Das komplexe Ergebnis und seine Kritik

 Besondere Merkmale der Konstruktionen von Weierstraß, Dedekind, Cantor, Heine und Méray sind:

(1)

Die mathematische Struktur  wird aus , und damit im Wesentlichen aus , durch Betrachtung aller Teilmengen von  oder Folgen in  gewonnen. Eine reelle Zahl ist eine solche Teilmenge oder Folge (erst später genauer: eine Äquivalenzklasse von Folgen).

(2)

Die Menge  wird mit einer Ordnung und arithmetischen Operationen versehen, die im 20. Jahrhundert dann selber wieder als Mengen aufgefasst werden.

(3)

wird zum mathematischen Modell eines Linearkontinuums, einer Geraden, erklärt. Dies geschieht durch Auszeichnung eines Nullpunktes 0 und einer Maßeinheit 1 auf der Geraden. Es gilt dann das Korrespondenzaxiom:

(a)

Jeder Strecke bzgl. 0 und 1 des Linearkontinuums entspricht ein Element von .

(b)

Jedem Element von  entspricht eine Strecke des Linearkontinuums.

Die Gerade ist zunächst noch ein traditionell-geometrischer mathematischer Begriff, der mit dem intuitiven Kontinuumsbegriff zusammenfällt. Erst nach und nach wird die Gerade von vornherein arithmetisch begriffen und eingeführt, und das alte Linearkontinuum im Reich der Anschauung außerhalb der Mathematik angesiedelt. In der Folge spricht man dann innerhalb der Mathematik konsequent von  als dem Kontinuum.

(4)

Infinitesimale Größen treten nicht auf, die Vollständigkeit der Struktur genügt, um mit Hilfe des Limesbegriffs die Argumente der Analysis ausdrücken zu können.

(5)

Die Konstruktion erscheint als neue Stufe mathematischer Präzision. Der Begriff der irrationalen Zahl ist nun kein Grundbegriff mehr, sondern definiert.

(6)

Die philosophische Tradition des Kontinuums ist in der Definition von  nicht wieder zu finden.  ist samt seiner Ordnung und Arithmetik ein Produkt aus Atomen.

 Die Aussage (3) wird oft als das Cantorsche Korrespondenzaxiom bezeichnet. Cantor sieht explizit nur den Teil (b) als Axiom an, der besagt, dass die arithmetische Struktur  nicht überdimensioniert für das Kontinuum ist (vgl. S. 128 der unten wiedergegebenen Originalarbeit). Die Vertreibung der infinitesimalen Größen suggeriert dagegen eher eine Unterdimensionierung im Sinne von „so klein wie möglich“.

 Die Konstruktion setzt sich rasch durch, spätestens mit dem Buch von Landau aus dem Jahr 1930 ist sie bereits ein im Detail etwas unwillig ausgeführter, wenn auch als wichtig und grundlegend empfundener Standard (Landau spricht von „zum Teil langweiligen Mühen“). Heute gilt  generell als das adäquate mathematische Kontinuum, und den Konstruktionen des 19. Jahrhunderts wird eine große Bedeutung für die Entwicklung des Fachs zugeschrieben.

Analyse und Kritik der Konstruktion

 Wir fragten oben: Ist unser  ein zeitverhaftetes Produkt des 19. Jahrhunderts oder die konsequente Umsetzung und endgültige Präzisierung einer allgemeinen mathematischen Idee? Die Präzisierung von „alles, was man mit  approximativ beschreiben kann“ lautete „alle Fundamentalfolgen in “ oder gleichwertig „alle Schnitte von “. Welche Folgen und Schnitte aber existieren? Die Antwort gehört dann schon in die Grundlagendiskussion des 20. Jahrhunderts. Sie besteht in einem Verweis auf die axiomatische Mengenlehre, die mit ihrer traditionellen Neigung zum mathematischen Platonismus die Existenzfrage noch einmal verschiebt, unter Gewinnung einer bislang unerreichten Präzision auf formaler Ebene.

