Das Kontinuumsproblem

 Der Satz von Cantor zeigt ω < 2ω, und die Frage ist nun einfach: Gibt es eine Kardinalzahl 𝔞 mit ω < 𝔞 < 2ω  oder nicht? Das Cantorsche Kontinuumsproblem lautet: Welche Mächtigkeit hat ?

Cantorsche Kontinuumshypothese (CH)

2ω ist die auf ω folgende Mächtigkeit. Anders:

Es gibt keine Kardinalzahl 𝔞 mit ω < 𝔞 < 2ω.

 Die erste Erwähnung der Kontinuumshypothese findet sich in [ Cantor 1878 ].

 Zwei äquivalente Formulierungen der Kontinuumshypothese − und zugleich Beispiele für die Elimination der arithmetischen Notation − sind:

Ist A eine unendliche Menge mit |A| < ||, so ist |A| = ||.

Für alle A ⊆  gilt: A ist abzählbar oder gleichmächtig zu .

 Die letzte Formulierung ist wohl die erfolgreichste, um das Problem einem Nichtmathematiker nahe zu bringen. Sie benutzt keine Objekte und Begriffe außer den reellen Zahlen und der Idee des Größenvergleichs durch Paarbildung.

 In der Mengenlehre zeigt man: Es gibt eine kleinste Kardinalzahl, die größer als ω ist. Dies heißt nichts anderes als: Es gibt eine überabzählbare Menge A mit der Eigenschaft: Ist B eine überabzählbare Menge, so ist |A| ≤ |B|. Die Kardinalität einer solchen Menge A ist eindeutig bestimmt und wird mit ω1 oder gleichwertig 1 bezeichnet. ω1 ist die kleinste überabzählbare Kardinalzahl, so wie ω die kleinste unendliche Kardinalzahl ist. Damit schreibt sich die Kontinuumshypothese dann einfach als 2ω = ω1.

 Cantor glaubte an die Gültigkeit der Kontinuumshypothese. Er suchte jahrelang nach einem Beweis und hielt am Ende viele wichtige Begriffe und Teilergebnisse in den Händen. Seine Suche nach einer vollständigen Lösung des Problems war aber, wie er nicht ahnen konnte, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es gibt keinen Weg zu seinem Ziel, den er hätte finden können. Denn: Die Kontinuumshypothese ist innerhalb der klassischen Mathematik weder beweisbar noch widerlegbar, es sei denn, die heute akzeptierten Methoden der Mathematik sind in sich widersprüchlich (dann ist (CH), wie jede andere Aussage, sowohl beweisbar als auch widerlegbar). Diese sog. Unabhängigkeit der Kontinuumshypothese − weder beweisbar noch widerlegbar zu sein − bewiesen, je die Hälfte mit zwei völlig verschiedenen Methoden beisteuernd, Kurt Gödel 1938 und Paul Cohen 1963. Gödel zeigte, dass (CH) nicht widerlegbar ist, während Cohen bewies, dass (CH) nicht beweisbar ist. „Beweisbar“ muss zum Beweis solcher Sätze mathematisch präzisiert werden, was eine Aufgabe der mathematischen Logik ist. Nach der Formalisierung werden dann die Unabhängigkeitsbeweise selber mit modelltheoretischen Methoden geführt. Sie sind Glasgebäude der Semantik auf einem syntaktischen Unterbau aus Beton.

 Natürlich wird die Kontinuumshypothese beweisbar, wenn man eine Umformulierung oder Verstärkung von (CH) als neues mathematisches Axiom postuliert. Kein solches Axiom hat aber bislang allgemeine Akzeptanz gefunden, und das Gleiche gilt für neue Axiome, die implizieren, dass (CH) falsch ist.

 Man kann in der klassischen Mathematik zwar (CH) nicht entscheiden, aber doch noch etwas mehr über die Größe von  beweisen als nur die eine Ungleichung || > ω. Die Gleichung || = 2ω zwingt der Kardinalität des Kontinuums eine gewisse Stabilitätseigenschaft auf. Es gilt nämlich:

Satz (Unzerlegbarkeitssatz von Julius König)

Seien An ⊆  für n  ∈  , und sei |An| < || für n  ∈  .

