4. Zeittafel zur frühen Mengenlehre
Die folgende Tafel dokumentiert wichtige Stationen der Entwicklung der Mengenlehre. Abgedeckt ist etwa der Zeitraum von 1873 − 1930, wobei darüber hinaus die mengentheoretischen Resultate von Gödel aus den 30er Jahren und Cohen von 1963 angesprochen werden. Die Tafel endet mit einem sehr knappen Eintrag zu modernen Entwicklungen.
Daten zur allgemeinen Logik sind nicht eingearbeitet. Zur Auswahl ist zu darüber hinaus zu sagen, dass der Autor unter „Mengenlehre“ die (intuitiv oder formal präsentierte) mathematische Theorie versteht, in deren Zentrum die Begriffe der Mächtigkeit und der Wohlordnung stehen. Daher sind keine Daten aufgenommen, die Beiträge zur bloßen Bildung des Konzepts „Menge“ − etwa solche von Bolzano, Dedekind, Riemann − und seiner wachsenden Bedeutung für die Mathematik des 19. Jahrhundert widerspiegeln würden.
Die Jahreszahlen beziehen sich auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung von Resultaten, wenn es aus dem kommentierenden Text nicht anders hervorgeht.
7. Dezember 1873 : Überabzählbarkeit von ℝ
Geburtstag der Mengenlehre. Cantor beweist die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen, wobei die Vollständigkeit von ℝ benutzt wird − das wohl in den 80er Jahren gefundene Diagonalargument stellt er erst 1891 der Öffentlichkeit vor. Er veröffentlicht sein Resultat 1874 zusammen mit einem auch von Dedekind gefundenen Beweis der Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen. Es ergibt sich so ein neuer Beweis für die Existenz transzendenter Zahlen. (Manche Historiker würden das „auch“ im vorletzten Satz wahrscheinlich streichen. Cantor zumindest hat Dedekind in der Arbeit unerwähnt gelassen, und später aufrecht erhalten, den Beweis selbst gefunden zu haben. Der Autor dieses Buches bleibt bei „auch“.)
1878 : Mächtigkeitsbegriff, |ℝn| = |ℝ|, Kontinuumshypothese
Definition von „zwei Mengen haben die gleiche Mächtigkeit“ und „eine Menge hat kleinere Mächtigkeit als eine andere“ durch Cantor. Die Vergleichbarkeit von zwei Mengen bzgl. ihrer Mächtigkeit nimmt Cantor hier noch als gegeben an; das Problem wird erst 1904 durch den Wohlordnungssatz von Zermelo vollständig gelöst.
Cantor zeigt, dass ℝn und ℝ gleichmächtig sind für alle n ≥ 1.
Erste Formulierung der Kontinuumshypothese.
Diagonalaufzählung von ℕ2 durch ein Polynom zweiten Grades.
1880 : iterierte Ableitungen, Notationen für transfinite Prozesse
Cantor macht die ersten Schritte im Reich der transfiniten Zahlen. Durch die iterierte Ableitung von Punktmengen entstehen erste arithmetische Notationen für die Stufen transfiniter Prozesse (in heutiger Sprache bis etwa hin zu ε0 ). Cantor spricht von einer „dialektische[n] Begriffserzeugung, welche immer weiter führt und dabei frei von jeglicher Willkür in sich notwendig und konsequent bleibt.“ In einer Fußnote gibt er an, mit dieser Begriffserzeugung der transfiniten Ordnungen schon seit zehn Jahren vertraut zu sein.
1882 : Klassisch-Platonischer Mengenbegriff, Separabilität von ℝn
Cantor nennt eine Menge wohldefiniert, „wenn auf Grund ihrer Definition und in Folge des logischen Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten“ es „intern bestimmt“ ist, ob irgendein Objekt (einer gegebenen „Begriffssphäre“) der Menge angehört oder nicht, und ob zwei in verschiedener Weise definierte Elemente einer Menge identisch sind oder verschieden. Es ist für die Wohldefiniertheit und damit für die Existenz der Menge nicht wesentlich, ob das Elementsein von Objekten und das Gleichsein von Elementen tatsächlich auch „extern bestimmt“ ist, d. h. durch einen Beweis erkannt werden kann.
