Maße auf überabzählbaren Mengen
Das Folgende würde eine ausführlichere separate Darstellung mit einer sorgfältigen und historisch orientierten Einleitung verdienen. Wir begnügen uns hier mit einem Überblick, der viele ad-hoc-Definitionen enthalten wird. Ziel ist lediglich, die Brücke zur Maßtheorie aufzuzeigen, und dies nicht nur aus historischer Sicht. Der nicht an Fragen der reellwertigen Maßtheorie interessierte Leser kann diesen Zwischenabschnitt problemlos überschlagen.
Die Frage nach der Existenz von vollständigen Ultrafiltern ergab sich zwanglos aus dem Studium des Filterbegriffs. Historisch verlief die Sache auf einem Nebengleis, dem die Theorie den Namen „messbar“ zu verdanken hat: Ulam untersuchte Fragen der Maßtheorie, als er auf das Phänomen hinter den messbaren Kardinalzahlen stieß.
Mathematiker lieben die abstrakte Messkunst. Sie ordnen dabei einer Menge eine nichtnegative reelle Zahl zu − das Maß der Menge. „Maß von“ ist wie „große Teilmenge von“ extensional „in einem bestimmten Sinne“ zu fassen, in diesem Fall durch eine Funktion. Die zugehörigen mathematischen Begriffe kristallisierten sich Anfang des 20. Jahrhunderts heraus. Wir verwenden sie hier in der folgenden Form:
Definition (Inhalt)
Sei M eine unendliche Menge, und sei I : ℘(M) → [ 0, 1 ] ⊆ ℝ.
I heißt ein (nichttrivialer) Inhalt auf M, falls gilt:
(i) | I(∅) = 0, I(M) = 1, (Normierung) |
(ii) | I({ x }) = 0 für alle x ∈ M, (Nichttrivialität) |
(iii) | I(A) ≤ I(B) für alle A ⊆ B ⊆ M, (Monotonie) |
(iv) | I(⋃0 ≤ i ≤ n Ai) = Σ0 ≤ i ≤ n I(Ai) für alle n < ω und alle paarweise disjunkten Ai ⊆ M, 0 ≤ i ≤ n. (endliche Additivität) |
Definition (Maß)
Sei I ein Inhalt auf M. I heißt ein (nichttriviales) Maß auf M, falls zusätzlich folgende σ-Additivität (oder ω1-Additivität) gilt :
I(⋃i < ω Ai) = Σi < ω I(Ai) (= supn < ω Σ0 ≤ i ≤ n I(Ai)) für alle paarweise disjunkten Ai ⊆ M, i < ω.
Der bevorzugte Buchstabe für Maße ist im Folgenden nicht I, sondern μ.
Analytiker, Wahrscheinlichkeitstheoretiker und Physiker wären ohne abzählbare Grenzübergänge und Vertauschungen von bestimmten Operationen − etwa das Herausziehen eines Limes aus einem Integral − höchst unglückliche Geschöpfe, und dies erklärt, warum in vielen Bereichen der Mathematik von Maßen die Rede ist, und Inhalte eine eher untergeordnete Rolle spielen. Die σ-Additivität wurde bereits von Borel 1898 in den Mittelpunkt gerückt.
Die nichttrivialen Ultrafilter auf M entsprechen den 0-1-wertigen Inhalten auf M, d. h. den Inhalten I mit rng(I) = { 0, 1 }: Gegeben U betrachten wir den Inhalt I mit I(A) = 1, falls A ∈ U, I(A) = 0 sonst. Gegeben einen 0-1-wertigen Inhalt I setzen wir U = { A ⊆ M | I(A) = 1 }. Nach dem Ultrafiltersatz von Ulam-Tarski existiert insbesondere also immer ein Inhalt auf einer unendlichen Menge M.
Analog entsprechen die ω1-vollständigen nichttrivialen Ultrafilter auf M den 0-1-wertigen Maßen auf M. Wir wissen, dass vollständige Ultrafilter schwer zu haben sind. Im Gegensatz zur Ultrafiltertheorie haben wir nun aber die übliche Flut reeller Werte zur Verfügung, und nicht nur 0 oder 1. Maße werden also vielleicht leichter zu konstruieren sein …
Maße auf abzählbaren Mengen lassen sich leicht angeben: Für A ⊆ W(ω) setzen wir
μ(A) = ∑n ∈ A 1/2(n + 1).
Dann ist μ ein Maß auf W(ω), da 1/2 + 1/4 + 1/8 + … = 1. Dagegen existieren keine 0-1-wertigen Maße auf W(ω)!
Zwei Grundprobleme der Maßtheorie lauten:
(1) Existieren Maße auf überabzählbaren Mengen ?