Dann ist |⋃n  ∈   An| < ||.

Beweis

Sei A = ⋃n  ∈   An, und sei f : A   beliebig.

Wir zeigen, dass f nicht surjektiv ist.

Wegen || = (2ω)ω = 2ω · ω = 2ω = || folgt hieraus die Behauptung.

Wir definieren g :    durch:

g(n)  =  „ein x  ∈   mit x ≠ f (y)(n) für alle y  ∈  An“  für n  ∈  .

Ein solches x existiert wegen |{ f (y)(n) | y  ∈  An }| ≤(!) |An| < ||.

Dann ist g  ∉  rng(f): Andernfalls existiert ein n mit g = f (y) für ein y  ∈  An.

Insbesondere also g(n) = f (y)(n), im Widerspruch zur Definition von g(n).

 Auf einelementige An angewendet zeigt der Satz noch einmal die Überabzählbarkeit von , wobei auf die Ergebnisse || = 2ω und (2ω)ω = 2ω zurückgegriffen wird.

 König bewies das Resultat 1904. Im gleichen Jahr wies dann Zermelo auf eine allgemeinere Form hin, die wie der Satz von Cantor auch andere Mächtigkeiten miteinbezieht.

 Nehmen wir || = ω1 an, so beinhaltet der Satz nichts Neues, denn dann sind alle An abzählbar mit abzählbarer Vereinigung. Aber ohne eine solche Hypothese zeigt das Argument immerhin, dass eine Folge von Kardinalzahlen 𝔞0 ≤ 𝔞1 ≤ … ≤ 𝔞n ≤ … mit 𝔞n < || für n  ∈  , nicht gegen || konvergieren kann.  lässt sich nicht in eine abzählbare Menge von Mengen kleinerer Mächtigkeit zerlegen. Wenigstens ein interessantes Detail haben wir damit über die Mächtigkeit von  ans Licht gebracht. Vielleicht gibt es noch andere trickreiche Diagonalargumente? Dies ist leider nicht der Fall. In der Mengenlehre zeigt man mit der Methode von Cohen, dass die Zerlegungsaussage zusammen mit der Überabzählbarkeit von  alles ist, was wir in der üblichen Mathematik über die Größe von  beweisen können. Jede Kardinalzahl 𝔠 > ω, die nicht das Supremum von abzählbar vielen kleineren Kardinalzahlen ist, kann als Mächtigkeit von  in einem Modell der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre ZFC (= einem Modell der klassischen Mathematik) realisiert werden! Wir betrachten hierzu einige Beispiele, die wir ohne symbolische Mächtigkeiten formulieren, um sie möglichst elementar darzustellen. Wir nennen hierzu (vorübergehend) eine endliche Folge M0, …, Mn eine -Kette der Länge n + 1, falls für alle 0 ≤ i < n gilt:

(i)

M0 ist eine abzählbar unendliche Teilmenge von ,

(ii)

Mi  ⊆  Mi + 1,

(iii)

|Mi|  <  |Mi + 1|,

(iv)

es gibt kein Mi ⊆ M ⊆ Mi + 1 mit |Mi| < |M| < |Mi + 1|,

(v)

Mn  =  .

Weiter nennen wir für ein n  ∈   zwei Folgen 〈 Mi | i  ∈   〉, 〈 Ni | 0 ≤ i ≤ n 〉 eine -Kette der Länge ω + n + 1, falls gilt:

(a)

für alle i  ∈   gilt (i) − (iv) für die Folge M0, …, Mi,

(b)

N0  =  ⋃i  ∈   Mi,

(c)

(ii) − (v) gilt für die Folge N0, …, Nn, insbesondere also:

(d)

Nn  =  .

Die Modellkonstruktionen mit Hilfe der Cohenschen Methode liefern nun für alle n  ∈   ein Modell der ZFC-Mengenlehre, in dem gilt:

(An)  Es gibt eine -Kette der Länge n + 2.

