Klassen als echte Objekte
Der Leser mag sich fragen, warum Klassen nicht offiziell als Objekte zugelassen sind, wenn sie sich größtenteils vernünftig benehmen und man mit ihnen viele vertraute Operationen durchführen kann.
In der Tat liegt dies nicht daran, dass man Klassen nicht axiomatisch in den Griff bekommen würde: Es gibt alternative Systeme − NBG von Neumann-Bernays-Gödel und das System MK von Morse-Kelley −, die neben Mengen auch Klassen als Objekte zulassen. Wir werden diese Systeme unten kurz beschreiben.
ZFC hat aber neben seiner Natürlichkeit weitere Vorteile: Die Theorie ist in metamathematischen Untersuchungen einfacher zu handhaben. Zudem kann man Klassen zumeist ohne Scheu verwenden durch die „Klassen sind Formeln“-Konvention. Bei obigen Alternativen kann man sofort die (platonische) Frage nach Meta- oder Superklassen aufwerfen. Cantor hätte echte Klassen als Objekte sicherlich abgelehnt. Für ihn waren „inkonsistente Vielheiten“ zwar benennbar, aber keine echten Gegenstände der Theorie. Man kann über die „Vielheit aller Ordinalzahlen“ reden, und auch Operationen mit ihnen, etwa in „die Vielheit aller Paare von Ordinalzahlen“ machen Sinn, aber man hat die Ordinalzahlen Ω oder Ω × Ω nie als fertiges Ganzes. ZFC folgt in diesem Sinne der Cantorschen Sicht der Dinge.
Das System NBG
NBG steht für „von Neumann, Bernays, Gödel“. John von Neumann hat zwischen 1925 und 1928 eine Axiomatik entwickelt, in der echte Klassen als Objekte zugelassen sind. Paul Bernays untersuchte zwischen 1935 und 1954 ein ähnliches System, und Gödel formulierte 1940 eine auf den Ideen von von Neumann und Bernays ruhende Axiomatik mit Klassen. Diese Systeme lassen sich sehr natürlich in einer Weise formulieren, in der die Unterschiede zu ZFC minimalisiert sind. (Das originale System von von Neumann benutzt den Funktionsbegriff als Grundbegriff anstatt der Elementrelation.)
Die Sprache von NBG ist die von ZFC, also ℒ. Wir schreiben aber die Variablen nun in Großbuchstaben X, Y, Z, und nennen die Objekte der Theorie nun nicht Mengen, sondern Klassen. Wir definieren dann:
(+) X ist eine Menge als die Formel ∃Y X ∈ Y.
Eine Klasse X heißt echte Klasse, falls X keine Menge ist.
Für alle Formeln φ definieren wir dann die Mengenquantifikation durch:
∀x φ als die Formel ∀X. X ist eine Menge → φ(X),
∃x φ als die Formel ∃X. X ist eine Menge ∧ φ(X).
Damit treten in Formeln Variablen x, y, z, X, Y, Z auf, die für Mengen bzw. Klassen stehen. Unsere Theorie enthält aber offiziell nur einen Typ von Objekten, genannt Klassen. Manche dieser Klassen sind Mengen, nämlich genau die, die sich in einer Klasse als Element finden. Wir haben definiert, was „X ist Menge“ heißen soll, so wie wir in ZFC definiert haben, was x ⊆ y bedeuten soll.
Die Axiome von NBG sind nun:
Extensionalitätsaxiom (EXT)
∀X,Y. X = Y ↔ ∀z. z ∈ X ↔ z ∈ Y
Die Axiome (LM), (PA), (VER), (POT), (UN), (FUN)
Diese Axiome sind identisch mit denen von ZFC.
Komprehensionsschema (KOM)
∀P1, … , Pn ∃Y ∀u. u ∈ Y ↔ φ(u, P1, …, Pn)
wobei φ(u, P1, …, Pn) eine Formel ist, die lediglich Mengenquantoren enthält, d. h. alle Quantoren in φ sind von der Form ∀x oder ∃x. (Dagegen erlauben wir allgemeine Klassenparameter P1, …, Pn.)
Ersetzungsschema (ERS)
∀F ∀x. F Funktion → ∃y ∀v. v ∈ y ↔ ∃u ∈ x (u, v) ∈ F,
wobei „F Funktion“ = „F ist rechtseindeutige Klasse von geordneten Paaren“ wie üblich definiert ist.
Auswahlaxiom (AC)
∃F. F Funktion ∧ ∀x. ∃y ∈ x → ∃z ∈ x (x, z) ∈ F.
Der wesentliche Unterschied zu ZFC ist also: Wir dürfen volle Komprehension (über Formeln ohne Klassenquantifizierungen) bilden, und erhalten Objekte. Sind diese Objekte zu groß, so tauchen sie in keinen anderen Objekten mehr als Elemente auf. Die echten Klassen bilden in gewisser Weise den Abschluss der Mengenwelt, man nimmt ihren Rand noch mit auf.
Es existiert nun die Russell-Zermelo-Klasse R = { x | x ∉ x }, liefert aber keinen Widerspruch mehr. Das übliche Argument zeigt lediglich, dass R eine echte Klasse ist. Es gilt R ∉ R. Analog existiert die echte Klasse V = { x | x ist Menge } = { x | ∃x x = x } nach dem Komprehensionsschema.