Beweis (in heutiger Formulierung), dass ℝn für jedes n ≥ 1 separabel ist, d. h. es existiert eine abzählbare dichte Teilmenge von ℝn.
1883 : Wohlordnungsbegriff, Erzeugungsprinzipien, perfekte Mengen
Cantor beschreibt zwei „Erzeugungsprinzipien“ (Nachfolgerbildung und Limesbildung), die transfinite Zahlen generieren. ω-Notation für die erste transfinite Zahl.
Cantor definiert den Begriff einer wohlgeordneten Menge, und stellt damit dem Begriff der Mächtigkeit die wichtigste Begriffsbildung der Mengenlehre an die Seite.
Definition einer perfekten Menge von reellen Zahlen. Cantor gibt auch ein Beispiel für eine nirgends dichte nichtleere perfekte Menge − die heutige Cantormenge mit ihrer fernöstlich anmutenden Visualisierung.
1883 : Kardinalzahlen und Ordinalzahlen als Universalien
In einem Vortrag im September in Freiburg stellt Cantor der Öffentlichkeit seine Vorstellung von Kardinalzahlen und Ordinalzahlen als Allgemeinbegriff oder „Universalien“ vor, die er später in seinen Schriften wiederholt und erläutert (vgl. die Zitate am Ende von 1. 4 und am Anfang von 2. 6, und siehe [Cantor 1887].)
1884 : Lösung des Kontinuumsproblems für abgeschlossene Mengen
Definition einer abgeschlossenen Menge von reellen Zahlen durch Cantor. Satz von Cantor-Bendixson: Es existiert eine eindeutige Zerlegung einer abgeschlossenen Punktmenge in ihren perfekten Kern und einen abzählbaren Rest. Cantor zeigt weiter, dass nichtleere perfekte Mengen immer die Mächtigkeit der reellen Zahlen besitzen. Zusammengenommen ergibt sich, dass abgeschlossene Mengen immer abzählbar oder von der Mächtigkeit des Kontinuums sind, und damit ist die Kontinuumshypothese für die abgeschlossenen Mengen bewiesen.
1887 : Philosophische Arbeit von Cantor
In seinen „Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten. I“ verteidigt Cantor seinen aktual unendlichen Mengenbegriff gegen philosophische Einwände, und er erläutert seine Vorstellung von Kardinal- und Ordinalzahlen als durch Abstraktion gewonnene Gebilde aus Einsen (vgl. Eintrag zu 1883).
1888 : Endlichkeitsdefinition von Richard Dedekind
In seinem Buch „Was sind und was sollen die Zahlen“ definiert Dedekind: Eine Menge ist unendlich, wenn sie zu einer echten Teilmenge von sich selbst gleichmächtig ist. Dieses Charakteristikum unendlicher Mengen findet sich bereits in den einleitenden Worten von [Cantor 1878].
1891 : Satz von Cantor: Das Diagonalargument
In einem Vortrag auf der ersten Tagung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung in Halle zeigt Cantor durch Diagonalisierung, dass (in heutiger Formulierung) die Potenzmenge einer Menge immer größere Mächtigkeit hat als die Menge selbst (Satz von Cantor). Aus dem Beweis ergibt sich das Diagonalverfahren für eine Liste reeller Zahlen in Dezimaldarstellung, mit dem die Überabzählbarkeit von ℝ heute zumeist bewiesen wird.
1895/1897 : Cantors abschließende systematische Darstellung
Zwei längere, lehrbuchartige Artikel von Cantor. (Neue Hauptresultate und Konstruktionen: Charakterisierung der Ordnungstypen von ℚ und ℝ, Vergleichbarkeitssatz für Wohlordnungen, Definition der Ordinalzahlpotenz durch transfinite Rekursion, Cantorsche Normalform, ε-Zahlen.) Cantor hat seit längerer Zeit Einsichten in „zu große“ Zusammenfassungen, veröffentlicht aber hierzu nichts.
