4.Annäherung an einen Beweis des Primzahlsatzes

Mit Hilfe unserer Ergebnisse über die Psi-Funktion können wir eine Abschwächung des Primzahlsatzes beweisen, die für sich interessant ist und zudem den Primzahlsatz glaubhaft macht. Etwas vereinfacht formuliert gilt:

Wir zeigen 69% des Primzahlsatzes in der Psi-Formulierung.

Die 69% ergeben sich dabei aus

log(2)  =  0,6931…

 Zur Motivation fixieren wir eine natürliche Zahl n ≥ 1. Betrachten wir ein beliebige Teilmenge A des Zahlenintervalls { 1, …, n }, so können wir im Allgemeinen nicht erwarten, dass die Anzahl der Primzahlen in A in etwa gleich der Anzahl der Primzahlen π(n) in { 1, …, n } mal |A|/n ist. Ein extremes Beispiel bilden die geraden Zahlen des Intervalls, die ja für n ≥ 2 genau eine Primzahl enthalten. Dies ist nicht überraschend, da die Menge der geraden Zahlen ja über eine Teilbarkeitseigenschaft definiert ist und so vom Begriff der Primzahl nicht unabhängig ist. Für viele andere Teilmengen A von { 1, …, n } sollte sich dagegen die Anzahl der Primzahlen in A durch π(n)|A|/n abschätzen lassen. Eine derartige Menge A werden wir nun kennenlernen.

 Im Zentrum der Argumentation steht die Chebychev-Identität über die ψ-Funktion (vgl. den Essay im Abschnitt über zahlentheoretische Funktionen):

Satz (Chebychev-Identität)

Sei x ≥ 1. Dann gilt:

ψ(x) + ψ(x/2) + ψ(x/3) + …  =  n ≤ x ψ(x/n)  =  log(⌊x⌋!)  =  n ≤ x log(n).

Hier und im Folgenden vereinbaren wir wieder, dass mit Pünktchen notierte Summen stets so weit laufen, wie die Summanden definiert sind.

 Substituieren wir x/2 für x in der Chebychev-Identität, so erhalten wir

n ≤ x/2 ψ((x/2)/n))  =  log(⌊x/2⌋!).

Dies ist äquivalent zu

2n ≤ x ψ((x/(2n))  =  log(⌊x/2⌋!),

was sich suggestiver in der Form

ψ(x/2) + ψ(x/4) + ψ(x/6) + …  =  log(⌊x/2⌋!)

liest. Ziehen wir das Doppelte dieser Identität von der Chebychev-Identität für x ab, so erhalten wir

ψ(x)  −  ψ(x/2)  +  ψ(x/3)  −  ψ(x/4)  +  …  =  n ≤ x ψ(x/n)  −  2 2n ≤ x ψ(x/(2n))

 =  log(⌊x⌋!)  −  2 log(⌊x/2⌋!)  =  log(⌊x⌋!⌊x/2⌋! ⌊x/2⌋!)

Wir fassen nun die ψ-Summanden der linken Seite paarweise zusammen:

(ψ(x)  −  ψ(x/2))  +  (ψ(x/3)  −  ψ(x/4))  +  (ψ(x/5)  −  ψ(x/6))  +  …

Diese Summe können wir als eine Teilsumme von

ψ(x)  =  pk ≤ x log(p)

auffassen, bei der die Summanden einer zusätzlichen Bedingung genügen müssen. Ein Summand log(p) wird für pk ≤ x genau dann aufgenommen, wenn pk ein Element von

I(x)  =  ] x/2, x ]  ∪  ] x/4, x/3 ]  ∪  ] x/6, x/5 ]  ∪  …  =  ⋃d ≥ 1 ] x/(2d), x/(2d − 1) ]

ist. Anschaulich formuliert: Die harmonische Folge x, x/2, x/3, x/4, … zerlegt das Intervall ] 0, x ] von rechts nach links in unendlich viele halboffene Intervalle. Die Menge I erhalten wir, indem wir die Intervalle 1, 3, 5, … vereinigen.

 Wir erhalten insgesamt

(+)  pk  ∈  I(x) log(p)  =  log(⌊x⌋!)  −  2 log(⌊x/2⌋!)

