1.Das Axiomensystem ZFC

Wir stellen in diesem Abschnitt das heute am häufigsten verwendete Axiomensystem ZFC für die Mengenlehre vor. „ZFC“ ist hierbei eine Abkürzung für „Zermelo-Fraenkel-Axiomatik mit Auswahlaxiom“. Das „C“ stammt hierbei von der englischen Bezeichnung „axiom of choice“ des Auswahlaxioms, das ein ausgezeichnetes Axiom der Zermeloschen Axiomatik darstellt.

 Zermelo trug mit seiner Arbeit „Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre“, erschienen 1908 in den „Mathematischen Annalen“, den Hauptteil zu diesem System bei. Seine dort vorgestellten sieben Axiome wurden später nur noch ergänzt durch das Ersetzungsschema von Abraham Fraenkel (1922) und das Fundierungsaxiom, das auf Abraham Fraenkel (1922), John von Neumann (1925) und Ernst Zermelo (1930) zurückgeht. Thoralf Skolem (1887 − 1963) hat ebenfalls dem Ersetzungsschema und dem Fundierungsaxiom verwandte Prinzipien betrachtet, und zudem den Weg gewiesen, die axiomatische Mengenlehre durch die Verwendung einer exakten Sprache zu präzisieren (1922). In Briefen von Cantor an Hilbert finden sich axiomatische Ansätze, insbesondere hat Cantor bereits 1898 das Ersetzungsschema formuliert.

 Die Abkürzung ZFC ist aus historischer Sicht unglücklich. Zermelos System enthält das Auswahlaxiom bereits als fundamentalen Bestandteil, und die Isolierung dieses Axioms stellt gerade eine der großen Leistungen Zermelos dar. Aus mathematischer Sicht ist die Betonung des „C“ in der Bezeichnung ZFC aber gerechtfertigt, da das Auswahlaxiom eine Sonderstellung unter den Axiomen einnimmt, und seine Verwendung im systematischen Aufbau der Mengenlehre und der restlichen Mathematik eine besondere Beachtung verdient.

 Zermelo formulierte seine Axiomatik noch nicht in der Sprache der Prädikatenlogik erster Stufe, die heute die „offizielle“ Sprache der Mengenlehre ist. Auch wir werden zuerst die Axiome und einige elementare Folgerungen in der üblichen mathematischen Umgangssprache angeben. Der kritischen Richtung tragen wir dann im zweiten Kapitel vollends Rechnung, wo wir die Prädikatenlogik einführen und insbesondere den Begriff einer Eigenschaft präzisieren. Dort schaffen wir den formalen Rahmen für die Mengenlehre, der für metamathematische Untersuchungen und Resultate wie etwa dem der Unabhängigkeit der Kontinuumshypothese notwendig ist.

 Im zweiten Band werden wir die Mengenlehre auf der Basis der ZFC-Axiome systematisch entwickeln. Die hier erzielten Ergebnisse der Zeit Cantors fügen sich in diesen axiomatischen Aufbau zwanglos ein. Wir können sie und ihre Beweise unverändert übernehmen, lediglich eine etwas andere Organisation des Stoffes ist notwendig, da wir z. B. keine Zahlen mehr als Grundobjekte zur Verfügung haben, sondern sie erst als Mengen konstruieren müssen.

 Eine der Hauptaufgaben der mengentheoretischen Axiomatik, unabhängig von metamathematischen Gesichtspunkten, war es, die Theorie des Unendlichen zu retten, und dabei gleichzeitig die aufgetretenen Paradoxien zu eliminieren. Die Paradoxien verschwinden nun in natürlicher Weise in ZFC, da die Axiome keine uferlosen Zusammenfassungen zulassen, wie etwa die Bildung von { x | x ist Menge } oder allgemein die von { x | (x) }.