(2) Gibt es ein Maß auf ℝ oder auf einem beschränkten Intervall von ℝ ?
Die erste Idee für ein Maß auf z. B. I = [ 0, 1 ] ist: μ(A) = „das Längenmaß von A“ für A ⊆ I. Dies sollte doch für alle A ⊆ I in vernünftiger Weise zu definieren sein. Es stellt sich heraus, dass hier große Schwierigkeiten auftreten, und dass diese Schwierigkeiten ganz allgemein sind und nichts mit einem speziellen Längenmaß zu tun haben.
Die Frage, ob für alle A ⊆ I ein Längenmaß erklärt werden kann, hatte Henri Lebesgue 1902 gestellt. Der Begriff „Längenmaß“ wird durch eine zusätzliche Bedingung eingefangen:
(+) Für alle A ⊆ I und 0 ≤ x ≤ 1 ist μ(A + x) = μ(A). (Translationsinvarianz)
Hier ist (der Bequemlichkeit halber) I = [ 0, 1 [ und
A + x = { y + x | y ∈ A, y + x < 1 } ∪ { y + x − 1 | y ∈ A, y + x ≥ 1 }
die Rechts-Translation von A um x modulo 1, d. h. Punkte, die das Intervall bei der Verschiebung um x rechts verlassen, tauchen links wieder auf. Man kann sich I auch als Kreislinie vorstellen, indem 0 und 1 verklebt werden. A + x ist dann die Drehung von A um den Winkel x · 2π.
Vitali hatte 1905 gezeigt, dass die Translationsinvarianz eine zu starke Forderung an Maße auf I darstellt. Unabhängig wurde Vitalis Gegenbeispiel auch von Hausdorff gefunden. Wir setzen für x, y ∈ I (vgl. 1. 3):
x ∼ y falls |x − y| ∈ ℚ.
Dann ist ∼ eine Äquivalenzrelation auf I. Es gilt:
Übung (Vitali-Hausdorff)
Es gibt kein Maß auf I = [ 0, 1 [ mit (+).
[Sei A ⊆ I ein vollständiges Repräsentantensystem für ∼. Dann gilt I = ⋃q ∈ ℚ A + q, und die Mengen A + q, q ∈ ℚ sind paarweise disjunkt.
Ist μ(A) = 0, so wäre 1 = μ(I) = 0 + 0 + … = 0, Widerspruch.
Ist μ(A) = ε > 0, so wäre 1 = ε + ε + …, Widerspruch, denn für alle ε > 0 existiert ein n < ω mit ε · n > 1.]
Analoges gilt für ℝ statt I, wobei in einer Maßtheorie für ganz ℝ ein Maß auf ℝ dann nur noch σ-finit sein muss, d. h.: Die Maße von beschränkten Teilmengen von ℝ sind endlich. (Ein Maß auf ℝ ist dann eine Funktion μ : ℘(ℝ) → [ 0, ∞ [ ∪ { ∞ }.) Auch hier führt die Vitali-Hausdorff-Konstruktion zu einem Widerspruch. Die Translation ist dann sogar die echte Translation, A + x = { y + x | y ∈ A }. Wie in der Übung ist μ(A) = 0 für ein vollständiges Repräsentantensystem von ∼ nicht möglich. Sei also μ(A) = ε > 0, und sei ε · n > μ([ 0, 2 ]) = z. Ohne Einschränkung dürfen wir A ⊆ [ 0, 1 ] annehmen. Für paarweise verschiedene rationale 0 < q1, …, qn < 1 ist dann
z < ∑1 ≤ i ≤ n μ(A + qi) ≤ z
wegen ⋃1 ≤ i ≤ n A + qi ⊆ [ 0, 2 ]. Widerspruch!
Volle Translationsinvarianz ist also nicht möglich. Sie erzeugt zuviel Symmetrie, und diese verletzt die abzählbare Additivität.
Symmetrie ist auch für Inhalte eine starke Forderung. Es gibt translationsinvariante bzw. (für höhere Dimensionen) kongruenzinvariante Inhalte auf ℝ1 und ℝ2 [Banach 1923], nicht aber auf ℝn für n ≥ 3 [Hausdorff 1914].
Stefan Banach (1892 − 1945) stellte dann die Frage nach der Existenz eines beliebigen nichttrivialen Maßes auf I = [ 0, 1 ]. Diese Frage ist wesentlich subtiler. 1929 zeigten Banach und Kuratowski, dass unter Annahme der Kontinuumshypothese kein Maß auf I = [ 0, 1 ] existiert. Im Jahr 1930 gab Ulam einen weiteren Beweis. In der Tat folgt der Satz leicht aus der Existenz von Ulam-Matrizen auf ω1 und der folgenden einfachen Beobachtung:
Übung
Sei μ ein Maß auf M, und sei 𝒜 ⊆ ℘(M) eine Menge von paarweise disjunkten Teilmengen von M mit μ(A) > 0 für alle A ∈ 𝒜. Dann ist 𝒜 abzählbar.