 Hermann Weyl hat den gravierenden Schritt, der in der Konstruktion von  vollzogen wurde, in seinem Buch „Das Kontinuum“ klar herausgestellt:

Weyl (1918):

„Während als … rationale Zahlen nur solche Mengen auftreten, die sich [ aus den natürlichen Zahlen ergeben ], ist es, um den Begriff der reellen Zahl in voller logischer Bestimmtheit fassen zu können, nötig, sich darüber Rechenschaft zu geben, was unter ‚allen möglichen‘ Mengen einer bestimmten Kategorie zu verstehen ist [ aller Teilmengen von  und damit von  ] … erst das Problem der reellen Zahlen erfordert dieses Eingehen auf das Fundament, auf die Prinzipien der logischen Urteilskombination; die Analysis der reellen Zahlen hat bis in die Tiefe ihrer logischen Wurzeln hinein einen völlig anderen Charakter als die Arithmetik der rationalen.“

 Weyls vorgetragene heute als „halbintuitionistisch“ bezeichnete Kritik an der mengentheoretischen Fundierung der Mathematik teilen sicher nicht alle, aber diese Betonung des Herzstücks der Konstruktion von  ist innerhalb der Grundlagenforschung unumstritten: Es geht um „alle Teilmengen von “,  ist im Wesentlichen (), und wir sind damit in einem Bereich angelangt, der eine Welt für sich ist. Wir wissen nicht, wie groß  ist. Die Menge  ist nicht absolut, sie hat in verschiedenen Modellen der klassischen Mathematik eine andere Extension und sogar eine andere Mächtigkeit. Die Menge  ist in jedem (guten, transitiven) Modell gleich, eine Teilmenge von  ist in jedem Modell eine Teilmenge von , aber die Gesamtheit aller Teilmengen von  ist i. A. in zwei Modellen verschieden. Die platonische Haltung, zu sagen, das Universum hat alle Teilmengen von , einzelne Modelle aber unter Umständen nicht, lässt das gravierende Problem notgedrungen offen.

 Der Schritt von der Endlichkeit zur fertigen Menge  ist groß, der Schritt von  zu () ist ein zweiter, ganz anderer und mindestens ebenso großer Schritt. Der Leser verzeihe dem Autor, wenn er sich hier wiederholt, aber viele Mathematiker, die die Konstruktionen von  seit Jahren kennen und vorführen, sind mehr oder weniger bewusst der Meinung, dass die Konstruktion von  aus  und die Konstruktion von  aus  im Wesentlichen die gleiche logische Komplexität haben: Einmal nimmt man Paare aus natürlichen Zahlen, ein andermal Folgen aus .

 Später hat Weyl diesen Gedanken noch einmal aufgegriffen, und ihn sogar als Fazit der gesamten Entwicklung formuliert (zitiert nach [ Weyl 1990 ]):

Weyl (1928):

„… Das Altertum hat uns zum Problem des Kontinuums zwei wichtige Beiträge hinterlassen: a) eine weitgehende Analyse der mathematischen Frage, wodurch die einzelne Stelle im Kontinuum fixiert werden kann, und b) die Aufdeckung der philosophischen Paradoxien, welche im anschaulichen Wesen des Kontinuums liegen …

 [ zu a):] Erst im 19. Jahrhundert führt die moderne Mathematik das Problem zu Ende [ durch die Definition von  durch Dedekind u. a. ] … und wir können das Fazit der historischen Entwicklung des Problems a) mit den Worten ziehen:

Objekt der Zahlentheorie sind die einzelnen natürlichen Zahlen, Objekt der Kontinuumslehre die möglichen Mengen (oder die unendlichen Folgen) natürlicher Zahlen.“

 Auf dieses Fazit können sich sowohl die klassische Mengenlehre wie auch ihre Kritiker einigen. Die Frage ist: Was sind die möglichen Mengen natürlicher Zahlen?

 Den engen Zusammenhang zwischen (), und  werden wir im zweiten Abschnitt des Buches noch genauer betrachten. Dort werden dann () und im Mittelpunkt des Interesses stehen, und trotz der engen Verwandtschaft zu  ergibt sich eine ganz neuartige Sicht der Dinge.

 Den Schritt zur abstrakten Potenzmenge von  haben einige Mathematiker wie etwa Brouwer und Weyl nicht mittragen wollen. Diese kritische Richtung innerhalb der Mathematik repräsentiert bereits Leopold Kronecker im 19. Jahrhundert mit seiner Kritik der Cantorschen Mengenlehre. Nicht selten wird dann auch der erste Schritt zur aktualen Unendlichkeit und weiter auch die klassische Logik des tertium non datur verworfen. Weyl lässt 1918 dieses Prinzip noch zu, argumentiert aber für einen konstruktiveren Aufbau der Mathematik. Der restriktive Ansatz führt in Bezug auf  zur heutigen sog. konstruktiven Analysis. Wir verweisen den hieran interessierten Leser auf die Darstellung zweier Vertreter dieser Richtung, nämlich [ Bishop / Bridges 1985 ].