 Zermelo schreibt in der Einleitung zu seiner Axiomatik von 1908:

Zermelo (1908b):

„Die Mengenlehre ist derjenige Zweig der Mathematik, dem die Aufgabe zufällt, die Grundbegriffe der Zahl, der Anordnung und der Funktion in ihrer ursprünglichen Einfachheit mathematisch zu untersuchen und damit die logischen Grundlagen der gesamten Arithmetik und Analysis zu entwickeln; sie bildet somit einen unentbehrlichen Bestandteil der mathematischen Wissenschaft. Nun scheint aber gegenwärtig gerade diese Disziplin in ihrer ganzen Existenz bedroht durch gewisse Widersprüche oder ‚Antinomien‘, die sich aus ihren scheinbar denknotwendig gegebenen Prinzipien herleiten lassen und bisher noch keine allseitig befriedigende Lösung gefunden haben. Angesichts namentlich der ‚Russellschen Antinomie‘ von der ‚Menge aller Mengen, welche sich selbst nicht als Element enthalten‘ scheint es heute nicht mehr zulässig, einem beliebigen logisch definierbaren Begriff eine ‚Menge‘ oder ‚Klasse‘ als seinen ‚Umfang‘ zuzuweisen. Die ursprüngliche Cantorsche Definition einer ‚Menge‘ als einer ‚Zusammenfassung von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen‘ bedarf also jedenfalls einer Einschränkung, ohne dass es doch schon gelungen wäre, sie durch eine andere, ebenso einfache zu ersetzen, welche zu keinen solchen Bedenken mehr Anlaß gäbe. Unter diesen Umständen bleibt gegenwärtig nichts anderes übrig, als den umgekehrten Weg einzuschlagen und, ausgehend von der historisch bestehenden ‚Mengenlehre‘, die Prinzipien aufzusuchen, welche zur Begründung dieser mathematischen Disziplin erforderlich sind. Diese Aufgabe muss in der Weise gelöst werden, dass man die Prinzipien einmal eng genug einschränkt, um alle Widersprüche auszuschließen, gleichzeitig aber auch weit genug ausdehnt, um alles Wertvolle dieser Lehre beizubehalten.

 In der hier vorliegenden Arbeit gedenke ich nun zu zeigen, wie sich die gesamte von G. Cantor und R. Dedekind geschaffene Theorie auf einige wenige Definitionen und auf sieben anscheinend voneinander unabhängige ‚Prinzipien‘ oder ‚Axiome‘ zurückführen lässt. Die weitere, mehr philosophische Frage nach dem Ursprung und dem Gültigkeitsbereiche dieser Prinzipien soll hier noch unerörtert bleiben. Selbst die gewiß sehr wesentliche ‚Widerspruchslosigkeit‘ meiner Axiome habe ich noch nicht streng beweisen können, sondern mich auf den gelegentlichen Hinweis beschränken müssen, dass die bisher bekannten ‚Antinomien‘ sämtlich verschwinden, wenn man die hier vorgeschlagenen Prinzipien zugrunde legt. Für spätere Untersuchungen, welche sich mit solchen tiefer liegenden Problemen beschäftigen, möchte ich hiermit wenigstens eine nützliche Vorarbeit liefern.

 Der nachstehende Artikel enthält die Axiome und ihre nächsten Folgerungen … “

 Das Problem der Widerspruchsfreiheit ist systemimmanent und nicht behebbar. Nach dem zweiten Gödelschen Unvollständigkeitssatz kann die Widerspruchsfreiheit von ZFC nicht innerhalb von ZFC bewiesen werden (es sei denn, ZFC ist widerspruchsvoll, denn dann ist alles beweisbar). Aus der Universalität von ZFC − der Tatsache, dass jedes mathematische Argument in ZFC ausgeführt werden kann − folgt, dass wir den Zusatz „innerhalb von ZFC“ streichen können. Wir erhalten dann: Die Widerspruchsfreiheit von ZFC ist nicht beweisbar (es sei denn, ZFC ist widerspruchsvoll). Dass bei der Untersuchung einer reichhaltigen Axiomatik keine Widersprüche auftreten und Widersprüche anderer Systeme verschwinden, ist streng genommen alles, was wir zur Widerspruchsfreiheit einer solchen Axiomatik sagen können. Aus humanistischer Sicht spricht aber sicher ein kohärentes und ästhetisches Gesamtbild einer mathematischen Theorie für ihre Widerspruchsfreiheit, und in dieser Hinsicht sind ZFC und die modernen Erweiterungen von ZFC sicherlich widerspruchsfrei.