Das Lebesgue-Maß für höhere Dimensionen
Die Konstruktion des Lebesgue-Maßes λn im Raum ℝn verläuft völlig analog zur Konstruktion von λ. Man beginnt etwa für eine feste Dimension n mit der Definition des Volumens von n-dimensionalen Quadern:
λn(] a1, b1 [ × … × ] an, bn [) = (b1 − a1) · … · (bn − an)
für ai, bi ∈ ℝ mit ai ≤ bi für 1 ≤ i ≤ n. Offenbar kann man auf der rechten Seite auch ∏1 ≤ i ≤ n λ(] ai − bi [) setzen, was die Produktnotation λn = λ · … · λ motiviert.
Die folgenden Schritte sind nun völlig analog zur Dimension 1. Man erhält insgesamt einen messbaren Raum 〈 ℝn, ℒn, λn 〉 mit einem σ-finiten und bewegungsinvarianten Maß λn : ℒn → [ 0, ∞ ]. Für alle P ∈ ℒn und Euklidischen Isometrien g ist also g″P ∈ ℒn und λn(g″ P) = λn(P). Weiter ist (λn)c = λn.
Offene Mengen des ℝ2 sind i. A. keine disjunkten Vereinigungen von offenen Rechtecken (oder offenen Kugeln) des ℝ2. Es existiert aber eine kanonische Darstellung offener Mengen: Wir nennen hierzu eine Menge M von abgeschlossenen Quadraten [ a, b ] × [ c, c + (b − a) ] fast disjunkt, wenn die Elemente von M paarweise höchstens Randpunkte gemeinsam haben. Seien nun Gn für n ∈ ℕ die Quadrat-Gitter des ℝ2 durch die x-y-Achsen mit Maschenweite 1/2n. Wir fassen jedes Gn als Menge von abgeschlossenen Quadraten auf. Dann ist jedes Gn fast disjunkt. Ist nun U ⊆ ℝ2 offen, so definieren wir rekursiv für n ∈ ℕ:
Fn = { Q ∈ Gn | Q ⊆ U, non(Q ⊆ ⋃m < n Fm) }.
Sei F = ⋃n ∈ ℕ Fn. Dann ist F eine fast disjunkte Menge aus abgeschlossenen Quadraten mit rationalen Eckpunkten und es gilt U = ⋃ F.
Definition (kanonische fast disjunkte Darstellung offener Mengen im ℝ2)
Für jedes offene U ⊆ ℝ2 heißt die konstruierte Menge F die kanonische fast disjunkte Darstellung von U (mit Hilfe abgeschlossener Quadrate).
Analoge Darstellungen existieren für höhere Dimensionen.
Zwischen den Lebesgue-Maßen der verschiedenen Dimensionen bestehen enge Zusammenhänge. Für die beiden ersten Dimensionen haben wir etwa:
Übung
(i) | Für alle t ∈ ℝ gilt λ2(ℝ × { t }) = 0. |
(ii) | Es gibt ein beschränktes A ∈ ℒ2 und ein t ∈ ℝ derart, dass { x ∈ ℝ | (x, t) ∈ A } ∉ ℒ. |
(iii) | Für alle offenen U ⊆ ℝ und alle a, b ∈ ℝ mit a ≤ b gilt λ2(U × ] a, b [) = λ(U) · (b − a) = λ2(U × [ a, b ]). |
[ zu (ii): Ist V ⊆ [ 0, 1 ] mit V ∉ ℒ, so ist V × { t } eine λ2-Nullmenge für alle t ∈ ℝ.
zu (iii): U zerfällt in disjunkte offene Intervalle. ]
Eine allgemeinere Form der dritten Aussage ist:
Satz (Produktregel)
Seien B ⊆ ℝ, a, b ∈ ℝ mit a < b und sei A = B × [ a, b ]. Dann gilt:
(i) | (λ2)+(A) = λ+(B) (b − a), |
(ii) | (λ2)−(A) = λ−(B) (b − a). |
Ist B ∈ ℒ, so ist also A ∈ ℒ2 und es gilt:
(+) λ2(B × [ a, b ]) = λ(B) · (b − a) (= λ(B × ] a, b [)).
Beweis
zu (λ2)+(A) ≤ λ+(B) (b − a):
Sei ε > 0, und sei U ⊆ ℝ offen mit U ⊇ B und λ(U) < λ+(B) + ε.
Dann gilt A ⊆ U × [ a, b ] und damit
(λ2)+(A) ≤ λ2(U × [ a, b ]) = λ(U) (b − a) < λ+(B) (b − a) + ε (b − a).
Dies zeigt die Behauptung, da ε > 0 beliebig klein gewählt werden kann.
zu (λ2)+(A) ≥ λ+(B) (b − a):
Sei ε > 0, und sei S eine abzählbare Menge von offenen Rechtecken mit:
(i) | ⋃ S ⊇ A, |
(ii) | ∑Q ∈ S λ2(Q) < (λ2)+(A) + ε. |
[ Ein solches S erhält man z. B. leicht durch minimale Vergrößerung der Quadrate der kanonischen fast disjunkten Darstellung eines offenen V ⊇ A mit (λ2)(V) < (λ2)+(A) + ε/2. ]
Für jedes x ∈ B existiert wegen der Kompaktheit von [ a, b ] ein endliches Sx ⊆ S mit ⋃ Sx ⊇ { x } × [ a, b ]. Weiter existiert dann ein offenes Rechteck Qx mit { x } × [ a, b ] ⊆ Qx ⊆ ⋃ Sx.