 Innerhalb der Logik entwickelte sich ab den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts durch Arbeiten von Gödel, Turing, Church und anderen die Theorie der berechenbaren Funktionen, die eine abzählbare Teilmenge von  als rechnerisch zugänglich auszeichnet (diejenigen Zahlen, deren Dualdarstellung durch ein Computerprogramm ausgegeben werden kann). Weiter werden dort komplexere Teilmengen von  − und damit wieder bestimmte reelle Zahlen − untersucht, etwa die berechenbar aufzählbaren Mengen (diejenigen Teilmengen von , die sich durch ein Computer-Programm in beliebiger Reihenfolge auflisten lassen). Ein Grundresultat ist hier, dass es eine berechenbar aufzählbare Teilmenge von  gibt, deren charakteristische Funktion nicht berechenbar ist. Der Leser siehe für diese Teildisziplin der mathematischen Logik etwa [ Rogers 1987 ] oder [ Cutland 1980 ]. Traditionell versteht sie sich nicht als Kritik der klassischen mengentheoretischen Fundierung.

 Kritisiert oder zumindest stark bedauert wurde der sechste Punkt der obigen Liste, das Verlieren des intuitiven und philosophisch so weit als möglich präzisierten Kontinuitätsbegriffs. Hält man an ihm fest, so erscheint das Korrespondenzaxiom als unangemessen. Alternativen waren aber nicht zu sehen, und so wurde eine atomistische Konstruktion, wenn auch etwas widerwillig, auch von der kritischen Seite akzeptiert. Weyl schreibt hierzu:

Weyl (1918):

„Fassen wir den Mengenbegriff in dem präzisen Sinne, den ich hier befürwortet habe, so gewinnt die Behauptung, dass jedem Punkte einer Geraden … als Maßzahl eine reelle Zahl (= Menge rationaler Zahlen …) entspricht und umgekehrt, einen schwerwiegenden Inhalt. Sie stellt eine merkwürdige Verknüpfung her zwischen dem in der Raumanschauung Gegebenen und dem auf logisch-begrifflichem Wege Konstruierten. Offenbar aber fällt diese Aussage gänzlich aus dem Rahmen dessen heraus, was uns die Anschauung irgendwie über das Kontinuum lehrt und lehren kann; es handelt sich da nicht mehr um eine morphologische Beschreibung des in der Anschauung sich Darbietenden (das vor allem keine Menge diskreter Elemente, sondern ein fließendes Ganzes ist), vielmehr werden der unmittelbar gegebenen, ihrem Wesen nach inexakten Wirklichkeit exakte Wesen substituiert − ein Verfahren, das für alle exakte (physikalische) Wirklichkeitserkenntnis fundamental ist und durch welches allein die Mathematik Bedeutung für die Naturwissenschaft gewinnt …

 … Dem Vorwurf gegenüber, dass von jenen logischen Prinzipien, die wir zur exakten Definition des Begriffs der reellen Zahlen heranziehen müssen, in der Anschauung des Kontinuums nichts enthalten sei, haben wir uns Rechenschaft darüber gegeben, dass das im anschaulichen Kontinuum Aufzuweisende und die mathematische Begriffswelt einander so fremd sind, dass die Forderung des Sich-Deckens als absurd zurückgewiesen werden muss. Trotzdem sind jene abstrakten Schemata, welche uns die Mathematik liefert, erforderlich, um exakte Wissenschaft solcher Gegenstandsgebiete zu ermöglichen, in denen Kontinua eine Rolle spielen.“

 Eine andere Lesart der Frage nach der historischen Stellung von  betrifft den vierten Punkt, die infinitesimalen Größen, die uns der Leibnizsche Kalkül so nahe legt. Das 19. Jahrhundert hat gezeigt, dass die Analysis ohne diese Größen auskommt. Heute können nichtarchimedische Oberkörper von  konstruiert werden, in denen unendlich kleine Größen − positive Größen kleiner als 1/n für alle n  ∈   − existieren und auf denen sich eine Analysis aufbauen lässt (vgl. die Literaturangaben oben). Diese Möglichkeit der − auf dem Boden der Mengenlehre − mathematisch rigorosen Wiedereinführung der infinitesimalen Größen mit ihrer bis in die Antike reichenden Tradition hat nun dazu Anlass gegeben, die etablierte Identifikation von  mit dem Kontinuum erneut zur Diskussion zu stellen. Der Komplex umfasst Fragen der Didaktik der Analysis, die mathematische Fruchtbarkeit des infinitesimalen Ansatzes, aber auch philosophische und historische Gesichtspunkte. Hier hat sich vor allem Detlef Laugwitz zu Wort gemeldet. Die Auffassung des Kontinuums als „Medium des freien Werdens“ von Brouwer und Weyl (1921) aufgreifend entwickelt er eine dynamische Sicht eines unerreichbaren, unerschöpflichen Kontinuums, das mengentheoretisch-atomistisch approximiert werden kann:

