeren führt. Im Allgemeinen ist die cf-Operation moderater, wie der alte Trick zeigt:

κcf (κ)  ≤  (2κ)cf (κ)  =  2κ · cf (κ)  =  2κ.

 Man kann noch mehr über den Zusammenhang von 2κ und κcf (κ) sagen. Hierzu zunächst ein Begriff, der auch in anderem Zusammenhang von Interesse ist:

Definition (starke Limeskardinalzahlen)

Sei λ eine Limesordinalzahl. λ heißt eine starke Limeskardinalzahl (oder ein starker Limes), falls gilt:

2α  <  λ  für alle α < λ.

Übung

Ist κ ein starker Limes, so gilt 2κ = κcf (κ).

[Seien κi, i  ∈  I, |I| = cf (κ), Kardinalzahlen mit κ = i  ∈  I κi. Dann gilt

2κ  =  2i  ∈  I κi  =  i  ∈  I 2κi  ≤  i  ∈  I κ  =  κcf (κ)  ≤  2κ.]

 Ist κ regulär, so ist κcf (κ) = κκ = 2κ. Sei also κ > ω singulär. Gilt 2cf (κ) > κ, so ist ebenfalls κcf (κ) = 2cf (κ), denn

2cf (κ)  ≤  κcf (κ)  ≤  (2cf (κ))cf (κ)  =  2cf (κ).

 Sei also andernfalls 2cf (κ) < κ (der Fall 2cf (κ) = κ ist nach obigen Überlegungen ausgeschlossen). Gilt 2κ = κ+, d. h. (GCH) gilt an der Stelle κ, so ist κcf (κ) = κ+. Was aber, wenn 2κ ≥ κ+ +? Diese Überlegungen führen zur folgenden Hypothese, der in der Entwicklung der modernen Mengenlehre eine zentrale Rolle zukam:

Singuläre Kardinalzahlhypothese (SCH)

Sei κ ≥ ω eine singuläre Kardinalzahl mit 2cf (κ) < κ. Dann gilt κcf (κ) = κ+.

 (SCH) kann man als eine Abschwächung von (GCH) für singuläre Limeskardinalzahlen ansehen. In der Tat ist nun auch (SCH) wieder eine Aussage, die weder beweisbar noch widerlegbar ist − wobei diesmal, im Gegensatz zu (GCH) für die Konstruktion von Modellen, in denen (SCH) falsch ist, große Kardinalzahlaxiome benötigt werden (im Bereich von messbaren Kardinalzahlen, s. u.). (SCH) ist also weder beweisbar noch widerlegbar, aber aus logischer Sicht viel einfacher in einem Modell zu realisieren als in einem Modell zu verletzen. Dies ist eine Asymmetrie, die für viele unabhängige Aussagen gilt.

 Die Hypothese kann dann sogar für den ersten Kandidaten ω verletzt sein: Es kann zum Beispiel 2ω = ω0 = ω + 2 und ω ein starker Limes sein (modulo der Konsistenz großer Kardinalzahlen). Wie groß ω0 sein kann, wenn ω ein starker Limes ist, ist ein offenes Problem. Man weiß, dass in diesem Fall 2ω = ω0 < ω4 gilt, und die 4 ist hier kein Druckfehler.

 Weiter ist sogar 2n = n + 1 für n < ω und 2ω = ω + 2 modulo großer Kardinalzahlen möglich. Dagegen folgt aus „2α = α + 1 für alle α < ω1“, dass auch 2ω1 = ω1 + 1 gilt, d. h. (GCH) kann zum ersten Mal an der Stelle ω verletzt sein, nicht aber zum ersten Mal an der Stelle ω1.

 All dies sind höchstgradig nichttriviale moderne Resultate. Sie belegen die subtilen Unterschiede zwischen regulär und singulär, und weiter zwischen cf (κ) = ω und cf (κ) ≥ ω1. Sie belegen auch die beharrlich-forschende Belagerung der Kardinalzahlexponentiation, jener letztendlich wohl uneinnehmbaren Burg der Mengenlehre.

Definition (die Gimel-Funktion)

Sei κ ≥ ω eine Kardinalzahl. Wir setzen:

‎ג‎(κ)  =  κcf (κ).

 Gimel ist der dritte Buchstabe des hebräischen Alphabets. Es gilt ‎ג‎(κ) > κ für alle unendlichen Kardinalzahlen.