Zusammenhang mit Binomialkoeffizienten

Die Intervallvereinigung I(x) und die Bedingung „pk  ∈  I(x)“ sind uns aus unserer Analyse der Primfaktorzerlegung der Binomialkoeffizienten gut bekannt: Ist x eine gerade natürliche Zahl, so gilt

xx/2  =  x!(x/2)! (x/2)!  =  pk  ∈  I(x) p.

Anwendung des Logarithmus liefert (+).

Die Länge λ(I(x)) der Intervallvereinigung I(x) berechnet sich zu

λ(I(x))  =  (x  −  x/2)  +  (x/3  −  x/4)  +  …

Mit dem Grenzwert

log(2)  =  1  −  1/2  +  1/3  −  1/4  +  …

der alternierenden harmonischen Reihe gilt also

λ(I(x))  =  log(2) x.

Die Intervalle in I(x) decken also etwa 69,31% des gesamten Intervalls ] 0, x ] ab.

 Unsere Überlegungen motivieren die Definition einer Version der Psi-Funktion, die nur Primzahlpotenzen in I(x) berücksichtigt:

Definition (alternierende harmonische Psi-Funktion)

Wir definieren ψ* : [ 1, ∞ [   durch

ψ*(x)  =  pk  ∈  I(x) log(p),  wobei

I(x)  =  ⋃d ≥ 1 ] x/(2d), x/(2d − 1) ]  für x ≥ 1.

Nach unserer Berechnung gilt

(+)  ψ*(x)  =  ψ(x) − ψ(x/2) + ψ(x/3) − ψ(x/4)  +  …  =  log(⌊x⌋!⌊x/2⌋! ⌊x/2⌋!)

für alle x ≥ 1, was die Namensgebung „alternierend harmonisch“ motiviert. Ist x eine gerade natürliche Zahl, so gilt

xx/2  =  eψ*(x).

Die ψ*-Funktion ist damit eng mit den mittleren Binomialkoeffizienten verknüpft.

 Da in ψ*(x) nur Zahlen in I(x) berücksichtigt werden und λ(I(x)) = log(2) x gilt, lautet ein zu ψ(x) ∼ x analoger Primzahlsatz, dass ψ*(x) ∼ log(2) x. Diese asymptotische Äquivalenz können wir in der Tat vergleichsweise einfach beweisen! Wir verwenden hierzu die Stirling-Formel

n!  ∼  2πn (n/e)n(Stirling-Formel)

zur Abschätzung der Fakultät einer natürlichen Zahl n. Eine dreifache Anwendung der Stirling-Formel liefert

(++)  ⌊x⌋!⌊x/2⌋! ⌊x/2⌋!  ∼  2π⌊x⌋ 2⌊x⌋,

also ein exponentielles Wachstum zur Basis 2.

prim1-AbbID-stirling_a

Zur Stirling-Formel: Die Werte log(n!2πn(n/e)n) für n = 1, …, 100.

Die logarithmischen Werte dienen dabei der Übersichtlichkeit.

 Mit Hilfe der Stirling-Formel können wir nun beweisen:

Satz (Primzahlsatz für die Psi*-Funktion)

Es gilt ψ*(x) ∼ log(2) x.

Beweis

Nach (+), (++), den Eigenschaften der asymptotischen Äquivalenz sowie den Logarithmusregeln gilt

ψ*(x) =  log(⌊x⌋!⌊x/2⌋! ⌊x/2⌋!)
∼  log(2π⌊x⌋ 2⌊x⌋)
=  log(2) − log(π) − log(⌊x⌋)2  +  ⌊x⌋ log(2)

Da der erste Summand auf der rechten Seite bei Division durch ⌊x⌋ gegen 0 strebt, wenn x gegen unendlich strebt, ergibt sich

ψ*(x)  ∼  ⌊x⌋ log(2)  ∼  x log(2).