1897 : Bernstein beweist den Satz von Cantor-Bernstein-Dedekind
In einem Seminar in Halle beweist der 19jährige Felix Bernstein den Satz. Cantor teilt den Beweis Borel auf dem ersten internationalen Mathematiker-Kongress in Zürich mit, der ihn in [Borel 1898] veröffentlicht (als Resultat von Bernstein). Dedekind hatte 1887 einen Beweis gefunden, ihn aber nicht in seinem Buch „Was sind und was sollen die Zahlen?“ von 1888 veröffentlicht, und ihn auch Cantor nicht mitgeteilt. Zermelo hat 1908 den Beweis von Dedekind wiederentdeckt, dieser selbst findet sich im Nachlass von Dedekind (siehe [Dedekind 1930 − 1932]).
1900 : Hilberts Problemliste, Bericht von Arthur Schoenflies
Hilbert setzt Cantors Kontinuumsproblem an die erste Stelle seiner Liste von offenen Fragen, die er auf dem zweiten internationalen Mathematiker-Kongress in Paris vorstellt.
Arthur Schoenflies verfasst im Auftrag der Deutschen Mathematiker-Vereinigung einen 250-seitigen Bericht über „Die Entwicklung der Lehre von den Punktmannigfaltigkeiten“. Dieser Bericht wird 1908 ergänzt und erscheint 1913 in überarbeiteter Form.
1904 : Zermelos Wohlordnungssatz
Zermelo beweist den Wohlordnungssatz. Sein Beweis stößt auf zum Teil heftige Ablehnung aufgrund der Verwendung eines abstrakten Auswahlprinzips.
1905 : Ungleichung von Julius König
König zeigt den heute nach ihm (und Zermelo) benannten Satz der Kardinalzahlarithmetik.
1906 : Hessenbergs Buch, Beweis des Multiplikationssatzes
Hausdorff nennt in seinem eigenen Lehrbuch „Grundbegriffe der Mengenlehre“ von 1914 Hessenbergs Buch „die erste allgemein gehaltene Darstellung“ der Theorie der wohlgeordneten Mengen, und das Buch ist bis 1914 sicher die beste Einführungsliteratur in die Mengenlehre neben den Cantorschen Originalarbeiten. Darüber hinaus enthält es neue Ergebnisse und Begriffe. Hessenberg untersucht parallel zu und unabhängig von Hausdorff den Konfinalitätsbegriff, und weiter betrachtet er eingehend Fixpunkte von Normalfunktionen (in heutiger Sprache), in Fortsetzung der Theorie der ε-Zahlen von Georg Cantor.
In seinem Buch beweist Hessenberg auch zum ersten Mal vollständig den Multiplikationssatz: Es gilt |M × M| = |M| für alle unendlichen Mengen M. 1908 legt Jourdain einen zweiten Beweis vor. Hausdorff hatte schon 1904 die Regularität von Nachfolgerkardinalzahlen behauptet, aus der der Satz leicht folgt. Bernstein berichtet in seiner Dissertation 1901, dass bereits Cantor den Satz für wohlordenbare Mengen bewiesen hatte.
1906 − 1908 : Untersuchung von linearen Ordnungen durch Hausdorff
Felix Hausdorff arbeitet völlig unbeeindruckt von den Paradoxien und der Grundlagendiskussion an einer allgemeinen Theorie der Ordnungstypen von linear geordneten Mengen, in Fortsetzung der Cantorschen Untersuchung von Ordinalzahlen und ihrer Arithmetik.
1908 : Zermelo-Axiomatik, Existenz von Bernstein-Mengen
Zermelo gibt einen zweiten Beweis für den Wohlordnungssatz und stellt ein nichtformales Axiomensystem auf, welches die Prinzipien isoliert, die für eine Entwicklung der Grundbegriffe der Mengenlehre und einen Beweis des Wohlordnungssatzes gebraucht werden. Das System enthält bis auf Fundierung und Ersetzung alle Axiome der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik. Es dauert bis nach dem zweiten Weltkrieg, bis das System von Zermelo vervollständigt und in der Sprache der Prädikatenlogik formuliert wird, und in dieser Form dann als geeignete und genügend gesicherte Grundlagentheorie für die Mathematik allgemeine Akzeptanz findet.
