5. Inhalte und Maße
Die Bestimmung der Längen von Kurven, der Inhalte von Flächen und der Volumina von dreidimensionalen Körpern gehört nicht nur zu den ältesten Traditionen der Mathematik, sondern auch zu den immer wiederkehrenden Quellen und Prüfsteinen am Weg ihrer geschichtlichen Entwicklung. Das geometrisch begründete Messen ist der Mathematik so eigentümlich wie das quantitativ begründete algebraische Rechnen.
Bereits in der Antike entstehen − neben dem Messverfahren der Wechselwegnahme des Euklidischen Algorithmus − die ersten beweistechnisch aufwendigen Methoden zur Flächen- und Volumenberechnung durch Ausschöpfung und Umschreibung: Das gesuchte Maß eines Objekts wird approximativ ermittelt, indem dieses durch einfache geometrische Gebilde, deren Maß bekannt ist, möglichst dicht aufgefüllt oder knapp umschlossen wird. Die hellenistische Mathematik war zur Zeit des Archimedes mit dieser Exhaustionsmethode sehr weit vorgedrungen, und die Wissenschaftsgeschichte hätte ein gutes Jahrtausend gespart, wenn es die andere Geschichte zugelassen hätte. Archimedes berechnete Oberfläche und Volumen der Kugel und Volumina bestimmter anderer Rotationskörper. Er findet etwa das Volumen πr2h/2 eines in einen Zylinder mit Radius r und Höhe h einbeschriebenen Paraboloids. Erst Newton und Leibniz haben die antiken Methoden durch die Infinitesimalrechnung vollendet, und bis zur Fundierung der Infinitesimalrechnung selber dauerte es weit bis ins 19. Jahrhundert. Die neue Technologie bewältigte mit Leichtigkeit Aufgaben wie etwa die Volumenberechnung von komplizierten Rotationskörpern oder die Minimierungsprobleme der Variationsrechnung. Besonders der Leibnizschen Formulierung der Theorie kommt die bekannte magische Sogwirkung der Analysis zu, der man sich nur durch den Blick auf die zuweilen undurchsichtige Systematik ihrer Ergebnisse zu entziehen vermag. Produziert werden eine Unzahl von faszinierenden Gleichungen wie Eulers ∑n ≥ 1 1/n2 = π2/6, spezielle Objekte wie die sinus- und cosinus-Funktion werden zum mysteriösen Ausgangspunkt riesiger Teiltheorien und alles scheint sich irgendwie durch Verwendung bestimmter Tricks lösen zu lassen. Am Ende steht man beeindruckt vor den Oasen innerhalb jener riesigen Integral- und Differentialwüsten, die die Mathematik dem normalen Erdenbürger als ein so unwirtliches Gefilde erscheinen lassen, und man betrachtet staunend die Karawanen der Physik, die sich hier ihr Wasser holen.
Das abstrakte mathematische Maßproblem wurde, trotz der hoch entwickelten Theorie zur Volumenbestimmung, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert. Seine Motivation ist heute, nach der semantischen Revolution der Mathematik durch die mengentheoretische Sprache, keine große Aufgabe mehr. Es erscheint dermaßen natürlich, dass es sich verlustfrei ad hoc formulieren lässt:
„Kann man einer beliebigen Menge von reellen Zahlen eine Länge zuweisen?“,
„Was ist die Fläche einer Teilmenge der Ebene?“,
usw. Gestellt wurde das Problem zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Borel und auf seinen Schultern von Lebesgue, nachdem Cantor „lineare Punktmannigfaltigkeiten“, allgemeine Teilmengen des Kontinuums also, überhaupt erst zu einem mathematischen Begriff gemacht hatte. Cantor selber hatte, wie auch Peano und Jordan, über das abstrakte mathematische Messen nachgedacht, aber erst Lebesgue gelang es, das Thema prägnant formuliert auf das mathematische Tapet zu bringen. Es eroberte seinen festen Platz in der modernen Analysis und wurde zur unentbehrlichen Grundlage der Wahrscheinlichkeitstheorie.