Weiter haben wir in NBG eine starke Form des Auswahlaxioms, eine globale Auswahlfunktion F auf der Klasse aller nichtleeren Mengen V − { ∅ }. Derartige globale Auswahlfunktionen F − genauer: Formeln, die F definieren − hat man in ZFC i. A. nicht (man hat sie aber z. B. in ZFC + „V = L“).
NBG beweist den folgenden Satz über Klassen, der im originalen System von von Neumann sogar ein Axiom ist, und der an Cantors Idee des „Hineinprojizierens“ erinnert (vgl. 2.13):
Satz (von-Neumann-Charakterisierung der Mengen in NBG)
Für alle X sind äquivalent:
(i) | X ist eine Menge. |
(ii) | Es gibt kein F : X → V surjektiv (mit V = { x | x ist Menge }). |
NBG hat dagegen keine wirklich neuen Axiome. Für das System NBG gilt zudem, dass eine Aussage, die nur Mengenquantoren enthält, in NBG − (AC) genau dann beweisbar ist, wenn sie in ZF beweisbar ist [Shoenfield 1954], und das gleiche gilt für NBG und ZFC. Die Verwendung von echten Klassen in NBG und eine globale Auswahlfunktion liefern keine neuen Erkenntnisse über Mengen.
Andererseits ist NBG im Gegensatz zu ZFC endlich axiomatisierbar: NBG enthält zwar wie ZFC ein unendliches Axiomschema in Form der Komprehension, jedoch gibt es ein zu NBG äquivalentes Axiomensystem bestehend aus Axiomen A1, … , An. Damit ist dann B = A1 ∧ … ∧ An eine einzige zu NBG (und, was Mengen betrifft, zu ZFC) äquivalente Aussage, eine Art Weltformel.
Eine etwas andere Formulierung des Systems NBG verwendet eine Sprache ℒ* mit zwei Sorten von Variablen, nämlich Mengenvariablen x, y, z …, und Klassenvariablen X, Y, Z, … Axiome, die diese beiden Variablen miteinander in Verbindung bringen sind dann „jede Menge ist eine Klasse“ und „jede Klasse enthält nur Mengen als Elemente“, also ∀x ∃Y x = Y und ∀X, Y. X ∈ Y → ∃z X = z. Ansonsten ist das System analog.
Obwohl ZFC und NBG sehr ähnlich sind, ist an vielen Stellen Vorsicht geboten. So gilt z. B. in NBG nicht, dass für jede echte Klasse X jede Wohlordnung 〈 X, < 〉 von X (im Sinne der Diskussion in „Geordnete Paare“ oben) gleichlang mit 〈 Ω, < 〉 ist mit
Ω = { α | α ist eine Ordinalzahl (und eine Menge) }.
〈 X, < 〉 = 〈 Ω, < 〉 + 〈 Ω, < 〉 macht Sinn und ist länger als 〈 Ω, < 〉.
Weiter gibt es in NBG im Allgemeinen keinen Beweis der φ-Induktion: Die Induktionsaussage (φ(0) ∧ ∀n ∈ ω. φ(n) → φ(n + 1)) → ∀n ∈ ω φ(n) ist i. A. in NBG nur für Formeln φ beweisbar, die lediglich Mengenquantoren enthalten [Mostowski 1951].
Das System MK
MK steht für „Morse, Kelley“. Es unterscheidet sich durch eine sehr naheliegende Liberalisierung der Komprehension. MK ist genau wie NBG, lediglich das Komprehensionsschema lautet nun:
Komprehensionsschema (KOM)
∀P1, … , Pn ∃Y ∀u. u ∈ Y ↔ φ(u, P1, …, Pn),
wobei φ(u, P1, …, Pn) eine beliebige Formel ist.
Siehe hierzu [ Morse 1965], den Anhang von [Kelley 1955] sowie [Wang 1949].
Das System MK ist freier als NBG, es gibt keine Verbote mehr bei der Komprehension, ein Formel-Check auf Klassenquantoren entfällt. Die Restriktion auf spezielle Formeln im Komprehensionsschema von NBG erscheint, öffnet man echten Klassen einmal die Tür, etwas halbherzig.
Das System MK ist im Gegensatz zu NBG nicht mehr endlich axiomatisierbar, und beweist neue Aussagen (metamathematischer Natur) über Mengen ([Kreisel / Levy 1968], [Kurata 1964], [Shepherdson 1951, 1952, 1953]). Das ist kein Grund, von ZFC auf eine Klassentheorie zu wechseln, denn die fehlenden Aussagen über Mengen lassen sich, ebenso wie die Konsistenz der Systeme NBG und MK, in Erweiterungen von ZFC um relativ schwache große Kardinalzahlaxiome beweisen (unerreichbare Kardinalzahlen oder Mahlo-Kardinalzahlen genügen). Erweiterungen von ZFC um solche große Kardinalzahlaxiome erlauben es, Modelle für mengentheoretische Klassentheorien wie NBG und MK in einer Objektwelt ohne Klassen zu untersuchen. Es gibt also keinen Grund für Neid und kein Gefühl des Mangels in einer liberal verstandenen Theorie, die keine Klassen kennt.
Mehr über NBG und MK findet der Leser neben den Originalarbeiten in [Fraenkel / Bar-Hillel / Levy 1973].