Bernstein zeigt, dass es eine Menge reeller Zahlen B gibt derart, dass weder die Menge B noch ihr Komplement ℝ − B eine nichtleere perfekte Teilmenge besitzen.
1908 : Frage nach der Existenz unerreichbar großer Zahlen
Hausdorff diskutiert die Frage, ob es reguläre Kardinalzahlen ℵα gibt derart, dass α eine Limeszahl ist. Heute heißen solche Zahlen schwach unerreichbare Kardinalzahlen. (Eine Kardinalzahl κ ist dabei regulär, wenn jede Teilmenge von W(κ), deren Mächtigkeit kleiner als κ ist, in κ beschränkt ist.)
1909 : Hessenberg über Kettentheorie
Gerhard Hessenberg verwendet die Zermelo-Axiomatik in einer Arbeit über Kettentheorie und Wohlordnung.
1911 : Paul Mahlo untersucht große Kardinalzahlaxiome
Aufbauend auf der Arbeit von Hausdorff von 1908 untersucht Mahlo zwischen 1911 und 1913 unerreichbare Kardinalzahlen, unerreichbare Kardinalzahlen, die ein Limes von unerreichbaren Kardinalzahlen sind, usw. Er findet auch den nach diesem „usw.“ liegenden, heute nach ihm benannten Begriff einer Mahlo-Kardinalzahl.
1914 : Lehrbuch „Grundzüge der Mengenlehre“ von Felix Hausdorff
In den Grundzügen gibt Hausdorff eine systematische und nichtaxiomatische Einführung in den aktuellen Stand der Cantorschen Mengenlehre und seine eigene Theorie der linearen Ordnungstypen. Gleiches Gewicht kommt dann der Untersuchung von „Punktmengen in allgemeinen Räumen“ zu. Hausdorff definiert topologische und metrische Räume und diskutiert Grundlagen der Maß- und Integrationstheorie. Der Text ist ein Jahrhundertwerk der Lehrbuchliteratur mit großer, wenn auch gemächlicher Wirkung. Letztendlich ist es der topologische Teil des Buches, der die größte Beachtung erfährt.
1915 : Äquivalenz von Vergleichbarkeitssatz und Wohlordnungssatz
Friedrich Hartogs zeigt, dass der Vergleichbarkeitssatz und der Wohlordnungssatz über den Axiomen von Zermelo ohne Auswahlaxiom äquivalent sind. Die Arbeit ist eine der wenigen, die die Axiomatik von Zermelo aufgreifen.
1916 : Lösung des Kontinuumsproblems für die Borelmengen
Hausdorff und Alexandrov beweisen unabhängig voneinander: Jede Borelmenge hat die Scheeffer-Eigenschaft (ist abzählbar oder besitzt eine nichtleere perfekte Teilmenge). Damit ist jede Borelmenge von reellen Zahlen abzählbar oder gleichmächtig mit ℝ. Vorstufen dieses Resultats sind: Cantor 1884 für abgeschlossene Mengen; Young 1903 für 𝒢δ-Mengen, und hierauf aufbauend Hausdorff 1914 für 𝒢δ σ δ-Mengen. 1917 zeigt die russische Schule um Alexandrov, Suslin und Lusin dann die Scheeffer-Eigenschaft sogar für die analytischen Mengen, d. h. die Bilder von Borelmengen unter stetigen Funktionen. (Bereits für die Menge der Komplemente von analytischen Mengen ist die Scheeffer-Eigenschaft dann unabhängig von ZFC. Insbesondere gibt es in Gödels Modell L eine analytische Menge A, sodass ℝ − A überabzählbar ist, aber keine perfekte Teilmenge besitzt. Genügend große Kardinalzahlen garantieren dagegen die Scheeffer-Eigenschaft für diese und viele weitere „einfache“ Mengen von reellen Zahlen.)
