Zermelos Zahlreihe Z0
Eine Menge u heißt Zermelo-induktiv oder kurz Z-induktiv, falls gilt:
„∅ ∈ u und mit jedem x ∈ u ist auch { x } ∈ u“.
Eine Z-induktive Menge z* existiert nach dem Unendlichkeitsaxiom. Wir setzen:
Z0 = ⋂ { u ∈ ℘(z*) | u ist Z-induktiv }.
Diese Menge existiert nach dem Potenzmengenaxiom und dem Aussonderungsschema. Z0 besteht intuitiv aus genau den Mengen ∅, { ∅ } , { { ∅ } }, …
Man zeigt leicht: Z0 ist Z-induktiv. Weiter ist die Definition von Z0 unabhängig von der speziellen Wahl der Z-induktiven Menge z* (!).
Z0 kann man als Menge der natürlichen Zahlen auffassen:
0 = ∅, 1 = { ∅ } , 2 = { { ∅ } } , 3 = { { { ∅ } } } , … , also
0 = ∅, 1 = { 0 } , 2 = { 1 } , 3 = { 2 } , …
Zermelo (1908b):
„… Die Menge Z0 enthält die Elemente 0, { 0 } , { { 0 } } usw. und möge als ‚Zahlreihe‘ bezeichnet werden, weil ihre Elemente die Stelle der Zahlzeichen vertreten können. Sie bildet das einfachste Beispiel einer ‚abzählbar unendlichen‘ Menge …“
Wir haben noch keine Induktion entlang einer Wohlordnung zur Verfügung, wenn wir über Z0 etwas beweisen wollen. Wir müssen mit der Schnittdefinition auskommen. Diese lässt sich aber in einer induktiven Form notieren, denn direkt aus der Definition von Z0 erhalten wir: Ist u eine Z-induktive Teilmenge von Z0, so ist u = Z0. Dies liefert folgende Form der „Peano-Induktion“ für Z0:
„Sei u ⊆ Z0 mit (1) ∅ ∈ u, (2) für alle x ∈ u ist { x } ∈ u. Dann ist u = Z0.“
Übung
(i) | Es gilt x ≠ { x } für alle x ∈ Z0. [Sei u = { x ∈ Z0 | x ≠ { x } }. Es genügt zu zeigen, dass u Z-induktiv ist. Offenbar gilt ∅ ∈ u. Sei also x ∈ u beliebig. Es gilt x ≠ { x }, da x ∈ u. Dann ist aber auch { x } ≠ { { x } } nach dem Extensionalitätsaxiom und der Definition der Einermenge. Also ist { x } ∈ u.] |
(ii) | Jedes x ∈ Z0, x ≠ ∅, hat genau ein Element. |
(iii) | Z0 ist transitiv: Ist x ∈ Z0, so ist x ⊆ Z0. |
Weiter kann man eine <-Relation auf Z0 definieren durch:
< = ⋂ { R ⊆ Z0 × Z0 | R ist transitiv und für alle x ∈ Z0 ist (x, { x }) ∈ R }.
Eine anspruchsvollere Übung ist:
Übung
〈 Z0, < 〉 ist eine Wohlordnung.
Hieraus gewinnt man dann Induktion und Rekursion über 〈 Z0, < 〉, wobei über Z0 rekursiv definierte Operationen ℱ : Z0 → V im Allgemeinen selbst keine Mengen mehr sind (kein Axiom garantiert uns, dass die Vereinigung von partiellen Rekursionsfunktionen „bis x“ für x ∈ Z0 eine Menge ist, vgl. Beweis des Rekursionssatzes und die Diskussion zum Ersetzungsschema unten).
Übung
Es gilt |Z0| ≤ |M| für jede Dedekind-unendliche Menge M.
