Cantors Darstellung von 1872 im Original
Wir beenden dieses Kapitel mit einem Faksimile von § 1 und einem Teil von § 2 der Arbeit [ Cantor 1872 ], erschienen in den Mathematischen Annalen.
Die Arbeit trägt den Titel: „Über die Ausdehnung eines Satzes aus der Theorie der trigonometrischen Reihen. Von G. Cantor in Halle.“ Die Konstruktion von ℝ taucht darin etwas überraschend nach der Einleitung auf, und man gewinnt nicht den Eindruck, dass es Cantor wirklich zuerst um eine Konstruktion von ℝ geht (das wird bei Heine und Dedekind viel klarer ausgesprochen). Die wenigen Seiten enthalten viele bemerkenswerte Details:
1. Cantor deutet eine bis ins Transfinite mögliche Iteration des Abschlusses eines Zahlgebiets an. Diese Iteration war Cantor auch später noch wichtig, hat aber bereits Dedekind nicht überzeugt und ist bis heute ohne Wirkung geblieben ist.
2. Bemerkenswert ist, dass nur eine Hälfte der Korrespondenz zwischen den Punkten der Gerade und den Elementen des konstruierten Zahlgebiets als Axiom bezeichnet wird. Etwas unvermittelt folgt dann der Verweis auf das 10. Buch der Elemente des Euklid mit der dortigen Theorie der Irrationalzahlen.
3. Cantor führt einige Hauptpunkte nicht aus, etwa den Beweis der Vollständigkeit des Zahlgebiets.
4. Es werden keine Äquivalenzklassen von Folgen gebildet. Die moderne Idee der Bildung einer Menge von Mengen lag Cantor generell fern, und er behilft sich hier mit einer aufgeweichten Form der Gleichheit.
5. Die Begründung, warum die arithmetische Theorie in einer Abhandlung über trigonometrische Reihen vorausgeschickt wird, bleibt Cantor schuldig. Sie geht auch aus dem hier nicht wiedergegebenen Teil der Arbeit nicht hervor.
aus: Mathematische Annalen 5 (1872), S. 123 unten − 128 oben: