Zwei klassische Konstruktionen der reellen Zahlen
Wir wenden uns nun der Frage nach der Existenz eines Körpers der reellen Zahlen zu, oder schwächer der Frage nach der Existenz einer vollständigen, separablen und unbeschränkten linearen Ordnung. Wir werden also ℝ vorerst nicht mehr verwenden, sondern konstruieren möglichst elementar einen Körper der reellen Zahlen, den wir dann ℝ nennen.
Die Fundierung der Analysis durch eine eingehende Untersuchung des Begriffs der reellen Zahlen begann erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dedekind führte 1872 die nach ihm benannten Schnitte ein, Cantor arbeitete im gleichen Jahr mit Cauchy-Folgen bestehend aus rationalen Zahlen.
Unabhängig von Cantor wurde dieser Ansatz auch von Charles Méray verfolgt [ Méray 1869 ]. Weierstraß verwendete in seinen Vorlesungen Suprema von Reihen zur Konstruktion [ vgl. auch Weierstraß 1880 ]. Weiter gibt Heine eine Konstruktion [ Heine 1872 ]. Wir diskutieren die Geschichte der Konstruktion des arithmetischen Kontinuums am Ende des Kapitels noch genauer.
Dedekinds Schnitt-Technik ist für die Theorie der linearen Ordnungen von großer Bedeutung und unerreichter innerer Schönheit. Sie wurde zum Schließen von Lücken in linearen Ordnungen entwickelt, und naturgemäß bekommt man die Vollständigkeit der reellen Ordnung bei diesem Ansatz geschenkt. Deren Nachweis macht bei der Folgenkonstruktion etwas mehr Mühe, dafür lässt sich hier aber die Arithmetik einfacher von ℚ nach ℝ liften. Weiter ist die Cantorsche Konstruktion zur Vervollständigung beliebiger angeordneter Körper oder metrischer Räume geeignet. Generell ist es für ℝ und über ℝ hinausblickend gewinnbringend, beide Konstruktionen zu kennen.
Beide Ansätze führen über zuweilen etwas holzige, aber insgesamt doch recht entspannte konstruktive Exkursionen von den rationalen Zahlen zum angeordneten Körper der reellen Zahlen. Ehrgeiziger und tief schürfender ist eine Konstruktion, die bei der leeren Menge beginnt und aus den Axiomen der Mengenlehre schrittweise das Zahlensystem errichtet: zunächst „entsteht“ − figürlich gesprochen oder wörtlich vor dem inneren Auge des Studierenden − die induktive Struktur ℕ, dann der Ring der ganzen Zahlen ℤ, und weiter dann die angeordneten Körper ℚ und ℝ. Der Leser findet eine Skizze sowie Literaturhinweise für den Weg von ∅ bis ℚ im Anhang. Wir beginnen hier zur Durchführung der Konstruktionen von Dedekind und Cantor, die wir nun im Überblick vorstellen wollen, mit den rationalen Zahlen als Grundmaterial.
Aufgrund seiner offensichtlichen Wichtigkeit ist dieses Thema an zahlreichen Stellen bis ins Detail durchgeführt worden, und bei manchem Mathematiker ist beim Stichwort „Konstruktion von ℝ“ dann auch ein gewisser Überdruss anzumerken. In der Analysis wird der Körper ℝ zumeist einfach vorausgesetzt; die Konstruktion wird auf Seminare verschoben und entsprechend motivierten Studenten zur sinnvollen Freizeitgestaltung ans Herz gelegt. Beides geschieht zu Recht, möchte man hinzufügen, denn innerhalb der Differential- und Integralrechnung bringt die zeitraubend-aufwendige Konstruktion nur wenig an Mehrwert. Hier folgt die Mathematik pragmatisch noch ganz der Tradition von Newton und Leibniz bis Gauß, und arbeitet recht unbekümmert und ungemein erfolgreich mit allerlei Arten von Zahlen, ohne ständig das mengentheoretische Verfassungsgericht zu bemühen. Andererseits haben auch detaillierte technische Konstruktionspläne einen gewissen Charme, und die didaktische Besonderheit, das zu errichtende Bauwerk bereits klar vor Augen zu haben, unterstützt das „Selberzeichnen“; wenige Hinweise zur Dedekind- oder Cantor-Konstruktion genügen dann auch zumeist, um ein „ja, so gehts!“-Erlebnis auszulösen. Die Struktur ℝ ist so vertraut, dass sie rekonstruiert werden kann und nicht neu konstruiert werden muss.
