1.Zählsteine

Die alten Griechen haben die natürlichen Zahlen als aus ununterscheidbaren Einheiten zusammengesetzte Gebilde beschrieben. Die Einheit selbst galt nicht als Zahl. Die traditionelle Vorstellung, Zahlen aus Einheiten zu bilden, eignet sich hervorragend zur Visualisierung von Primzahlen.

 Wir stellen in den folgenden Diagrammen die Einheit als Punkt dar. Mehrere wie auch immer angeordnete Punkte repräsentieren eine Zahl. Eine Einheit nennen wir auch einen Zählstein, sodass sich steinzeitlich anmutende Darstellungen von Zahlen ergeben.

 Die Zahl 12 hat zum Beispiel die folgende lineare Darstellung:

prim1-AbbID-rectangle1a

 Ebenso können wir die Zahl 12 auch in zwei Zeilen darstellen:

prim1-AbbID-rectangle1b

 Oder in drei:

prim1-AbbID-rectangle1c

 Die drei Darstellungen entsprechen den multiplikativen Zerlegungen

12  =  12 · 1  =  6 · 2  =  4 · 3.

Abgesehen von den Darstellungen 1 · 12, 2 · 6, 3 · 4 sind dies innerhalb der natürlichen Zahlen alle Zerlegungen der Zahl 12 in zwei Faktoren. Abgesehen von Drehungen um 90 Grad sind die obigen Diagramme damit alle Darstellungen der Zahl 12 in der Form eines Rechtecks. Im ersten Diagramm liegt ein degeneriertes Rechteck vor, dessen eine Seitenlänge gleich 1 ist. Um die Sprechweise zu vereinfachen, isolieren wir den degenerierten Fall:

Rechtecks-Darstellung und lineare Darstellung

Als rechteckige Darstellung oder Rechtecks-Darstellung einer natürlichen Zahl n bezeichnen wir eine Anordnung von n Einheiten als Rechteck, dessen Seitenlängen beide größergleich 2 sind. Eine Anordnung mit einer Seitenlänge 1 bezeichnen wir als lineare Darstellung.

 Die drei Diagramme oben zeigen also eine lineare und zwei rechteckige Darstellungen der Zahl 12.

 Jede natürliche Zahl lässt sich linear darstellen, indem wir entsprechend viele Einheiten aneinanderfügen. Die Primzahlen sind genau diejenigen Zahlen größergleich 2, die sich ausschließlich linear darstellen lassen. Anders formuliert: Eine Zahl n ist genau dann zusammengesetzt, wenn sie eine Rechtecks-Darstellung besitzt.

 Aus dieser Vorstellung ergibt sich ein Primzahltest:

Geometrischer Primzahltest

Gegeben sei eine natürliche Zahl n ≥ 2. Wir möchten feststellen, ob n eine Primzahl ist oder nicht. Hierzu bilden wir zunächst eine lineare Darstellung von n, indem wir n Einheiten von links nach rechts aneinanderfügen. Nun tragen wir die Einheiten von rechts nach links ab und bilden dabei eine zweite über der ersten liegende Zeile. Erhalten wir dadurch eine Darstellung der Form k · 2 mit k > 1, so ist n eine zusammengesetzte Zahl (und durch 2 teilbar). Andernfalls bleibt auf der rechten Seite eine Einheit übrig. Wir tragen nun schrittweise von rechts nach links Einheiten aus beiden Zeilen ab und bilden so eine dritte Zeile. Ergibt sich dadurch eine Darstellung der Form k · 3 mit k > 1, so ist n eine zusammengesetzte Zahl (und durch 3 teilbar). Diesen Vorgang wiederholen wir. Finden wir eine Rechtecks-Darstellung, so haben wir eine Zerlegung der Form n = k · d mit k, d ≥ 2 gefunden, wobei k die Breite und d die Höhe des Rechtecks ist. Andernfalls haben wir die horizontale lineare Darstellung von n in die vertikale lineare Darstellung von n überführt. In diesem Fall ist n eine Primzahl.

