3. Das Bertrandsche Postulat
Bereits unsere ersten Abschätzungen der Primzahlzählfunktion haben ergeben, dass es für alle n ≥ 1 mindestens n Primzahlen im Intervall { 1, …, 2n } gibt (vgl. den Essay zum kombinatorischen Beweis von Perott). Dies motiviert die folgende Frage:
Liegt zwischen 2n und 2n + 1 immer mindestens eine Primzahl?
Die Antwort ist „ja“, und es gilt sogar stärker:
Satz (Bertrandsches Postulat, Satz von Bertrand-Chebyshev)
Sei n ≥ 1. Dann gibt es eine Primzahl p mit n < p ≤ 2n.
Das Ergebnis besticht durch seine einfache Formulierung: Zwischen einer Zahl und ihrem Doppelten liegt immer eine Primzahl. Dabei kann „zwischen“ sogar als „echt zwischen“ gelesen werden, wenn wir Zahlen ab 2 betrachten: Für alle n ≥ 2 gibt es eine Primzahl p mit n < p < 2n. Denn ist n ≥ 2, so ist 2n eine gerade zusammengesetzte Zahl.
Beispiele
1, 2 | enthält die Primzahl 2 |
2, 3, 4 | enthält im Inneren die Primzahl 3 |
3, 4, 5, 6 | enthält im Inneren die Primzahl 5 |
4, 5, 6, 7, 8 | enthält im Inneren die Primzahlen 5, 7 |
5, 6, 7, 8, 10 | enthält im Inneren die Primzahl 7 |
6, 7, 8, 9, 10, 11, 12 | enthält im Inneren die Primzahlen 7, 11 |
7, …, 14 | enthält im Inneren die Primzahlen 11, 13 |
Der Satz von Bertrand-Chebyshev wurde 1845 als Hypothese von Joseph Bertrand formuliert und für viele Zahlen wie in unseren Beispielen per Hand verifiziert. Chebyshev gelang kurze Zeit später ein analytischer Beweis der Hypothese von Bertrand (veröffentlicht 1852). Wir geben in diesem Essay einen Beweis des „Elementarmagiers“ Erdös von 1932, der auf dem Beweis des Satzes von Chebyshev aufbaut. Erdös verwendete Methoden, die Landau in seinen „Vorlesungen über Zahlentheorie“ von 1927 entwickelt hatte. Zunächst wollen wir die Aussage noch etwas genauer betrachten. Äquivalent ist:
Satz (Primzahlformulierung des Bertrandschen Postulats)
Für alle Primzahlen q gibt es eine Primzahl p mit q < p ≤ 2q.
Diese Version folgt unmittelbar aus der obigen. Um die Umkehrung einzusehen, nehmen wir an, dass die Primzahlformulierung gilt. Das Bertrandsche Postulat gilt für n = 1. Ist nun n ≥ 2 beliebig, so sei q die größte Primzahl kleinergleich n. Dann gibt es eine Primzahl p mit q < p ≤ 2q. Aufgrund der Maximalität von q ist p > n. Wegen q ≤ n gilt 2q ≤ 2n, sodass insgesamt n < p ≤ 2n.
Durch die Konzentration auf Primzahlen wie in der Primzahlformulierung lässt sich das Bertrandsche Postulat für ein großes Anfangsstück der natürlichen Zahlen überraschend leicht nachweisen. Ist
2 = p1 < p2 < p3 < … < pk
eine Folge von Primzahlen mit pi + 1 < 2pi für alle i < k, so zeigt die Folge, dass für alle n < pk eine Primzahl p mit n < p ≤ 2n existiert, d. h. das Postulat gilt „bis pk“. Zum Beweis betrachten wir wieder ein maximales i mit pi ≤ n.
Beispiel
Die Primzahlen
2, 3, 5, 7, 13, 23, 43, 83, 163, 317, 631, 1259, 2503, 5003, 9973,
19937, 39869, 79699, 159389, 318751, 637499,
1274989, 2549951, 5099893, 10199767
sind streng monoton wachsend und derart, dass jeder Nachfolger kleiner als das Doppelte seines Vorgängers ist. Sie zeigen damit, dass das Bertrandsche Postulat für alle n < 107 gültig ist. Es genügen also 25 Primzahlen, um die Aussage für ein recht großes Anfangsstück der natürlichen Zahlen zu verifizieren.