Wir begnügen uns aus den genannten Gründen bei den beiden klassischen Konstruktionen mit Skizzen. Dabei führen wir die etwas komplizierteren Argumente etwas genauer aus, und hoffen, dass der Leser, der den Weg selber nachgehen möchte, sinnvoll aufgestellte Wegweiser vorfinden wird.
Ein Text über die reellen Zahlen wäre ohne wenigstens eine vollständig durchgeführte Konstruktion eines Körpers der reellen Zahlen sicher unvollständig. Hier trifft es sich günstig, dass Stephen Schanuel und Norbert A’Campo (und möglicherweise auch andere) eine überraschende und ansprechende neue Konstruktionsmethode gesehen und, im Falle von A’Campo, auch entwickelt haben. Wir stellen diesen Zugang zum Kontinuum im Anschluss an die klassischen Konstruktionen im Detail vor. Für eine elementare Konstruktionsmethode, die den Körper der reellen Zahlen durch eine Formalisierung der Dezimaldarstellung und ihrer Rechenregeln gewinnt, verweisen wir den Leser auf [ Rautenberg 2007 ].
Skizze der Konstruktion der reellen Zahlen nach Dedekind
Mit Hilfe von Dedekindschen Schnitten lässt sich eine gegebene Ordnung leicht vervollständigen: Ist 〈 M, < 〉 eine unbeschränkte lineare Ordnung, so sei 𝒟(M) die Menge der Schnitte (L, R) von M. Wir definieren eine Ordnung auf 𝒟(M) durch (L, R) < (L′, R′), falls L ⊂ L′. Es ist leicht zu sehen, dass 〈 𝒟(M), < 〉 vollständig ist. Ist (L, R) ein Schnitt derart, dass L = { y ∈ M | y ≤ x } für ein Element x von M gilt, so können wir (L, R) mit x selber identifizieren, und somit M ⊆ 𝒟(M) annehmen. Die Dedekind-Vervollständigung lässt sich in jede andere vollständige Erweiterung von 〈 M, < 〉 ordnungs- und supremumserhaltend einbetten. Ist jedes Element einer vollständigen Erweiterung von M das Supremum von Elementen aus M, so ist die Erweiterung sogar ordnungsisomorph zur Dedekind-Vervollständigung von M.
Wir können daher die reelle Ordnung bis auf Isomorphie eindeutig definieren als die Dedekind-Vervollständigung einer beliebigen abzählbaren dichten und unbeschränkten Ordnung. Konkret legen wir natürlich die rationalen Zahlen als Ausgangsordnung zugrunde, damit ℝ ein arithmetisches Grundgerüst erhält. Wir setzen also:
〈 ℝ, < 〉 = 〈 𝒟(ℚ), < 〉.
Diese die Ordnung betonende Konstruktion lässt die reellen Zahlen als eine Struktur erscheinen, die aus Teilmengen einer abzählbaren Menge besteht. Ein Schnitt (L, R) in einer abzählbaren Ordnung 〈 M, < 〉 ist bestimmt durch eine Teilmenge L von M. Die Beziehung zwischen ℝ und ℘(ℕ) ( ∼ ℘(ℚ) ) wird bei der Definition von ℝ als 𝒟(ℚ) besonders deutlich.
Wir nutzen nun die bestehende Arithmetik auf ℚ, um eine Arithmetik auf ℝ zu definieren. Zur Verkürzung der Notation schreiben wir statt (L, R) oft auch kurz R, denn bei gegebenem R ist L = ℚ − R. Die Bevorzugung der rechten Hälften wird bei der Multiplikation klar werden.
Wir setzen nun für Schnitte R, R′ ∈ ℝ:
R + R′ = { x + y | x ∈ R, y ∈ R′ }.