[Sei 𝒜n = { A ∈ 𝒜 | μ(A) > 1/n } für 1 ≤ n < ω. Dann ist jedes 𝒜n sogar endlich. Aber 𝒜 = ⋃1 ≤ n < ω 𝒜n, also ist 𝒜 abzählbar.]
Damit haben wir:
Satz (Existenz von Maßen und die Kontinuumshypothese)
Es gelte (CH). Dann existiert kein Maß auf I = [ 0, 1 ] ⊆ ℝ.
Beweis
Annahme doch. Nach Voraussetzung gilt |I| = |W(ω1)|. Für beliebige Mengen M, N übersetzt ein bijektives f : M → N ein Maß μ auf M in ein Maß ν auf N via
ν(A) = μ(f −1″A) für A ⊆ N.
Nach Annahme existiert also ein Maß μ auf W(ω1). Sei 〈 Xn, α | n < ω, α < ω1 〉 eine Ulam-Matrix auf ω1. Für alle α < ω1 existiert ein n < ω mit μ(Xn, α) > 0.
[Denn μ(⋃n < ω Xn, α) = μ(W(ω1) − W(α)) = 1 für alle α < ω1.]
Wie früher existieren dann ein n* < ω und ein A ⊆ ω1 mit |A| = ω1 und μ(Xn*, α) > 0 für alle α ∈ A. Also ist μ strikt positiv auf überabzählbar vielen paarweise disjunkten Mengen, Widerspruch.
Was ist, wenn 2ω = ω2 gilt? Ist ein Maß auf I = [ 0, 1 ] überhaupt möglich, oder ist die Existenz eines reellwertigen Maßes auf einer überabzählbaren Menge M doch gleichwertig mit der Existenz eines 0-1-wertigen Maßes auf M? Dann wäre ein Maß auf einer Menge M mit |M| = |ℝ| nicht möglich, denn Maße auf überabzählbaren Mengen würden dann nur auf messbaren Kardinalzahlen existieren, und diese sind starke Limeskardinalzahlen, also viel größer als |ℝ| = 2ω.
Die Antwort ist:
Die Existenz eines Maßes auf I = [ 0, 1 ] ist modulo der Existenz von messbaren Kardinalzahlen widerspruchsfrei (Solovay 1966, 1971). Existiert ein Maß auf I, so existiert eine schwach unerreichbare Kardinalzahl κ mit |ℝ| ≥ κ (Ulam 1930).
Das Kontinuum muss also sehr groß sein, wenn ein Maß auf dem Einheitsintervall existiert. Es ist viel, viel größer als ω1, aber immer noch viel, viel kleiner als die erste stark unerreichbare Kardinalzahl oder gar die erste messbare Kardinalzahl. Insgesamt ist die Frage nach der Existenz von Maßen auf dem Einheitsintervall unabhängig, und darüber hinaus ist die Annahme der Existenz eines solchen Maßes eine starke Hypothese (de facto von der Stärke von „es gibt eine messbare Kardinalzahl“, wie Solovay ebenfalls gezeigt hat). (Für „Einheitsintervall“ kann man hier jede Menge der Mächtigkeit von ℝ einsetzen.)
Wir geben hier nur noch den Beweis, dass die Existenz eines Maßes auf I die Mächtigkeit des Kontinuums beträchtlich nach oben zieht.
Definition (τ-additiv, Additivität eines Maßes)
Sei μ ein Maß auf einer Menge M. μ heißt τ-additiv oder τ-vollständig für eine Kardinalzahl τ, falls für alle λ < τ und alle paarweise disjunkten Xα ⊆ M, α < λ, gilt:
μ(⋃α < λ Xα) = Σα < λ μ(Xα) (= supE ⊆ W(λ), E endlich Σα ∈ E μ(Xα)).
Wir setzen Add(μ) = „das kleinste τ mit: μ ist nicht τ+-additiv“. Add(μ) heißt die Additivität des Maßes μ.
Die σ-Additivität eines Maßes μ ist identisch zur ω1-Additivität von μ nach dieser Definition. Es gilt also Add(μ) ≥ ω1 für alle Maße μ. Ist Add(μ) = τ, so existieren paarweise disjunkte Xα ⊆ M, α < τ, mit
μ(⋃α < τ Xα) > Σα < τ μ(Xα),
und τ ist minimal hierfür. Für alle Maße μ auf M mit |M| = κ gilt Add(μ) ≤ κ, denn es gilt 1 = μ(M) > Σx ∈ M μ({ x }) = supE ⊆ M, E endlich Σx ∈ E μ({ x }) = 0.