Nach diesen Vorbereitungen können wir nun den Beweis des Bertrandschen Postulats nach Erdös präsentieren. Dabei bauen wir auf den Ergebnissen und Methoden auf, die wir in den vorangehenden Essays zum Satz von Chebyshev entwickelt haben.
Schritt 1: Abschätzung der Primzahlfakultät
Wir beginnen mit einer für sich interessanten Abschätzung des Produkts der ersten Primzahlen. Für jede natürliche Zahl n hatten wir die Primzahlfakultät n# definiert durch
n# = „das Produkt aller Primzahlen p mit p ≤ n“ = ∏p ≤ n p.
(Hier und im Folgenden bezeichnet wieder ein „p“ im Index einer Summe oder eines Produkts stets eine Primzahl.)
Mit Hilfe der mittleren Binomialkoeffizienten können wir nun zeigen:
Satz (Abschätzung für die Primzahlfakultät)
Es gilt:
(1) | n# < 4n − 1 für alle n ≥ 2, |
(2) | n# < 4n − 2 für alle n ≥ 4. |
Damit gilt ∑p ≤ n log2(p) < 2(n − 2) für alle n ≥ 4.
Beweis
Die Ungleichung „n# < 4n − 1“ gilt für n = 2. Wir zeigen für alle n ≥ 1:
(a) | Gilt die Ungleichung für n, so gilt sie für 2n. |
(b) | Gilt die Ungleichung für n + 1, so gilt sie für 2n + 1. |
Dies genügt für einen induktiven Beweis (oder gleichwertig einen Beweis über ein kleinstes Gegenbeispiel) der Aussage (1).
Beweis von (a): Es gelte n# < 4n − 1 für ein n ≥ 1. Dann gilt nach den Teilbarkeitseigenschaften von bn (Teil (4)), dass
(2n)# < 4n − 1 ∏n < p ≤ 2n p ≤ 4n − 1 bn ≤ 22n − 2 22n − 1 = 24n − 3 < 42n − 1.
Beweis von (b): Es gelte (n + 1)# < 4(n + 1) − 1 = 4n für ein n ≥ 1. Dann gilt erneut nach den Teilbarkeitseigenschaften von bn + 1 (Teil (5) mit n + 1 ≥ 2), dass
(2n + 1)# < 4n ∏n + 1 < p < 2n + 2 p ≤ 4n bn + 12 ≤ 22n 22(n + 1) − 12 = 42n.
Die Aussage (2) gilt für n = 4, 5, 6 und wird analog durch (a) und (b) bewiesen. Der Zusatz ergibt sich durch Anwendung der Funktion log2.
Beispiele
2# = 2 < 4 = 42 − 1 | 3# = 2 · 3 = 6 < 16 = 43 − 1 |
4# = 3# < 43 − 1 = 44 − 2 | 5# = 2 · 3 · 5 = 30 < 45 − 2 |
6# = 5# < 45 − 2 < 46 − 2 | 7# = 2 · 3 · 5 · 7 = 210 < 47 − 2 |
Schritt 2: Neue Abschätzung der mittleren Binomialkoeffizienten
Sei n ≥ 1. Wir haben schon verwendet, dass in den mittleren Binomialkoeffizienten
bn = = (n + 1)(n + 2) … (2n)n!
jede Primzahl p mit n < p ≤ 2n jeweils genau einmal vorkommt. Erdös hat nun bemerkt (er spricht in seiner Arbeit vom „springenden Punkt“ seines Beweises), dass die Primzahlen zwischen 2/3 n und n gar nicht vorkommen:
Satz (Beobachtung von Erdös über das letzte Drittel)
Sei n ≥ 3, und sei p prim mit 2n/3 < p ≤ n. Dann ist p kein Teiler von bn.