Man zeigt, dass diese Summe tatsächlich ein Schnitt ist, und dass 〈 ℝ, + 〉 eine kommutative Gruppe mit neutralem Element 0 = { q ∈ ℚ | q > 0 } ist.
Bei der Bildung von additiv inversen Elementen ist wegen der Asymmetrie der Supremumsbedingung eines Schnitts etwas Vorsicht geboten. Ist R ∈ ℝ, so betrachten wir zunächst M = { q ∈ ℚ | −q ∉ R }. Hat M ein ℚ-kleinstes Element q*, so setzen wir R′ = M − { q* }. Andernfalls sei R′ = M. In der Tat ist nun R′ ein Schnitt, und es gilt R + R′ = 0.
Weiter definieren wir eine Multiplikation auf ℝ. Den Vorzeichentanz der Multiplikation im Auge definieren wir die Multiplikation zunächst für positive Schnitte (also Schnitte R, für die ein q ∈ ℚ+ existiert mit q ∉ R). Für zwei positive Schnitte R, R′ ∈ ℝ setzen wir:
R · R′ = { x · y | x ∈ R, y ∈ R′ }.
Diese Produktbildung liefert wie erwartet einen (positiven) Schnitt. Das Produkt zweier beliebiger Schnitte wird nun, um nicht in einem Morast von Fallunterscheidungen zu versinken, wohl am bequemsten über eine Vorzeichenfunktion eingeführt. Ist R ein Schnitt, so setzen wir sg(R) = 1, falls R > 0, sg(R) = 0, falls R = 0 und sg(R) = − 1, falls R < 0 (dabei steht sg für Signum). Wir definieren damit für beliebige Schnitte R und R′:
R · R′ = sg(R) sg(R′) (|R| · |R′|).
〈 ℝ − { 0 }, · 〉 erweist sich als kommutative Gruppe. Wir geben noch die Inversen an. Sei etwa R positiv, und sei M = { q ∈ ℚ+ | 1/q ∉ R }. Wie für die Addition sei R′ = M − { q* } bzw. R′ = M, je nachdem, ob M ein ℚ-kleinstes Element q* enthält oder nicht. R′ ist ein Schnitt, und in der Tat gilt R · R′ = 1 (= { q ∈ ℚ | q > 1 }). Zum Beweis dieser Aussage wird das archimedische Axiom für ℚ verwendet, das zwar für ℚ trivialerweise gilt, aber doch eine spezielle Eigenschaft des zugrunde gelegten angeordneten Körpers darstellt. Dedekinds Konstruktion lässt sich im Gegensatz zur Konstruktion von Cantor nicht für beliebige angeordnete Körper durchführen.
Weiteres Nachrechnen zeigt, dass 〈 ℝ, ·, + 〉 ein Körper ist. Damit ist 〈 ℝ, ·, +, < 〉 ein Körper der reellen Zahlen nach dem Charakterisierungssatz, denn das arithmetische Ordnungsaxiom gilt klarerweise und die lineare Ordnung 〈 ℝ, < 〉 ist vollständig nach Konstruktion. Wir dürfen wie für jede Vervollständigung annehmen, dass ℚ ⊆ ℝ ist. Darüberhinaus stimmt dann wie erwartet die Arithmetik auf ℝ für rationale Zahlen mit der alten Arithmetik auf ℚ überein.
Skizze der Konstruktion der reellen Zahlen nach Cantor
Die Konstruktion von Cantor liefert für jeden angeordneten Körper 〈 K, +, ·, < 〉 einen metrisch vollständigen (nicht notwendig archimedisch) angeordneten Erweiterungskörper 〈 Kc, +, ·, < 〉. Primär interessiert an einem Körper der reellen Zahlen führen wir die Konstruktion konkret für den angeordneten Körper 〈 ℚ, +, ·, < 〉 durch. Die folgenden Ausführungen lassen sich aber fast wörtlich auf einen beliebigen angeordneten Körper 〈 K, +, ·, < 〉 umschreiben; wir gehen am Ende der Darstellung auf den allgemeinen Fall aber noch ein.
