3. Euklids Beweis im Original
Wir betrachten nun Euklids Beweis im Wortlaut. Er findet sich im neunten Buch der „Elemente“. Dieses Buch behandelt Primzahlen einschließlich der Frage der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung und weiter Eigenschaften von geraden und ungeraden natürlichen Zahlen. Die Unendlichkeit der Primzahlen lautet bei Euklid:
Euklid: Elemente, Neuntes Buch, §20 (Übersetzung von Clemens Thaer):
„Es gibt mehr Primzahlen als jede vorgelegte Anzahl von Primzahlen.
Die vorgelegten Primzahlen seien a, b, c. Ich behaupte, dass es mehr Primzahlen gibt als a, b, c.
Man bilde die kleinste von a, b, c gemessene Zahl (VII, 36); sie sei DE, und man füge zu DE die Einheit DF hinzu. Entweder ist EF dann eine Primzahl, oder nicht. Zunächst sei es eine Primzahl. Dann hat man mehr Primzahlen als a, b, c gefunden, nämlich a, b, c, EF.
Zweitens sei EF keine Primzahl. Dann muss es von irgendeiner Primzahl gemessen werden (VII, 31); es werde von der Primzahl g gemessen. Ich behaupte, dass g mit keiner der Zahlen a, b, c zusammenfällt. Wenn möglich tue es dies nämlich. a, b, c messen nun DE; auch g müsste dann DE messen. Es misst aber auch EF. g müsste also auch den Rest, die Einheit DF messen, während es eine Zahl ist; dies wäre Unsinn. Also fällt g mit keiner der Zahlen a, b, c zusammen; und es ist Primzahl nach Voraussetzung. Man hat also mehr Primzahlen als die vorgelegte Anzahl a, b, c gefunden, nämlich a, b, c, g − q. e. d.“
Euklid kannte noch keine Möglichkeit, eine endliche Folge beliebiger Länge in der indizierten Form
a1, …, an
anzugeben. Hier und an vielen anderen Stellen der „Elemente“ stehen daher drei Objekte a, b, c repräsentativ für endlich viele Objekte. Auffällig ist das geometrische Denken und die Mischung der Notationen a, b, c, DE, DF: Die Zahlen a, b, c entsprechen DA, DB, DC und ihr kleinstes gemeinsames Vielfaches ist DE. Die Einheit wird mit DF bezeichnet. Für DE und DF werden keine Buchstaben e, f eingeführt. Sowohl a, b, c als auch DE, DF werden als Zahl bezeichnet. An der Stelle „während es [ g ] eine Zahl ist“ wird erneut deutlich, dass die Einheit selbst nicht als Zahl aufgefasst wird: Die Primzahl g ist als Zahl automatisch größergleich 2.
Es wird nicht explizit angegeben, dass die Primzahlen a, b, c paarweise verschieden sein sollen. Das kleinste gemeinsame Vielfache von a, b, c wäre in diesem Fall gleich dem Produkt a · b · c. In der zitierten Stelle VII, 36 zeigt Euklid, wie das kleinste gemeinsame Vielfache von drei Zahlen konstruiert werden kann. Dabei wird wiederum auf VII, 34 verwiesen, wo das kleinste gemeinsame Vielfache zweier Zahlen a, b betrachtet wird. Hier wird explizit bemerkt, dass dieses Vielfache gleich dem Produkt a · b ist, falls a und b teilerfremd sind.
Der Beweis enthält in der vorliegenden Übersetzung elf mal die Worte „aber, also, auch, dann“. Diese „argumentativen Adverbien“ kennzeichnen bis heute den mathematischen Schreibstil.
Eine behutsame sprachliche Modernisierung der Beweisführung kann vielleicht die Lesbarkeit erhöhen, ohne den Aufbau der Argumentation zu zerstören:
Satz (Unendlichkeit der Primzahlen)
Es gibt mehr Primzahlen als jede vorgelegte Anzahl von Primzahlen.
Beweis (eng angelehnt an Euklids Elemente)
Die vorgelegten Primzahlen seien p1, …, pn. Wir zeigen, dass es mehr Primzahlen gibt als p1, …, pn. Wir dürfen annehmen, dass die Primzahlen p1, …, pn paarweise verschieden sind.
Wir bilden das kleinste gemeinsame Vielfache q von p1, …, pn, also
q = p1 · … · pn.
Nun addieren wir die Zahl 1 zu q und erhalten so
a = q + 1 = p1 · … · pn + 1.
Entweder ist a eine Primzahl oder nicht. Wir betrachten also zwei Fälle.
1. Fall
Wir nehmen zunächst an, dass a eine Primzahl ist. Dann haben wir mehr Primzahlen als p1, …, pn gefunden, nämlich p1, …, pn, a.
2. Fall
Wir nehmen nun an, dass a keine Primzahl ist. Da a größergleich 2 ist, existiert ein Primteiler von a. Sei also g irgendein Primteiler von a. Wir zeigen:
g ist von allen Primzahlen p1, …, pn verschieden.
Annahme nicht, d. h., g fällt mit einer der Primzahlen p1, …, pn zusammen. Die Primzahlen p1, …, pn sind Teiler von q. Damit ist auch g ein Teiler von q. Aber g ist auch ein Teiler von a. Damit müsste g auch ein Teiler der Differenz a − q = 1 sein, im Widerspruch zu g ≥ 2. Also ist g von allen Primzahlen p1, …, pn verschieden. Nach Definition ist g eine Primzahl. Damit haben wir mehr Primzahlen als p1, …, pn gefunden, nämlich p1, …, pn, g.