 So schön und glatt können Primzahlbeweise sein! Das folgende Diagramm zeigt die beteiligten Funktionen.

prim1-AbbID-psistarpnt_a

Die Funktionen ψ*(x) (blau), log(2) x (gelb) und log(2) ⌊x⌋ (grün)

Die restlichen 31 Prozent

 Unser Teilergebnis macht den vollständigen Primzahlsatz glaubhaft: Es gibt im Gegensatz zu den geraden Zahlen und anderen Mengen keinen Grund anzunehmen, dass die Primzahlen in der harmonischen Intervallvereinigung I(x) anders verteilt sein sollten als in der Komplementmenge

J(x)  =  ] x/3, x/2 ]  ∪  ] x/5, x/4 ]  ∪  …  =  ⋃d ≥ 1 ] x/(2d + 1), x/(2d) ]

Die Länge des Komplements J(x) ist

λ(J(x))  =  x − λ(I(x))  =  (1 − log(2))x.

Einen vollständigen Beweis des Primzahlsatzes würden wir erhalten, wenn wir

ψ**(x)  ∼  (1 − log(2))x

zeigen könnten, wobei

ψ**(x)  =  pk  ∈  J(x) log(p).

Leider scheint es im Gegensatz zu

ψ(x) − ψ(x/2) + ψ(x/3) − ψ(x/4) + …  =  log(⌊x⌋!⌊x/2⌋! ⌊x/2⌋!)

keine einfache Formel für

ψ(x/2)  −  ψ(x/3)  +  ψ(x/4)  −  ψ(x/5)  +  …

zu geben, die nicht bereits den Wert ψ(x) voraussetzen würde. Auch scheint das Produkt pk  ∈  J(x) p im Gegensatz zu pk  ∈  I(x) p keiner kombinatorischen Struktur mehr zu entsprechen, die wir in Analogie zu den Binomialkoeffizienten behandeln könnten. Der Ansatz lässt sich immerhin noch soweit verallgemeinern, dass er allgemeineren Binomialkoeffizienten entsprechende Ergebnisse liefert. Die Primzahlbänder der Binomialkoeffizienten lassen sich aber nicht derart zusammenfügen, dass sich eine einfache Darstellung des Komplements J(x) ergeben würde. Der Versuch, ψ(x) durch eine Einschluss-Ausschluss-Darstellung mit Hilfe von Summen der Form

± (ψ(x/d)  +  ψ(x/(2d))  +  ψ(x/(3d))  +  …),  d ≥ 1,

zu berechnen führt nach Erfahrung des Autors letztendlich nur zu einem komplizierten Beweis der Umkehrformel von Möbius.

 Der Leser denkt nun vielleicht: „Es kann doch nicht sein, dass wir die Primzahlpotenzen J(x) nicht in den Griff kriegen, wenn es mit den Primzahlpotenzen in I(x) vergleichsweise einfach war.“ Er möge es versuchen! Dass ein elementarer Beweis des Primzahlsatzes mit Hilfe der von Chebychev entwickelten Methoden in greifbarer Nähe zu sein scheint macht einen großen Reiz des Problems aus. Der elementare Beweis von Selberg (1949) setzt den von Chebychev eingeschlagenen Weg erfolgreich fort, aber Selbergs Beweis ist immer noch recht kompliziert. Vielleicht wird einmal ein wirklich einfacher Beweis gefunden. Vielleicht gibt es aber auch keinen derartigen Beweis. Wir wissen es nicht.

 Ein berühmter vergleichbarer Fall, bei dem sich ein „leicht verschobenes“ Problem als deutlich schwieriger herausstellt als man annehmen könnte, betrifft die Werte

ζ(n)  =  1  +  12n  +  13n  +  14n  +  …

der Zetafunktion an den natürlichen Zahlen n ≥ 2. Die Werte ζ(2), ζ(4), ζ(6), … an den geraden Stellen sind explizit bekannt (etwa ζ(2) = π2/6, ζ(4) = π4/90), die Werte ζ(3), ζ(5), ζ(7), … dagegen nicht. Analog scheint es mit ψ*(x) und ψ**(x) sein: ψ*(x) ist vergleichsweise leicht asymptotisch zu berechnen, ψ**(x) dagegen nicht. Es kann aber auch sein (in beiden Fällen), dass wir ein Argument übersehen haben…