Wir legen also 〈 ℚ, +, ·, < 〉 zugrunde und betrachten Folgen f = 〈 qn | n ∈ ℕ 〉 ∈ ℕℚ, die wir auch rationale Folgen nennen. Wir folgen der klassischen Tradition, bei der Konstruktion von ℝ eher von Fundamentalfolgen als gleichwertig von Cauchy-Folgen zu sprechen.
Die Quantorenflut der Fundamentalfolgen stört den Lesefluss, doch gibt’s ein Mittel, nämlich die Sprechweisen „schließlich“ und „ab einer Stelle“: Wir sagen, dass eine Eigenschaft ℰ(x1, …, xr) schließlich gilt, wenn es ein n0 ∈ ℕ gibt, sodass ℰ(n1, …, nr) für alle natürlichen Zahlen n1, …, nr ≥ n0 gilt. In diesem Fall sagen wir dann auch: ℰ(n1, …, nr) gilt ab n0. Eine rationale Folge f ist also beispielsweise genau dann eine Fundamentalfolge, wenn für alle k ∈ ℕ+ schließlich gilt, dass |f (n) − f (m)| < 1/k.
Eine rationale Folge 〈 qn | n ∈ ℕ 〉 heißt Nullfolge, falls für alle k ∈ ℕ+ schließlich |qn| < 1/k gilt. Offenbar ist jede Nullfolge eine Fundamentalfolge.
Sei nun F die Menge aller Fundamentalfolgen. Für f, g ∈ F definieren wir:
f ∼ g, falls 〈 f (n) − g(n) | n ∈ ℕ 〉 eine Nullfolge ist.
Dann ist ∼ eine Äquivalenzrelation auf F. Wir definieren nun die Menge der reellen Zahlen ℝ durch die von ∼ gegebene Unschärfe auf F, d. h. wir setzen:
ℝ = F/∼.
Bei diesem Ansatz über Folgen erscheinen die reellen Zahlen also als (Äquivalenzklassen von) Funktionen von ℕ nach ℚ, und wegen |ℚ| = |ℕ| also de facto als Funktionen von ℕ nach ℕ.
Die Arithmetik 〈 ℝ, +, · 〉 ergibt sich nun aus der punktweisen rationalen Arithmetik auf den Fundamentalfolgen. Sind f, g ∈ F, so sind auch 〈 f (n) + g(n) | n ∈ ℕ 〉 und 〈 f (n) · g(n) | n ∈ ℕ 〉 Fundamentalfolgen. Wir definieren die Arithmetik auf ℝ wie folgt. Für f, g ∈ F sei
f/∼ + g/∼ | = 〈 f (n) + g(n) | n ∈ ℕ 〉/∼, |
f/∼ · g/∼ | = 〈 f (n) · g(n) | n ∈ ℕ 〉/∼. |
Wie üblich ist ein Nachweis der Wohldefiniertheit notwendig.
Man zeigt nun: 〈 ℝ, +, · 〉 ist ein Körper. Das neutrale Element der Addition 0 ist gleich 〈 0 | n ∈ ℕ 〉/∼; allgemeiner gilt 0 = f/∼ genau dann, wenn f eine Nullfolge ist. Das neutrale Element für die Multiplikation ist 〈 1 | n ∈ ℕ 〉/∼.
Wir geben noch die multiplikativen Inversen an: Ist f/∼ ≠ 0, so ist f (n) ≠ 0 ab einem n0 (!). Wir definieren dann eine rationale Folge g durch g(n) = f (n)−1 für n ≥ n0, und g(n) = 1 für n < n0. Dann ist g ∈ F (!). Weiter ist f (n) · g(n) = 1 schließlich, also g/∼ multiplikativ invers zu f/∼.
Wir definieren schließlich die Ordnung auf ℝ. Für f, g ∈ F setzen wir:
f/∼ < g/∼ falls es ein q ∈ ℚ+ gibt mit f (n) + q < g(n) schließlich.