 Zurück zu konfinalen Teilmengen. Sie haben eine nützliche Transitivitätseigenschaft, die dazu führt, dass die cf-Operation bereits nach einer Anwendung eine reguläre Kardinalzahl hinterlässt:

Übung

Sei 〈 M, < 〉 eine lineare Ordnung, und sei N ⊆ M konfinal in 〈 M, < 〉. Weiter sei P ⊆ N konfinal in 〈 N, < 〉. Dann ist P konfinal in 〈 M, < 〉.

 Hieraus folgt leicht:

Satz (Regularität einer Konfinalität)

Sei 〈 M, < 〉 eine lineare Ordnung, und sei κ = cf(〈 M, < 〉). Dann ist κ regulär. Insbesondere gilt cf (cf (α)) = cf (α) für alle Ordinalzahlen α.

Beweis

Sei N ⊆ M konfinal in 〈 M, < 〉 mit |N| = κ = cf(〈 M, < 〉). Sei P ⊆ N konfinal in 〈 N, < 〉 mit |P| = cf(〈 N, < 〉). Dann ist P konfinal in 〈 M, < 〉, also |P| ≥ κ. Aber |P| ≤ |N| = κ, also |P| = κ.

 Eine sehr anschauliche Charakterisierung der Konfinalität einer linearen Ordnung ist:

Satz (Konfinalität und aufsteigende Folgen)

Sei 〈 M, < 〉 eine lineare Ordnung, und sei κ = cf(〈 M, < 〉). Weiter sei

μ  =  „die kleinste Ordinalzahl α, für die ein ordnungstreues f : W(α)  M existiert mit rng(f) konfinal in 〈 M, < 〉.“

Dann gilt μ = κ.

Beweis

zu κ ≤ μ:

Sei f : W(μ)  M ordnungstreu mit rng(f) konfinal in 〈 M, < 〉. Dann gilt κ ≤ |rng(f)| = |μ| ≤ μ.

zu μ ≤ κ:

Sei N ⊆ M konfinal in 〈 M, < 〉 mit |N| = κ. Sei g : W(κ)  N bijektiv. Wir definieren für α < κ rekursiv:

h(α)  =  g(β), wobei β = „das kleinste γ mit g(γ) > h(α′) für alle α′ < α.“

[β existiert, denn |W(α)| < κ für alle α < κ, also ist h″W(α) nicht konfinal in 〈 N, < 〉 für alle α < κ.]

Dann ist h : W(κ)  N ordnungstreu und rng(h) konfinal in 〈 N, < 〉 (!). Also ist μ ≤ κ.

 Die Konfinalität einer linearen Ordnung ist also die minimale Anzahl von Schritten, die wir brauchen, um das Ende der linearen Ordnung zu erreichen (mit einer monoton-aufsteigenden Wanderung). Speziell für Ordinalzahlen α definieren wir hierzu noch:

Definition (strikt aufsteigend, schwach aufsteigend, stetig und konfinal)

Eine Folge g = 〈 γβ | β < δ 〉 von Ordinalzahlen heißt:

(i)

strikt aufsteigend, falls γβ < γβ′ für alle β < β′ < δ,

(ii)

schwach aufsteigend, falls γβ ≤ γβ′ für alle β < β′ < δ,

(iii)

stetig, falls g schwach aufsteigend ist und sup { γβ | β < λ } = γλ für alle Limesordinalzahlen λ < δ gilt.

(iv)

konfinal in α, falls { γβ | β < δ } konfinal in α ist.

 Strikt aufsteigende und stetige Ordinalzahlfunktionen heißen auch normal oder Normalfunktionen. Seit Cantors Definition der Ordinalzahlexponentiation wurden derartige Funktionen und ihre Fixpunkte betrachtet. Ausführlich untersucht wurden sie insbesondere von Hessenberg (1906) und von Oswald Veblen (1880 − 1960) in [Veblen 1908]. Hinreichend lange Normalfunktionen haben viele Fixpunkte (vgl. 2. 8). Die Bezeichnung „Normalfunktion“ stammt von Hausdorff (1914).

Übung

Sei α eine Limesordinalzahl. Dann gilt:

(i)

Ist 〈 γβ | β < δ 〉 schwach aufsteigend konfinal in α, so ist cf (α) = cf (δ).

(ii)

Es existiert eine strikt aufsteigende, stetige und in α konfinale Folge 〈 γβ | β < cf (α) 〉.

 Der erste Teil zeigt, dass das Zulassen von beliebigen Verzögerungen die Konfinalität der Länge des Anstiegs zu einer Limesordinalzahl α invariant lässt.