Das Erlanger Programm
Im Jahr 1872 erschienen nicht nur die Konstruktionen des Kontinuums von Cantor und Dedekind, sondern auch das „Erlanger Programm“ von Felix Klein, das die Geometrie und die Gruppentheorie zusammenbrachte, ja Geometrien − von denen die Euklidische Geometrie nur eine von vielen ist − gruppentheoretisch einführte: Einer Geometrie lässt sich eine Gruppe von bijektiven Abbildungen zuordnen, die die Sätze dieser Geometrie respektiert, oder, etwas anschaulicher, die die geometrischen Eigenschaften ihrer Figuren unverändert lässt. Umgekehrt wird durch jede solche Gruppe eine Geometrie definiert.
Wir betrachten als wichtigstes Beispiel die klassische Euklidische Geometrie im Anschauungsraum. Dieser Geometrie soll also eine bestimmte Gruppe von Bijektionen f : ℝ3 → ℝ3 zugeordnet werden, die den Gehalt der Geometrie genau einfängt − ihre sog. „Hauptgruppe“. Die Euklidische Geometrie interessiert sich nun zum Beispiel sicher nicht für die Lage einer Figur, und damit wird unsere Gruppe sicher alle Bijektionen f : ℝ3 → ℝ3 enthalten, die eine Translation um einen Vektor beschreiben. Ähnliches gilt für Rotationen. Der Leser ist aufgerufen, diese Beispiele zu ergänzen, und zu versuchen, die Gruppe der Euklidischen Geometrie zu bestimmen. Die Antwort von Felix Klein ist heute ein Ausgangspunkt vieler Darstellungen der Geometrie, etwa:
Coxeter (1981):
„Nach dem berühmten Erlanger Programm … [ von Felix Klein ] unterscheiden sich die verschiedenen Geometrien durch die Transformationsgruppe, unter welcher ihre Sätze richtig bleiben. Man könnte zunächst meinen, dass für die Euklidische Geometrie dies die stetige Gruppe aller Bewegungen sei. Da aber deren Sätze auch bei einer Maßstabänderung, wie bei einer fotographischen Vergrößerung, richtig bleiben, enthält die ‚Hauptgruppe‘ der Euklidischen Geometrie auch die ‚Ähnlichkeiten‘ (welche die Entfernungen verändern, aber die Winkel belassen).“
Die Euklidische Geometrie ist, und das ist die allgemein akzeptierte Antwort, durch die Gruppe der winkeltreuen Bijektionen (Ähnlichkeitsabbildungen) charakterisiert.
Nach diesen Vorbereitungen können wir Felix Klein selber zu Wort kommen lassen, der sein Programm wie folgt beschrieben hat:
Klein (1872):
„§ 1. Gruppen von räumlichen Transformationen. Hauptgruppe. Aufstellung eines allgemeinen Problems.
Der wesentliche Begriff, der bei den folgenden Auseinandersetzungen notwendig ist, ist der einer Gruppe von räumlichen Änderungen.
Beliebig viele Transformationen des Raums ergeben zusammengesetzt immer wieder eine Transformation. Hat nun eine gegebene Reihe von Transformationen die Eigenschaft, dass jede Änderung, die aus den ihr angehörigen durch Zusammensetzung hervorgeht, ihr selbst wieder angehört, so soll die Reihe eine Transformationsgruppe genannt werden.
Ein Beispiel für eine Transformationsgruppe bildet die Gesamtheit der Bewegungen … Eine in ihr enthaltene Gruppe bilden etwa die Rotationen um einen Punkt. Eine Gruppe, welche umgekehrt die Gruppe der Bewegungen umfasst, wird durch die Gesamtheit der Kollineationen vorgestellt …
Es gibt nun räumliche Transformationen, welche die geometrischen Eigenschaften räumlicher Gebilde überhaupt ungeändert lassen. Geometrische Eigenschaften sind nämlich ihrem Begriffe nach unabhängig von der Lage, die das zu untersuchende Objekt im Raum einnimmt, von seiner absoluten Größe, endlich auch von dem Sinne, in welchem seine Teile geordnet sind. Die Eigenschaften eines räumlichen Gebildes bleiben also ungeändert durch alle Bewegungen des Raumes, durch seine Ähnlichkeitstransformationen, durch den Prozess der Spiegelung, sowie durch alle Transformationen, die sich aus diesen zusammensetzen. Den Inbegriff aller dieser Transformationen bezeichnen wir als die Hauptgruppe räumlicher Änderungen; geometrische Eigenschaften werden durch die Transformationen der Hauptgruppe nicht geändert. Auch umgekehrt kann man sagen: Geometrische Eigenschaften sind durch ihre Unveränderlichkeit gegenüber den Transformationen der Hauptgruppe charakterisiert. Betrachtet man nämlich den Raum einen Augenblick als unbeweglich etc., als eine starre Mannigfaltigkeit, so hat jede Figur ein individuelles Interesse; von den Eigenschaften, die sie als Individuum hat, sind es nur die eigentlich geometrischen, welche bei den Änderungen der Hauptgruppe erhalten bleiben …
Streifen wir jetzt das mathematisch unwesentliche sinnliche Bild ab, und erblicken im Raume nur eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, also, indem wir an der gewohnten Vorstellung des Punktes als Raumelement festhalten, eine dreifach ausgedehnte. Nach Analogie mit den räumlichen Transformationen reden wir von den Transformationen der Mannigfaltigkeit; auch sie bilden Gruppen. Nur ist nicht mehr, wie im Raume, eine Gruppe vor den übrigen durch ihre Bedeutung ausgezeichnet; jede Gruppe ist mit jeder anderen gleichberechtigt. Als Verallgemeinerung der Geometrie entsteht so das folgende umfassende Problem:
Es ist eine Mannigfaltigkeit und in derselben eine Transformationsgruppe gegeben; man soll die der Mannigfaltigkeit angehörigen Gebilde hinsichtlich solcher Eigenschaften untersuchen, die durch die Transformationen der Gruppe nicht geändert werden.“
Wir wollen nun einige Begriffe präzisieren und eine wichtige Untergruppe der Euklidischen Hauptgruppe genauer betrachten.