Auch diese Definition ist unabhängig von der Repräsentantenwahl. Die <-Relation erweist sich leicht als lineare Ordnung auf ℝ. Eine reelle Zahl f/∼ ist nach Definition genau dann positiv, wenn es ein q ∈ ℚ+ gibt mit f (n) > q schließlich. Für alle f/∼ ∈ ℝ gilt zudem offenbar |f/∼| = 〈 |f (n)| | n ∈ ℕ 〉/∼.
Die Menge der Äquivalenzklassen der konstanten Folgen, also
Q = { 〈 q | n ∈ ℕ 〉/∼ | q ∈ ℚ }
ist dicht in ℝ: Denn seien f/∼, g/∼ ∈ ℝ derart, dass f/∼ < g/∼. Dann existiert nach Definition der Ordnung ein q ∈ ℚ+, sodass f (n) + 2q < g(n) ab einem n0. Wir setzen h = 〈 f (k) + q | k ∈ ℕ 〉. Dann gilt wie gewünscht, dass
f/∼ < h/∼ < g/∼.
Letztendlich wird man 〈 q | n ∈ ℕ 〉/∼ mit q ∈ ℚ identifizieren, und so ℚ = Q ⊆ ℝ annehmen. Zur Vermeidung von Irritationen bleiben wir für den Rest des Beweises aber bei der Langform 〈 q | n ∈ ℕ 〉/∼ statt q.
Hinsichtlich „kleinergleich“ ergibt sich folgendes nützliche Kriterium: Es gilt f/∼ ≤ g/∼ genau dann, wenn für alle q ∈ ℚ+ schließlich f (n) ≤ g(n) + q gilt. Gilt für f, g ∈ F, dass f (n) < g(n) schließlich, so ist sicher f/∼ ≤ g/∼, aber nicht notwendig f/∼ < g/∼.
Das arithmetische Ordnungsaxiom ist leicht zu überprüfen. Also ist 〈 ℝ, +, ·, < 〉 ein angeordneter Körper.
Als Nächstes zeigen wir das archimedische Axiom für 〈 ℝ, +, ·, < 〉. Sei also f/∼ > 0. Der Wertebereich jeder Fundamentalfolge ist beschränkt in ℚ. Sei also s ∈ ℕ mit f (n) + 1 < s für alle n ∈ ℕ. Dann gilt offenbar f/∼ < 〈 s | n ∈ ℕ 〉/∼ = s 〈 1 | n ∈ ℕ 〉/∼ = „das s-fache Vielfache der 1 von ℝ“. Also ist 〈 ℝ, +, ·, < 〉 ein archimedisch angeordneter Körper.
Beim Nachweis des archimedischen Axioms benutzen wir zum ersten Mal substantiell, dass wir mit ℚ und nicht mit einem beliebigen angeordneten Grundkörper arbeiten. Genauer benutzen wir, dass der Grundkörper 〈 K, +, ·, < 〉 selbst archimedisch ist: ℕ ist unbeschränkt in K. Dann existiert s wie gewünscht. In einem beliebigen angeordneten Körper sind Fundamentalfolgen immer noch beschränkt, aber wir können eine obere Schranke i. A. nicht mehr durch Vervielfachung der 1 erreichen.
Es bleibt also zu zeigen, dass 〈 ℝ, +, ·, < 〉 metrisch vollständig ist. Sei zu diesem Ende 〈 fn/∼ | n ∈ ℕ 〉 eine Cauchy-Folge in 〈 ℝ, +, ·, < 〉.
Die Konvergenz ist klar, wenn { fn/∼ | n ∈ ℕ } endlich ist, denn dann ist der eindeutige unendlich oft angenommene Wert der Limes der Folge.
Sei also { fn/∼ | n ∈ ℕ } unendlich. O. E. gilt fn/∼ ≠ fn + 1/∼ für alle n ∈ ℕ, denn andernfalls dünnen wir die Folge aus; existiert der Limes der ausgedünnten Folge, so ist dieser Wert auch der Limes der ursprünglichen Folge.
