Der Algorithmus von Euklid
Das iterierte Abtragen einer kleineren Größe − der Maßeinheit − von einer größeren − der zu messenden Größe − ist der Ausgangspunkt des Messens. Dieses Abtragen kann nun aufgehen, oder aber eine Restgröße hinterlassen, die kleiner als die Maßeinheit ist. Es gibt nun zwei Möglichkeiten, mit dem Messen fortzufahren: Die erste ist die etwas grobschlächtige Methode, das alte Maß in zwei gleiche Teile zu zerbrechen, und den verbliebenen Rest mit dem neuen nun kleineren Maßstab auszumessen, − und es folgt ein usw., solange ein Rest bleibt. Dieses Vorgehen führt zur Binärdarstellung, und ein Zerbrechen in je zehn gleiche Teile etwa liefert die vertraute Dezimalbruchentwicklung.
Die weitaus subtilere und harmonischere Idee des sog. Euklidischen Algorithmus ist, den Rest des ersten Abtragens zur neuen Maßeinheit zu ernennen, die alte Maßeinheit dagegen zur neuen nun zu messenden Größe zu degradieren. Das Maß wird zum Gemessenen − ein feinsinniger griechischer Gedanke, der dem ersten pragmatisch, rechnerisch und didaktisch sicher unterlegen ist, der aber mit Blick auf seinen inneren mathematischen Reichtum unerreicht dasteht.
Startend mit reellen Zahlen a0 ≥ a1 > 0 erhalten wir also die Gleichungen:
(G0) a0 | = n0 · a1 + a2, mit 0 < a2 < a1, n0 ∈ ℕ+, |
(G1) a1 | = n1 · a2 + a3, mit 0 < a3 < a2, n1 ∈ ℕ+, |
(G2) a2 | = n2 · a3 + a4, mit 0 < a4 < a3, n2 ∈ ℕ+, usw. |
Wir beenden das Verfahren, sobald ein ak gefunden ist mit ak − 1 = nk − 1 · ak.
Für dieses Verfahren gilt nun:
Satz (Hauptsatz über den Euklidischen Algorithmus)
Der Euklidische Algorithmus für reelle Zahlen a0 ≥ a1 bricht genau dann ab, wenn a0 und a1 kommensurabel sind (d. h. wenn a0/a1 ∈ ℚ).
Für das letzte ak gilt in diesem Fall: ak ist eine Maßeinheit für a0 und a1, und weiter sogar ein ganzzahliges Vielfaches jeder Maßeinheit für a0 und a1.
Beweis
Seien a0 und a1 kommensurabel, und sei z ∈ ℝ+ eine Maßeinheit für a0 und a1. Ist z eine Maßeinheit für a0 und a1, so existieren m0 und m1 mit a0 = m0 z, a1 = m1 z. Dann gilt:
a2 = a0 − n0 a1 = (m0 − n0 m1) z.
Induktiv folgt, dass jedes ai ein ganzzahliges Vielfaches von z ist. Da die ai bei einem unendlichen Verfahren beliebig klein werden würden (!), bricht das Verfahren mit einem ak ab (da ja immer ai ≥ z).
Generell gilt: Bricht das Verfahren für a0 und a1 mit ak ab, so ist ak eine Maßeinheit für ak und ak − 1, für ak − 1 und ak − 2, …, und für a1 und a0. Die Größen a1 und a0 sind dann also kommensurabel.
Wir führen zur Illustration den Aufruf zum Mitdenken, also das „(!)“ im Beweis, aus. Es steht dort, weil die Behauptung ein kleines Argument braucht. Aus der Tatsache, dass die ai monoton fallen, folgt noch nicht, dass sie bei einem unendlichen Verfahren beliebig klein werden würden. Eine informale Beobachtung ist: Liegt a2 sehr nahe an a1, so ist der Abfall von a2 auf a3 dann umso dramatischer. Diese Beobachtung müssen wir nun noch in ein für unsere Zwecke geeignetes mathematisches Argument verwandeln. Eine Möglichkeit ist: Für alle i gilt ai + 1 ≤ ai/2 oder ai + 2 ≤ ai/2. Denn ist ai + 1 > ai/2, so ist ai = ni + 1 · ai + 1 + ai + 2 ≥ ai + 1 + ai + 2, also ai + 2 < ai/2. Durch diesen garantierten Faktor-1/2-Abfall nach je zwei Schritten konvergieren die monoton fallenden ai bei einem unendlichen Verfahren gegen Null. Dieses Argument findet sich in Buch X, § 1 der „Elemente“ des Euklid. Ein anderes Argument ist: Ist a0/a1 = b0/b1 ∈ ℚ mit b0, b1 ∈ ℕ, so sind die entsprechenden Vielfachheitskoeffizienten, die der Algorithmus für a0, a1 bzw. b0, b1 liefert, gleich (!), und es gilt b0 > b1 > … > bn > … mit natürlichen Resten bn; damit muss das Verfahren abbrechen.
Insbesondere liefert der Euklidische Algorithmus also für natürliche Zahlen a0 und a1 den größten gemeinsamen Teiler der beiden Zahlen.
Die Hypothese der Pythagoreer lässt sich also auch so formulieren:
Weltbild der Pythagoreer, effektive klassische Fassung
Der Euklidische Algorithmus terminiert für alle Paare von Größen a0 und a1, wobei a0 ≥ a1.
Den − schon länger bekannten − Algorithmus untersucht Euklid im siebten und zehnten Buch seiner Elemente. Die Griechen gebrauchten ἀνταναιρέω, ich hebe gegeneinander auf, für die Tätigkeit des Verfahrens, was den symmetrischen, wechselseitigen Charakter des Vorgangs betont. Die Idee der Norm war den Griechen eher fremd, sie studierten eher das Verhältnis zweier Dinge zueinander.
Das Verfahren des Euklidischen Algorithmus wird auch als „Wechselwegnahme“ bezeichnet.
Euklid (um 300 v. Chr):
„[ X. Buch ] § 2. Misst, wenn man unter zwei ungleichen Größen abwechselnd immer die kleinere von der größeren wegnimmt, der Rest niemals genau die vorhergehende Größe, so müssen die Größen inkommensurabel sein…
§ 3. Zu zwei gegebenen kommensurablen Größen ihr größtes gemeinsames Maß zu finden [ durch das Verfahren der Wechselwegnahme ].“