1919 : Lehrbuch von Abraham Fraenkel
Fraenkels „Einleitung in die Mengenlehre“ erscheint, basierend auf „Unterhaltungen, in denen ich Kriegskameraden (Nichtmathematikern) gelegentlich öde Stunden durch Einführung in Gedankengänge der Mengenlehre verkürzen konnte.“ 1923 und 1928 erscheinen erweiterte Auflagen, und Fraenkels Einleitung begleitet in dieser Zeit das Buch von Hausdorff als ein Standardwerk zur Mengenlehre. Die Mathematik ist hier weitgehend elementar, jedoch behandelt das Buch philosophische Aspekte und die Grundlagendiskussion.
1922 : Skolems Kritik, Ersetzungsaxiom, Fundierung
In einem Vortrag auf einem Kongress in Helsingfors kritisiert Thoralf Skolem Zermelos Begriff einer „definiten Aussage“ in dessen Aussonderungsaxiom, und schlägt (in heutiger Sprache) eine Formulierung des Eigenschaftsbegriffs in der Prädikatenlogik erster Stufe vor. Zermelo hat eine solche Formalisierung seiner Axiomatik abgelehnt [vgl. Zermelo 1929]. Es dauert dann auch noch etliche Jahre, bis die Formalisierung vollständig durchgeführt und akzeptiert ist.
Fraenkel diskutiert das Ersetzungsaxiom; ihm war 1921 aufgefallen, dass in der Zermelo-Mengenlehre die Existenz der Kardinalzahl ℵω nicht beweisbar ist. Unabhängig davon war ein Ersetzungsaxiom auch von Skolem 1922 und zuvor von Mirimanov 1917 betrachtet worden. Fraenkel schlägt außerdem ein Axiom der Beschränkung vor, dessen exakte Formulierung jedoch Schwierigkeiten macht. In eine exakte Form brachten es von Neumann 1925 und unabhängig hiervon Zermelo 1930. Zermelo benannte das Axiom als Fundierungsaxiom.
1923 : Ordinalzahldefinition von John von Neumann
John von Neumann definiert kanonische Repräsentanten für alle Klassen bestehend aus Wohlordnungen gleicher Länge. Die Konstruktion ist formal in der um das Ersetzungsaxiom angereicherten Zermelo-Axiomatik durchführbar, und die definierten Repräsentanten sind dann die (Neumann-Zermelo-) Ordinalzahlen, wie sie heute verwendet werden. (Das Ersetzungsaxiom wird gebraucht, um einen Repräsentanten für alle Klassen zu erhalten; in Modellen der Zermelo-Mengenlehre gibt es im Allgemeinen nur wenige Neumann-Zermelo-Ordinalzahlen.)
1925 − 1928 : Axiomatisierung von John von Neumann
Von Neumann entwickelt eine eigene Axiomatik, die den Funktionsbegriff statt den Mengenbegriff als Grundbegriff verwendet. In den 30er Jahren wurde diese Axiomatik von Bernays und dann noch einmal von Gödel 1940 vereinfacht, und dann mit Hilfe des Mengenbegriffs formuliert. Das resultierende System ist heute als NBG = Neumann−Bernays−Gödel−Mengenlehre bekannt. In ihr gibt es echte Klassen als Objekte, die Theorie NBG beweist aber dieselben Sätze über Mengen wie ZFC. Lange lief die Theorie NBG gleichbeachtet neben ZFC, ab den 50er Jahren wurde ZFC zur Standardtheorie.
1929 / 1930 : kumulative Hierarchie, Zermelo-Fraenkel-Axiomatik
Von Neumann untersucht 1929 die kumulative Hierarchie aller Mengen in seiner Axiomatik, Zermelo tut dies 1930 in einer Arbeit, in der er seine Axiome um das Ersetzungsaxiom und das Fundierungsaxiom erweitert. Die so entstehende Axiomatik wird seither als Zermelo-Fraenkel-Axiomatik bezeichnet, und wird heute mit ZFC abgekürzt (wobei dann zumeist die formalisierte Version gemeint ist).
1929 : Ultrafiltersatz von Tarski-Ulam
Ulam zeigt, dass ein nichttrivialer Ultrafilter auf ℕ existiert. Tarski verallgemeinert: Jeder Filter auf einer Menge M lässt sich zu einem Ultrafilter erweitern. Ulam verwendet eine Wohlordnung von ℝ, Tarski das Auswahlaxiom.
1930 : Ulam untersucht vollständige Maße
Ulam untersucht Maße auf Kardinalzahlen mit starken Vollständigkeitseigenschaften, was zum Begriff der messbaren Kardinalzahl führt. William Hanf und Alfred Tarski zeigen dann Anfang der 60er Jahre, dass die Existenz messbarer Kardinalzahlen viel stärker ist als die Existenz von unerreichbaren Kardinalzahlen oder auch von Mahlo-Kardinalzahlen.
1930 : Buch über deskriptive Mengenlehre von Lusin
Von Nikolai Lusin erscheint ein Buch über deskriptive Mengenlehre. Alexandrov, Lusin, Suslin und Sierpiński hatten ab 1916 die deskriptive Mengenlehre weiterentwickelt (vgl. hierzu auch den Eintrag in 3. 3 zum Buch von Hausdorff 1927). Insbesondere wurden projektive Mengen auf ihre Regularitätseigenschaften (Lebesgue-Messbarkeit, Baire-Eigenschaft, Scheeffer-Eigenschaft, Uniformisierbarkeit) untersucht. Die projektiven Teilmengen von ℝ sind dabei diejenigen Punktmengen, die man aus einer abgeschlossenen Menge eines Raumes ℝn durch iterierte Anwendung der Operationen „Projektion auf kleinere Dimensionen“ und „Komplementbildung“ erhalten kann. (Alle Borelmengen und alle analytischen Mengen sind projektiv; die analytischen Teilmengen von ℝ sind dabei genau die Projektionen von 𝒢δ-Mengen im ℝ2, und bilden zusammen mit ihren Komplementen das Anfangsstück einer natürlichen Hierarchie von projektiven Mengen.) Heute kennt man ein „Super-Regularitätsaxiom“ für die projektiven Mengen − das Axiom der projektiven Determiniertheit − , und weiß, dass es aus der Existenz von großen Kardinalzahlen folgt. Dinge weit draußen im Universum ermöglichen Beweise über definierbare Teilmengen von ℝ.
1935 : Relative Widerspruchsfreiheit des Auswahlaxioms
Kurt Gödel beweist die relative Konsistenz des Auswahlaxioms über der Theorie ZF (= ZFC ohne Auswahlaxiom). Das heißt genau: Ist ZF widerspruchsfrei, so ist auch ZFC widerspruchsfrei. Anders formuliert: Das Auswahlaxiom ist nicht verantwortlich, wenn in ZFC Widersprüche auftreten sollten. Gödel arbeitet in der Theorie ZF und definiert dort das sog. konstruktible Universum L, eine Teilklasse des Universums V. Die Klasse L enthält alle Ordinalzahlen, darüber hinaus aber nur die Mengen, die von den Axiomen explizit gefordert werden. Es zeigt sich, dass L ein Modell von ZF ist, und dass zudem L eine definierbare Wohlordnung besitzt. Damit ist L ein Modell von ZFC, und das Auswahlaxiom gilt dort in einer sehr starken globalen Form. Gödel veröffentlicht das Ergebnis 1938 zusammen mit dem analogen Ergebnis über die Kontinuumshypothese von 1937.
1937 : Relative Widerspruchsfreiheit von (GCH)
Gödel zeigt, dass in seinem Modell L die verallgemeinerte Kontinuumshypothese richtig ist. In L lässt sich die Konstruktion von Teilmengen von ω genau unter die Lupe nehmen, und es zeigt sich, dass es genau ω1-viele Schritte im Aufbau von L gibt, bei denen eine neue Teilmenge von ω zu L hinzukommt. Also gilt |℘(ω)| = ω1 in L, d. h. die Kontinuumshypothese gilt im konstruktiblen Universum. Die gleiche Beweisidee liefert die Gültigkeit der verallgemeinerten Kontinuumshypothese. (CH) und stärker (GCH) können also zu ZFC hinzugenommen werden, ohne dass die Widerspruchsfreiheit von ZFC dabei zerstört wird.