Beweis
Wegen 2n < 3p, n < 2p ≤ 2n und p ≠ 2 taucht p im Zähler und Nenner von
(n + 1)(n + 2) … (2n)n!
jeweils genau einmal auf, nämlich in der Form 2p im Zähler und in der Form p im Nenner. Damit ist bn nicht durch p teilbar.
Der Leser vergleiche hierzu noch einmal die Tabelle der Primfaktorzerlegungen von b1, …, b20 im vorletzten Essay. Es gilt b1 = 2 und b2 = 6, sodass die Voraussetzung n ≥ 3 (die p ≠ 2 impliziert) wichtig ist.
Sei n ≥ 3. Dann können wir die die Primfaktorzerlegung von bn schreiben als
bn = ∏2 ≤ p ≤ 2n/3 pexp(bn) ∏n < p ≤ 2n p.
Wir setzen nun w = . Dann gilt ⌊w⌋ ≤ n, sodass wir die folgende dreiteilige Darstellung erhalten:
bn = ∏2 ≤ p ≤ w pexp(bn) ∏w < p ≤ 2n/3 pexp(bn) ∏n < p ≤ 2n p.
Nun schätzen wir die drei Produkte der Reihe nach ab:
(1) | Erstes Produkt: Es gilt pexp(bn) ≤ 2n für jede Primzahl p des ersten Produkts, sodass dieses Produkt durch (2n)π(w) und insbesondere durch (2n)w − 1 beschränkt ist. Für hinreichend große n lässt sich der Exponent w − 1 noch verbessern, indem Abschätzungen für π(w) verwendet werden. |
(2) | Zweites Produkt: Es gilt pexp(bn) ≤ 2n und p2 > 2n für jede Primzahl p des Produkts. Damit sind alle Exponenten dieses Produkts kleinergleich 1. Ist n ≥ 3, so ist 2n/3 ≥ 2, sodass das zweite Produkt nach unserer Abschätzung für die Primzahlfakultät durch 4⌊2n/3⌋ − 1 ≤ 42n/3 − 1 beschränkt ist. Für n ≥ 6 kann der Exponent um 1 erniedrigt werden (da dann 2n/3 ≥ 4). |
(3) | Drittes Produkt: Das Produkt ist beschränkt durch (2n)π(2n) − π(n). |
Wir erhalten damit:
Satz (Erdös-Abschätzung für bn)
Es gilt:
bn < (2n) − 1 42n/3 − 1 (2n)π(2n) − π(n) für alle n ≥ 3,
bn < (2n) 42n/3 − 2 (2n)π(2n) − π(n) für alle n ≥ 32,
bn < (2n) − 1 42n/3 − 2 (2n)π(2n) − π(n) für alle n ≥ 98.
Beweis
Es bleiben die Verstärkungen für n ≥ 32 und n ≥ 98 zu zeigen. Für alle x ≥ 8 ist π(x) ≤ x/2 (da π(8) = π(9) = 4 und weiter die geraden Zahlen 10, 12, 14, … nicht prim sind). Ist also n ≥ 32, so ist w ≥ 8, sodass in diesem Fall das erste Produkt durch (2n)w/2 = (2n) beschränkt ist. Ebenso gilt π(x) ≤ x/2 − 1 für alle x ≥ 14 (da π(14) = π(15) = 6). Ist also n ≥ 98 = 142/2, so ist w ≥ 14 und das Produkt beschränkt durch (2n) − 1.
Bemerkung
Eine Computerberechnung zeigt, dass die dritte Abschätzung sogar für alle n ≥ 6 gilt.
Das folgende Diagramm visualisiert das Ergebnis.
Das Diagramm zeigt die Logarithmen zur Basis 2 der Differenzen
(2n) − 1 42n/3 − 2 (2n)π(2n) − π(n) − bn (blau) und 22n − 1 − bn (gelb) für n ≥ 6
Damit haben wir unsere alte Abschätzung 22n − 1 für bn nicht verbessert. Entscheidend ist aber, dass wir die Werte π(2n) − π(n) ins Spiel gebracht haben.