Definition (reellwertig messbare Kardinalzahl)
Sei κ ≥ ω1 eine Kardinalzahl. κ heißt reellwertig messbar, falls ein κ-additives Maß auf W(κ) existiert.
Satz (reellwertig messbare Kardinalzahlen sind schwach unerreichbar)
Sei κ reellwertig messbar. Dann ist κ schwach unerreichbar.
Beweis
κ ist regulär: Wie für messbare Kardinalzahlen.
κ ist eine Limeskardinalzahl: Annahme κ = μ+. Sei dann 〈 Xν, α | ν < μ, α < κ 〉 eine Ulam-Matrix auf κ. Wegen der κ-Additivität von μ gibt es in jeder Spalte einen Eintrag mit positivem Maß. Dann existiert wieder eine Zeile mit überabzählbar vielen paarweise disjunkten Einträgen mit positivem Maß, Widerspruch!
Reellwertig messbare Kardinalzahlen sind also schwach unerreichbar. Im Gegensatz zu messbaren Kardinalzahlen sind sie jedoch i.a. nicht unerreichbar.
Analog zu den messbaren Kardinalzahlen gilt:
Satz (Additivität und reellwertige Messbarkeit)
Sei κ ≥ ω1, und sei μ ein Maß auf W(κ). Dann ist Add(μ) reellwertig messbar.
Beweis
Wir folgen dem Beweis des Satzes, dass Add(U) eine messbare Kardinalzahl ist für nichttriviale Ultrafilter U auf W(κ) mit Add(U) ≥ ω1. Sei τ = Add(μ) ≥ ω1. Dann existieren paarweise disjunkte Xν ⊆ W(κ) mit μ(Xν) = 0 für ν < τ und a = μ(⋃ν < τ Xν) > 0.
[Es existieren τ-viele paarweise disjunkte Mengen Yν ⊆ W(κ) mit b = μ(⋃ν < τ Yν) > ∑ν < τ μ(Yν). Sei A = { ν | μ(Yν) > 0 }. Dann ist A abzählbar, und jede Aufzählung 〈 Xν | ν < τ 〉 von { Yν | ν ∈ W(τ) − A } ist wie gewünscht, denn μ(⋃ν ∈ A Yν) < b.]
Wir definieren μ′ : ℘(W(τ)) → [ 0, 1 ] durch:
μ′(A) = μ(⋃ν ∈ A Xν)/a für A ⊆ W(τ).
Dann ist μ′ ein τ-additives Maß auf W(τ) (!). Also ist τ eine reellwertig messbare Kardinalzahl.
Korollar
Sei κ die kleinste Kardinalzahl, für die ein Maß auf W(κ) existiert. Dann ist κ reellwertig messbar. Weiter gilt: Existiert ein Maß auf einer Menge M mit |M| = |ℝ|, so existiert ein schwach unerreichbares κ und es gilt |ℝ| ≥ κ.
Die Maßtheorie reagiert auf dieses bedrohliche und irritierende Grundproblem der Existenz von Maßen mit einem taktischen Rückzug: Der Definitionsbereich einer Maßfunktion μ wird eingeschränkt. Maße sind weiterhin σ-additiv, sie sind aber nur noch auf einem Teilsystem von ℘(M) definiert, einer sog. σ-Algebra, und im Allgemeinen nicht mehr auf ganz ℘(M). Dies genügt für viele Anwendungen. Dabei heißt ein Mengensystem 𝒜 ⊆ ℘(M) eine σ-Algebra, falls gilt:
(i) | ∅ ∈ 𝒜, |
(ii) | X ∈ 𝒜 folgt M − X ∈ 𝒜 für alle X, |
(iii) | ⋃n < ω An ∈ 𝒜 für alle An ∈ 𝒜, n < ω. |
Für die reellen Zahlen sind (σ-finite) Maße zumeist auf der Borel-σ-Algebra 𝔅 = 𝔅(ℝ) definiert (vgl. 2. 7). Speziell existiert ein eindeutiges translationsinvariantes Maß μ auf 𝔅 mit μ([ a, b ]) = b − a für reelle a < b, das sog. Lebesgue-Maß. Die übliche Definition des Lebesgue-Maßes liefert eine σ-Algebra, die größer ist als 𝔅. Die genaue Bestimmung dieser σ-Algebra der Lebesgue-messbaren Mengen ist eine komplexe Angelegenheit, und viele Zugehörigkeitsfragen sind von der üblichen Mengenlehre unabhängig. Genügend große Kardinalzahlen implizieren die Lebesgue-Messbarkeit aller projektiven Mengen (vgl. 2. 12).