Für n ∈ ℕ sei qn ∈ ℚ derart, sodass 〈 qn | k ∈ ℕ 〉/∼ zwischen fn/∼ und fn + 1/∼ in ℝ liegt. Dann ist 〈 〈 qn | k ∈ ℕ 〉/∼ | n ∈ ℕ 〉 eine Cauchy-Folge in ℝ. Weiter genügt es zu zeigen, dass der Grenzwert dieser Folge existiert, denn dann hat auch 〈 fn/∼ | n ∈ ℕ 〉 diesen Grenzwert.
Offenbar ist f* = 〈 qn | n ∈ ℕ 〉 ∈ F. Wir sind also fertig, wenn wir zeigen:
(+) | f*/∼ = limn → ∞ 〈 〈 qn | k ∈ ℕ 〉/∼ | n ∈ ℕ 〉. |
Da für alle g/∼ > 0 ein q ∈ ℚ+ existiert mit 0 < 〈 q | k ∈ ℕ 〉/∼ < g/∼, genügt es zu zeigen:
(+)′ | Für alle q ∈ ℚ+ gilt |〈 qn | k ∈ ℕ 〉/∼ − f*/∼| ≤ 〈 q | k ∈ ℕ 〉/∼ schließlich. |
Wegen f*(k) = qk für alle k ∈ ℕ genügt es also zu zeigen:
(+)″ | Für alle q ∈ ℚ+ gilt |〈 qn − qk | k ∈ ℕ 〉/∼| ≤ 〈 q | k ∈ ℕ 〉/∼ schließlich. |
Sei also q ∈ ℚ+. Sei n0 derart, dass |qn − qk| < q für alle n, k ≥ n0 gilt.
Dann gilt für alle n ≥ n0:
|〈 qn − qk | k ∈ ℕ 〉/∼| = 〈 |qn − qk| | k ∈ ℕ 〉/∼ ≤ 〈 q | k ∈ ℕ 〉/∼.
Dies zeigt (+)″.
Also ist 〈 ℝ, +, ·, < 〉 metrisch vollständig. Damit ist insgesamt gezeigt, dass die konstruierte Struktur 〈 ℝ, +, ·, < 〉 ein Körper der reellen Zahlen ist.
Für die allgemeine Konstruktion sei 〈 K, +, ·, < 〉 ein beliebiger angeordneter Körper. Arbeiten wir mit Fundamentalfolgen f : ℕ → K und ersetzen wir in obiger Konstruktion ℚ+ an jeder Stelle durch K+, so erhalten wir einen angeordneten Körper 〈 Kc, +, ·, < 〉. Identifizieren wir x ∈ K mit 〈 x | n ∈ ℕ 〉/∼, so können wir K ⊆ Kc annehmen. K ist dann mit dem Argument aus der Konstruktion oben immer noch dicht in Kc. Auch der Beweis der metrischen Vollständigkeit bleibt richtig. Lediglich das archimedische Axiom können wir i.A. nicht mehr zeigen (vgl. die Bemerkung oben; da K dicht in Kc ist, gilt das archimedische Axiom de facto genau dann in Kc, wenn es in K gilt). Wir nennen 〈 Kc, +, ·, < 〉 die kanonische metrische Vervollständigung von 〈 K, +, ·, < 〉.
Noch eine abschließende technische Bemerkung. Die Konstruktionen von Dedekind und Cantor lassen sich ohne Verwendung des Auswahlaxioms durchführen. Besonders bei der Konstruktion von Cantor muss man hier etwas aufpassen, da wir ohne Auswahlaxiom nicht annehmen dürfen, dass ℝ = F/∼ ein vollständiges Repräsentantensystem hat. Obige Konstruktion für den Schritt von ℚ nach ℝ verwendet das Auswahlaxiom nicht wesentlich. (Die Wahl eines 〈 q | k ∈ ℕ 〉/∼ zwischen fn/∼ und fn + 1/∼ etwa wird zur konkreten Definition „das erste q ∈ ℚ mit …“, wenn man zu Beginn eine feste Aufzählung von ℚ zugrunde legt.) Für die metrische Vervollständigung eines beliebigen angeordneten Körpers 〈 K, +, ·, < 〉 wird das Auswahlaxiom aber in der Regel gebraucht.