Die beiden Konstruktionen von Gödel zeigen: Das natürlichste Modell, das in ZF konstruiert werden kann, ist ein Modell des Auswahlaxioms und der verallgemeinerten Kontinuumshypothese. Ein Korollar zum Beweis ist: ZFC kann nicht beweisen, dass V und L verschieden sind (immer vorausgesetzt, dass ZFC konsistent ist.)
1938 − 1940 : Gödel veröffentlicht seine Resultate über L
1938 erscheint eine Zusammenfassung (für NBG), 1939 eine Beweisskizze (für ZF) und 1940 ein vollständiger Beweis der Resultate (für NBG).
Gödel hat weiter früh gesehen, dass L für die deskriptive Mengenlehre unangenehme Eigenschaften hat: Es gibt dort einfache projektive Mengen, denen die Regularitätseigenschaften nicht zukommen [vgl. Gödel 1938].
1963 : Die Erzwingungsmethode von Paul Cohen
Paul Cohen erfindet seine Erzwingungsmethode (forcing), ein sehr flexibles Werkzeug zur Konstruktion von Modellen. Während Gödels Konstruktion sich nach innen richtet und eine Teilklasse von V definiert, ist die Methode von Cohen extrovertiert und erweitert gegebene Modelle durch kontrolliertes Hinzufügen neuer Elemente. Cohen kann mit dieser Methode Modelle konstruieren, in denen die Kontinuumshypothese verletzt ist, und ein zusätzlicher Trick ermöglicht die Konstruktion eines Modells von ZF, in dem das Auswahlaxiom nicht gilt. Zusammen mit den Resultaten von Gödel ergibt sich so die Unabhängigkeit des Auswahlaxioms über der Theorie ZF und die Unabhängigkeit der Kontinuumshypothese über der Theorie ZFC: ZF kann das Auswahlaxiom weder beweisen noch widerlegen, ZFC kann die Kontinuumshypothese weder beweisen noch widerlegen (vorausgesetzt ZF − und damit ZFC − ist widerspruchsfrei). Weiter kann man Modelle von ZFC konstruieren, die „V ≠ L“ erfüllen, d. h. ZFC kann nicht beweisen und nicht widerlegen, dass alle Mengen konstruktibel sind.
Für die Resultate von Gödel und Cohen ist ein formaler logischer Rahmen unerläßlich, die Resultate sind präzise mathematische Sätze über die Grenzen der in der Prädikatenlogik erster Stufe formulierten Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre. Zwischen den Resultaten von Gödel und Cohen liegt mehr als ein Vierteljahrhundert, davor liegen große Anstrengungen, die von Zermelo informal begründete Axiomatik zu erweitern und zu formalisieren. Und insgesamt hat es 85 Jahre gedauert, bis man zeigen konnte, dass die von Cantor 1878 vermutete Kontinuumshypothese selbst mit den relativ starken Mitteln, die die Theorie ZFC zur Verfügung stellt, nicht zu lösen ist.
Einige Themen der modernen Mengenlehre
Einige große Gebiete der Mengenlehre am Beginn des 21. Jahrhunderts sind: Große Kardinalzahlen, innere Modelle, Forcing, deskriptive Mengenlehre/Axiom der Determiniertheit, unendliche Kombinatorik, Untersuchung von ZFC. Die seit Hausdorff und Mahlo untersuchten großen Kardinalzahlen bilden ein Zentrum des Interesses. Axiome, die die Existenz dieser Zahlen fordern, erscheinen heute als die natürlichsten Erweiterungen von ZFC. Ein inneres Modell ist eine transitive Klasse, innerhalb derer alle ZFC-Axiome gelten und die alle Ordinalzahlen enthält. Gödels inneres Modell L kann nur relativ kleine große Kardinalzahlen in sich tragen, erst die von Ronald Jensen initiierte Theorie und dann u. a. von John Steel weiterentwickelte Theorie der Kernmodelle liefert kanonische innere Modelle für große Kardinalzahlen. Die Theorie des Forcing ist, insbesondere durch Saharon Shelah, zur Reife gebracht worden, und auch hier bilden die großen Kardinalzahlen einen Schwerpunkt. Die deskriptive Mengenlehre baut auf den Vorarbeiten von Cantor, Hausdorff, Alexandrov, Lusin und Suslin auf, und untersucht definierbare Mengen von reellen Zahlen. Eine große Rolle spielt hier das sog. Axiom der Determiniertheit (AD) von Jan Mycielski (geb. 7. 