Schritt 3: Beweis des Bertrandschen Postulats
Wir haben nun alle Bausteine in der Hand, um das Bertrandsche Postulat in einer starken Form beweisen zu können. Für alle n ≥ 1 setzen wir
B(n) = π(2n) − π(n) (mit „B“ wie „Bertrand“).
Wir verwenden die dritte Abschätzung, die etwas einfacher zu handhaben ist und eine durchweg positive Abschätzung liefert. Sei also n ≥ 98 (oder n ≥ 6 mit der Bemerkung). Dann gilt
(+) 22n2n ≤ bn < (2n) − 1 42n/3 − 2 (2n)B(n)
Ab jetzt werden die Binomialkoeffizienten nicht mehr benötigt. Multiplikation mit 2n und Sammeln der Potenzen ergibt
4n/3 + 2 < (2n) + B(n).
Durch Anwendung der Logarithmusfunktion zur Basis 2 erhalten wir
(n/3 + 2) log2(4) < ( + B(n)) log2(2n).
Es gilt log2(4) = 2. Wir haben also gezeigt:
Satz (Abschätzung für B(n))
Für alle n ≥ 98 (und stärker für alle n ≥ 6) gilt
B(n) > 2n/3 + 4log2(2n) − .
B(n) (rot) und 2n/3 + 4log2(2n) − (blau) für n ≤ 40 (oben)
Bis n = 200
Unsere Diagramme machen glaubhaft, dass die rechte (blau gezeichnete) Seite der Ungleichung des Satzes für alle n ≥ 1 positiv ist. Der Nachweis wird mit Hilfe der folgenden Abschätzung relativ übersichtlich:
Satz (Logarithmus-Abschätzung)
Es gilt
(#) 2log2(2n) ≤ für alle n ≥ 128.
Beweis
Für alle x ≥ 16 gilt x4 ≤ 2x, d. h. 2 log2(x2) ≤ x. Damit ist
2 log2(n) ≤ für alle n ≥ 256
oder gleichwertig
2 log2(2n) ≤ für alle n ≥ 128.
Damit können wir nun zeigen:
Satz (Bertrandsches Postulat, Satz von Bertrand-Chebyshev, starke Form)
Für alle n ≥ 1 gilt
B(n) > n6 log2(2n) > 0.
Insbesondere gibt es für alle n ≥ 1 eine Primzahl p mit n < p ≤ 2n. Weiter gibt es für alle k ≥ 1 ein n0 derart, dass für alle n ≥ n0 mindestens k Primzahlen im Intervall ] n, 2n ] existieren.
Beweis
Die erste Ungleichung lässt sich für n = 1, …, 127 direkt überprüfen. Sei also n ≥ 128. Nach unserer Abschätzung für B(n) und der Ungleichung (#) gilt dann
B(n) > 2n3 log2(2n) − = 2n3 log2(2n) −
≥ 2n3 log2(2n) − n2 log2(2n) ≥ n6 log2(2n).
Der Zusatz folgt aus limn → ∞ n/(6 log2(2n)) = ∞.
Bemerkung
Die Überprüfung der Ungleichung für n ≤ 127 ist per Computer leicht, aber auch per Hand noch durchführbar, da der Quotient an diesen Stellen relativ klein ist: Er ist kleiner als 1 bis n = 37, kleiner als 2 bis n = 89 und kleiner als 3 bis n = 127. Wenn es uns nur auf einen Beweis des Bertrandschen Postulats ankommt, müssen wir die Ungleichung nicht bis 127 überprüfen, denn wir wissen ja bereits, dass das Postulat bis zu dieser Stelle − und weit darüber hinaus − gilt. Die Abschätzung des Beweises zeigt dann, dass B(n) auch für Zahlen n ≥ 128 positiv ist.
Damit haben wir weit mehr bewiesen als das Bertrandsche Postulat. Zwischen einer natürlichen Zahl n und ihrem Doppelten befinden sich für große n sehr viele Primzahlen. Die Größenordnung der rechten Seite des Satzes entspricht der Größenordnung n/log(n) des Primzahlsatzes.
Wie oben, jedoch zusätzlich mit den Werten n6log2(2n) (gelb)
Ein größerer Ausschnitt