Laugwitz (1978):

„Daß die Frage [ nach der Mächtigkeit von  ] als ‚Kontinuumproblem‘ bezeichnet werden konnte, liegt daran … daß man  und das [ anschaulich intuitive ] Linearkontinuum identifiziert … Diese Identifikation ist heute weit verbreitet, und sie hat sich auch vielfach bewährt. Aber es handelt sich dabei doch nur um eine Arbeitshypothese, zu der wir Alternativen kennen … Ist (M, +, ·, <) ein vollständig [ = linear vollständig ] geordneter Körper, so zeigt man: M ist isomorph zum Körper  der reellen Zahlen. Damit scheint die gängige Identifikation des Linearkontinuums mit  gerechtfertigt.

 Wir werden aber immer wieder sehen, daß diese Auszeichnung von  weder historisch noch sachlich überzeugend ist. Unsere Analyse hat ja auch die Hypothesen aufgedeckt, auf denen sie beruht. Da war einmal die Voraussetzung, es sei möglich, das Kontinuum durch eine feste Punktmenge auszuschöpfen, und zweitens die Homogenitätsforderung für alle Schnitte [ für jeden Schnitt (L, R) des Kontinuums hat L ein größtes Element, denn: es gibt solche Schnitte, und ein Kontinuum ist räumlich homogen ].

 Der [ hier ] behandelte Vorschlag läuft auf folgendes hinaus:  wird in einen Körper * eingebettet [ der ebenfalls über Folgen in  gebildet wird ]. Damit werden Koordinaten für weitere Punkte im Linearkontinuum geschaffen, und hier gibt es auch infinitesimale Abstände. Der Prozeß kann ohne Ende wiederholt werden, man kann nach abzählbar vielen Schritten die Vereinigung aller Körper bilden und mit ihr fortfahren; das Kontinuum wird nicht erschöpft, es ist das durch keine Punktmenge ausgefüllte ‚Medium des freien Werdens‘. Auf jeder Stufe erscheinen die bereits vorher erhaltenen Punkte als isoliert in der neuen Menge. Das Linearkontinuum ist hier ein Grenzbegriff, der mathematisch nur teilweise erfaßt werden kann. Wie die Erfahrung gezeigt hat, reicht die erste Menge  für sehr viele Zwecke aus, in ihr sind die Meßgrößen der physischen Wissenschaften enthalten. Wir bleiben dann auf der zweiten Stufe, in einem Körper *. Seine Elemente lassen sich nicht mehr als Meßgrößen rechtfertigen, sondern als ideale Elemente; schon Leibniz verglich die Infinitesimalzahlen mit der idealen Zahl 1 …“

 Die mengentheoretisch begründete Mathematik kann, so Laugwitz, ein Kontinuum nie in seinem „kontinuierlichen Wesen“ erfassen, da der Mengenbegriff von vornherein atomistisch ist. Da keine andere Möglichkeit zu sehen ist, bleibt das Kontinuum zwar ein außermathematischer Begriff, aber doch ein Polarstern für die Entwicklung von Mathematik. Die philosophische Tradition des wahrhaft kontinuierlichen Kontinuums ist lang und beinahe kontinuierlich, sie reicht von Aristoteles über Newton, Leibniz, Euler, Kant, Peirce, Weyl und vielen anderen bis in unsere heutige Zeit. Viele Mathematiker werden nun eher den Reichtum der Konstruktion  und seine Verwendbarkeit für physikalische Fragen betrachten und weniger die Frage, was ein intuitives Linearkontinuum bedeutet. Historisch und auch heuristisch kommt der Idee des zeitlichen oder räumlichen Kontinuums als etwas Werdendem, Fließendem, unerschöpflich Reichem aber eine große Bedeutung zu, und es wäre sicher falsch, diese Gedanken achtlos beiseite zu schieben. Der Diskussion verdanken wir insbesondere eine neue und detailliertere Aufarbeitung der Geschichte des Kontinuumsbegriffs, anhand derer sich die moderne Mathematik besser verstehen lässt. Aber auch angesichts der langen Geschichte der Kontinuumsproblematik und ihrer Teilgeschichte der infinitesimalen Größen halten wir es für gerechtfertigt, von der in der mengentheoretischen Axiomatik angesiedelten Menge  als dem klassischen Kontinuum zu sprechen, und wir sehen, wie vielerorts üblich, die Ereignisse des 19. Jahrhunderts nicht als irrationalen Vorgang an, sondern als großen Fortschritt in der Präzisierung von Mathematik (vgl. im Gegensatz hierzu [ Laugwitz 1986, S. 240 ] und [ Laugwitz 1992, S. 265f. ]).