2. 1932) und Hugo Steinhaus (14. 1. 1887 − 25. 2. 1972) aus dem Jahr 1962, ein Axiom über die Existenz von Gewinnstrategien für unendliche Zweipersonenspiele, das in voller Stärke dem Auswahlaxiom widerspricht, aber in seinen schwachen Versionen Regularitätseigenschaften definierbarer Mengen sicherstellt. Auch hier wiederum sind die Beziehungen zu großen Kardinalzahlen sehr eng, und (AD) ist eng verwoben mit den sogenannten Woodin-Kardinalzahlen, benannt nach dem Mengentheoretiker Hugh Woodin. Die unendliche Kombinatorik versucht, die logische Stärke von kombinatorischen Prinzipien zu ermitteln. Dabei tritt das Äquikonsistenzphänomen auf, dass nämlich diese recht ungeordnet auftretenden Prinzipien jeweils gleichstark zu großen Kardinalzahlaxiomen sind. Letztere sind linear geordnet, und so erhalten natürliche mengentheoretische Aussagen eine unerwartete lineare Struktur. Insgesamt zeigen die Untersuchungen im Reich der über ZFC hinausgehenden Prinzipien, dass das Chaos dort nicht, wie man befürchten könnte, die Oberhand behält. Es gibt daneben nicht zuletzt auch Untersuchungen, die ganz in ZFC verbleiben: Es gibt in ZFC z. B. tiefliegende kombinatorische Ergebnisse und Resultate über Kardinalzahlarithmetik. Eine umfassende Theorie zur Kardinalzahlarithmetik in ZFC wurde in den 90er Jahren von Shelah entwickelt.
Ob sich die Frage nach der Kardinalität des Kontinuums irgendwann in überzeugender Weise doch beantworten lässt, ist weiter offen. Die Resultate von Gödel und Cohen zeigen ja nur, dass man dies nicht in ZFC tun kann. In letzter Zeit erschienen Beiträge zum Kontinuumsproblem von Hugh Woodin, die darauf hindeuten könnten, dass die Kontinuumshypothese mit besseren Gründen als falsch denn als wahr anzusehen ist. Mehr wird die Zukunft zeigen.
Woodin (2001):
„So, is the Continuum Hypothesis solvable? Perhaps I am not completely confident the ‘solution’ I have sketched is the solution, but it is for me convincing evidence that there is a solution. Thus, I now believe the Continuum Hypothesis is solvable, which is a fundamental change in my view of set theory. While most would agree that a clear resolution of the Continuum Hypothesis would be a remarkable event, it seems relatively few believe that such a resolution will ever happen.
Of course, for the dedicated skeptic there is always the ‘widget possibility’. This is the future where it is discovered that instead of sets we should be studying widgets. Further, it is realized that the axioms for widgets are obvious and, moreover, that these axioms resolve the Continuum Hypothesis (and everything else). For the eternal skeptic, these widgets are the integers (and the Continuum Hypothesis is resolved as being meaningless)…
The view that progress towards resolving the Continuum Hypothesis must come with progress on resolving all instances of the Generalized Continuum Hypothesis seems too strong. The understanding of H(ω) [= { x | für alle xn ∈ xn − 1 ∈ … ∈ x1 ∈ x0 = x gilt: xi ist endlich für alle 0 ≤ i ≤ n } = { x | x ist erblich endlich }] did not come in concert with an understanding of H(ω1) [= { x | für alle xn ∈ xn − 1 ∈ … ∈ x1 ∈ x0 = x gilt: xi ist abzählbar für alle 0 ≤ i ≤ n } = { x | x ist erblich abzählbar }], and the understanding of H(ω1) failed to resolve even the basic mysteries of H(ω2) [= { x | x ist erblich von der Kardinalität ≤ ℵ1]. The universe of sets is a large place. We have just barely begun to understand it.“