Weiter liefern sie sogar für alle n  ∈   Modelle für:

(Bn)  Es gibt eine -Kette der Länge ω + n + 2.

Die Annahme der Existenz einer Folge  = M0 ⊂ M1 ⊂ … ⊂ M15 = , die alle möglichen unendlichen Mächtigkeiten kleinergleich || durchläuft, ist also widerspruchsfrei, ebenso wie die Annahme der Existenz einer solchen Folge der Länge 1789. Weiter können wir auch etwa widerspruchsfrei annehmen, dass eine unendliche Folge, gefolgt von einer endlichen Folge der Form

 =  M0  ⊂  M1  ⊂  …  ⊂  Mn  ⊂  …  ⊂  N0  =  ⋃i  ∈   Mi  ⊂  N1  ⊂  …  ⊂  N12  =  .

alle unendlichen Mächtigkeiten kleinergleich || darstellt, als -Kette der Länge ω + 13. Der Unzerlegbarkeitssatz von König schließt lediglich -Ketten

 =  M0  ⊂  M1  ⊂  …  ⊂  Mn  ⊂  …  ⊂  N0  =  ⋃i  ∈   Mi  = 

der Länge ω + 1 aus, -Ketten der Länge ω + 2, ω + 3, usw. sind wieder möglich.

 Damit sind noch längst nicht alle Möglichkeiten erschöpft, allgemeiner braucht man die sog. transfiniten Zahlen, um die Längen der möglichen, d. h. in Modellen realisierbaren, -Ketten angeben zu können. Insgesamt gibt es eine echte Klasse möglicher Mächtigkeiten von  und möglicher Längen von -Ketten.

 Zyniker würden vielleicht sagen: Die vollständige Analyse der Mächtigkeit von  besteht also aus den beiden Diagonalargumenten im Satz von Cantor und König-Zermelo, die zudem mehr oder weniger identisch sind. Man muss nicht zum Zyniker werden, aber es ist doch recht wenig, was uns die klassische Mathematik über die Größe von  wissen lässt. Wenigstens vergönnt sie uns das Wissen, dass wir nicht mehr wissen können, wenn wir nicht über sie hinausgehen.

 Das Kontinuumsproblem bleibt offen, wenn man die Resultate von Gödel und Cohen nicht drastisch als negative Lösung für alle Zeiten interpretiert. Die Mathematik befindet sich bis auf unbestimmte Zeit in dem doch sehr irritierenden Zustand, dass sie die Größe ihrer zweiten Grundstruktur nicht ermitteln kann. Gödel und Cohen zeigten, dass die Mathematik sich manchmal besser kennt als die Objekte, die sie untersucht. Der Riss zwischen  und , zwischen  und (), bleibt für ihre lichtstarken Methoden dunkel, aber sie weiß darum, und die mathematische Logik kann die Ränder solcher Finsternisse scharf analysieren.

 Das Kontinuumsproblem lässt sich glücklicherweise, Cantors Fußstapfen folgend, ertragreich approximieren. Für eine Menge 𝒜 ⊆ () definieren wir die Kontinuumshypothese für die Punktklasse 𝒜 wie folgt:

(CH𝒜)

Jedes A  ∈  𝒜 ist abzählbar oder gleichmächtig mit .

 In dieser Form ist (CH) = (CH()) die stärkste unter vielen natürlichen Hypothesen. Beispiele für interessante 𝒜 wären etwa: 𝒜 = „die offenen Teilmengen von “, 𝒜 = „die abgeschlossenen Teilmengen von “. Mit diesen und weiteren Mengensystemen werden wir uns im zweiten Abschnitt, in der Umgebung des Baireraumes, eingehend beschäftigen. Insbesondere werden wir die Kontinuumshypothese für die abgeschlossenen Mengen beweisen, was historisch wie inhaltlich die erste schwere und erfolgreiche Attacke auf das Jahrhundertproblem bildet.