Aufgrund der Kommutativität der Multiplikation können wir das Verfahren stoppen, sobald wir mehr Zeilen erzeugen als Spalten. Denn gibt es eine Zerlegung n = d · k mit d < k, so finden wir die Zerlegung n = k · d in einem früheren Schritt. Damit ist n genau dann eine Primzahl, wenn wir bei der Durchführung des Verfahrens irgendwann mehr Zeilen als Spalten vorliegen haben.

 Zur Illustration führen wir das Verfahren für die Zahl 11 durch. Wir beginnen mit der horizontalen linearen Darstellung:

prim1-AbbID-rectangle2a

 Das erste Abtragen führt zu:

prim1-AbbID-rectangle2b

Da sich kein Rechteck ergeben hat, führen wir das Abtragen erneut durch, indem wir eine dritte Zeile bilden:

prim1-AbbID-rectangle2c

 Im nächsten Schritt erhalten wir vier Zeilen und drei Spalten, sodass wir das Verfahren beenden können. Wir haben keine Rechtecks-Darstellung gefunden. Das Ergebnis unseres Tests ist: „11 ist eine Primzahl.“

 Unser geometrischer Primzahltest führt vor Augen, dass der Begriff einer Primzahl nicht von der Dezimaldarstellung oder einer anderen b-adischen Zifferndarstellung abhängt. Erfahrungsgemäß antworten viele mathematische Anfänger auf die Frage der Abhängigkeit des Primzahlbegriff von der Zifferndarstellung mit „ja“. Vermutlich liegt dies an der Prominenz der Teilbarkeitsregeln, die an die Dezimaldarstellung einer Zahl gebunden sind: „Eine Zahl ist genau dann durch 5 teilbar, wenn ihre letzte Ziffer gleich 0 oder 5 ist.“ Das gilt in Dezimaldarstellung, in anderen Zifferndarstellungen aber nicht. Gleiches gilt für: „Eine Zahl ist genau dann durch 3 teilbar, wenn ihre Quersumme durch 3 teilbar ist.“ In Dualdarstellung hat die Zahl 6 zum Beispiel die Form 110, da

6  =  1 · 22 + 1 · 21 + 0 · 20.

Die Quersumme der Dualdarstellung ist 2 und nicht durch 3 teilbar. Diese Regeln können den Eindruck erwecken, dass die Teilbarkeit und damit der Primzahlbegriff von der Darstellung einer Zahl abhängig sind. Ein Blick auf die Definitionen von „teilbar“ und „Primzahl“ zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Zudem ist die Rechtecks-Darstellung geeignet, die Unabhängigkeit der Begriffe von Ziffernsystemen sichtbar zu machen: Die geometrischen Darstellungen sind offensichtlich unabhängig von ziffernbasierten Notationen.

Die Division mit Rest

 Dem Leser wird vielleicht aufgefallen sein, dass wir mit Hilfe der Rechtecks-Darstellung auch die Division mit Rest visualisieren können. Wollen wir eine Zahl n durch eine Zahl d ≥ 1 teilen, so versuchen wir, n Einheiten in der Form eines Rechtecks mit der Höhe d anzuordnen. Hierzu ordnen wir Spalte für Spalte je d der n Einheiten von links nach rechts an. Haben wir noch mindestens d Einheiten übrig, so können wir eine neue Spalte anfügen. Schließlich haben wir k Spalten gefüllt und noch r Einheiten übrig, wobei 0 ≤ r < d. Es ergibt sich die Division von n durch d mit Rest:

n  =  k d  +  r,  0 ≤ r < d.

Die drei Diagramme für die Zahl 11 oben entsprechen zum Beispiel den Divisionen

11  =  11 · 1  +  0 mit d = 1 und r = 0
11  =   5 · 2  +  1 mit d = 2 und r = 1
11  =   3 · 3  +  2 mit d = 3 und r = 2

Unser geometrischer Primzahltest berechnet in graphischer Form nacheinander die Divisionen von n mit Rest durch d = 2, 3, …, bis ein d gefunden ist, für das der Rest gleich 0 ist.