Z0 dient im Rahmen der ursprünglichen Axiome von Zermelo als Menge der natürlichen Zahlen ℕ. Aus der − weit nach 1908 gefundenen − Definition der Ordinalzahlen nach von Neumann und Zermelo (siehe 2.6) ergibt sich eine etwas andere Definition der natürlichen Zahlen, die man ja als Anfangsstück der Ordinalzahlen definieren möchte. Bei der Interpretation mathematischer Objekte innerhalb der Mengenlehre gibt es keine eindeutigen Lösungen. Brauchbarkeit und Natürlichkeit sind die entscheidenden Gesichtspunkte. Drängt sich eine Definition aufgrund bestimmter Überlegungen geradezu von selbst auf, so spricht man von einer „kanonischen Definition“. Und die Definition der Ordinalzahlen nach von Neumann und Zermelo ist, wie wir gesehen haben, in diesem Sinne kanonisch. Die natürlichen Zahlen sind hier:
0 = ∅, 1 = { 0 } , 2 = { 0, 1 } , 3 = { 0, 1, 2 } , 4 = { 0, 1, 2, 3 } , …
n + 1 = { 1, …, n } = n ∪ { n },
Diese Definition betont den Ordnungs- und den Mächtigkeitsaspekt der natürlichen Zahlen gleichermaßen. Jedes n hat genau n Elemente und die ∈ -Relation ordnet die natürlichen Zahlen linear. Wählt man als Unendlichkeitsaxiom:
(UN 2) Unendlichkeitsaxiom II
Es existiert eine Menge x, die die leere Menge als Element enthält
und die mit jedem ihrer Elemente y auch y ∪ { y } als Element enthält.
− so kann man die Ordinalzahlen 0, 1, 2, … nach von Neumann und Zermelo analog definieren wie oben Z0 definiert wurde. Man setzt:
ω = ⋂ { U ∈ ℘(x) | ∅ ∈ U und für alle y ∈ U ist y ∪ { y } ∈ U },
wobei x beliebig ist wie in (UN 2). Dieses ω ist dann die erste Limesordinalzahl. Man beweist, nur die Schnittdefinition verwendend, die elementaren Eigenschaften von ω, etwa:
(i) | ω ist transitiv, |
(ii) | n ∉ n für alle n ∈ ω, |
(iii) | n ≠ n + 1 = n ∪ { n } für alle n ∈ ω, usw. |
Weiter zeigt man, dass jede nichtleere Teilmenge von ω ein kleinstes (im Sinne der ∈ -Relation) Element hat, d.h. 〈 ω, < 〉 = 〈 ω, ∈ |ω 〉 ist eine Wohlordnung, und dies liefert Induktion und Rekursion über ω. ω ist die Menge der „natürlichen Zahlen“ innerhalb der Mengenlehre, mit der Ordinalzahldefinition nach von Neumann und Zermelo.
Was ist nun der Unterschied zwischen (UN) und (UN2)? Warum hat Zermelo Z0 betrachtet? Es zeigt sich: (UN) und (UN2) sind äquivalent, wenn man das Ersetzungsschema zu Zermelos Axiomatik mit hinzunimmt, das wir gleich besprechen werden. In der ursprünglichen − auf den Wohlordnungssatz zugeschnittenen − Zermelo-Axiomatik kann man dagegen die Existenz von ω wie oben definiert nicht zeigen. Generell gilt, dass in einer Axiomatik ohne Ersetzungsschema nur wenige Neumann-Zermelo-Ordinalzahlen existieren, egal, welche Form man dem Unendlichkeitsaxiom gibt. Unabhängig von einem notorischen Mangel an Neumann-Zermelo-Ordinalzahlen gilt ohne Ersetzungsschema der Rekursionssatz nicht einmal für beliebige abzählbare Wohlordnungen; wir bleiben im Limesschritt hängen, und Rekursionen der Länge ω liefern i. A. schon echte Klassen. Diesem für die Mengenlehre also sehr wichtigen Axiom wenden wir uns nun zu.
Die eben aufgestellten Behauptungen über die Notwendigkeit des Ersetzungsschemas lassen sich nur durch Modellkonstruktionen beweisen, was außerhalb dieses Textes liegt. Der Leser kann aber z.B. den Beweis des Rekursionssatzes noch einmal konsultieren, nachdem er das Ersetzungsschema kennengelernt hat, um zu sehen, wo es im Beweis eingeht.