Sei U der Schnitt von ⋃x ∈ B Qx mit der x-Achse. Dann ist U ⊇ B offen.
Wir rechnen:
(λ2)+(B)(b − a) ≤ λ(U) (b − a) = λ2(U × [ a, b ]) ≤ λ2(⋃x ∈ B Qx) ≤
λ2(⋃x ∈ B ⋃ Sx) ≤ λ2(⋃ S) ≤ ∑Q ∈ S λ2(Q) < (λ2)+(A) + ε.
Hieraus folgt die Behauptung.
zu (λ2)−(A) = λ−(B) (b − a):
Wir nehmen zunächst an, dass B ⊆ E := [ − n, n ] für ein n ∈ ℕ ist.
Sei D = E × [ a, b ]. Dann ist
(λ2)−(A) = λ2(D) − (λ2)+(D − A) = λ(E) · (b − a) − λ+(E − B) (b − a) =
(λ(E) − λ+(E − B))(b − a) = λ−(B) (b − a) (vgl. (i) der Liste (i) − (ix) oben).
Die Gleichung für allgemeine B folgt aus der Gleichung für beschränkte B: Ist C ⊆ A abgeschlossen, so ist λ2(C) = limn → ∞ λ2(C ∩ [ − n, n ] × ℝ).
Ist man nur an der Regel (+) für λ interessiert, kann man auch so vorgehen: Man zeigt die Regel (+) nacheinander für die Fälle: B ist ein offenes Intervall, B ist offen, B ist abgeschlossen, B ist Lebesgue-messbar. Für den letzten Fall nutzt man die ε-Umschreibung einer offenen und die ε-Einbeschreibung einer abgeschlossenen Menge. Ähnlich verläuft die folgende Ausdehnung des Ergebnisses:
Aus (+) folgt allgemeiner: Ist B ∈ ℒ und C offen, so ist A = B × C ∈ ℒ2 und es gilt λ2(A) = λ(B) · λ(C). Hiermit können wir dann (+) für Mengen A = B × C mit C abgeschlossen folgern. Durch Approximation mit offenen bzw. abgeschlossenen Mengen erhalten wir dann schließlich:
Korollar (allgemeine Produktregel)
Seien B, C ∈ ℒ, und sei A = B × C. Dann ist A ∈ ℒ2 und es gilt:
λ2(A) = λ(B) · λ(C).
Wir zeigen weiter noch folgende Sektionsregel, die der Intuition der infinitesimalen Summation sehr entgegen kommt:
Satz (Sektionsregel für offene Mengen)
Ist U ⊆ ℝ2 offen. Für t ∈ ℝ sei
Ut = { x ∈ ℝ | (x, t) ∈ U }.
Seien a, b, c ∈ ℝ derart, dass λ(Ut) > c für alle t ∈ ] a, b [.
Dann gilt λ2(U) > |b − a| · c.
Beweis
Die Aussage ist einfach zu zeigen, falls U die Vereinigung von endlich vielen offenen Quadraten ist, und sie gilt analog auch für die Vereinigung von endlich vielen abgeschlossenen Quadraten.
Für den allgemeinen Fall seien Q1, Q2, … die Elemente der kanonischen fast disjunkten Darstellung von U durch abgeschlossene Quadrate. Die Aufzählung der Qn sei injektiv und derart, dass größere vor kleineren Quadraten erscheinen. Für n ∈ ℕ setzen wir noch Sn = ⋃m ≤ n Qm.
Für alle t ∈ [ a, b ] existiert ein erstes n = n(t) mit
λ((Sn)t) > c, wobei wieder (Sn)t = { x ∈ ℝ | (x, t) ∈ Sn }.
Ist Qn = [ r, s ] × [ q, q + (s − r) ], so ist n(t′) = n für alle t′ ∈ [ q, q + (s − r) ].
Hieraus, der σ-Additivität von λ2 und der Aussage für den endlichen Fall folgt die Behauptung.
Die Rotationsinvarianz von λ2 liefert sofort allgemeinere Formen, insbesondere gilt eine Sektionsregel für senkrechte Schnitte.
Wir betrachten noch folgende Frage:
Sei f : ℝ → ℝ eine Funktion. Ist dann f ⊆ ℝ2 (als Graph) eine λ2-Nullmenge?
Diese Frage wird von der Intuition wohl mehr oder weniger stark bejaht. Die richtige Antwort ist aber ein nein. Sierpiński, der Klassiker der geistreichen Gegenbeispiele, hat eine Funktion f : ℝ → ℝ konstruiert, deren Komplement in der Ebene inneres λ2-Maß Null hat, d. h. es gilt (λ2)−(ℝ2 − f) = 0. Eine solche Funktion kann kein Element von ℒ2 sein, denn:
Übung
Ist f : ℝ → ℝ eine Funktion und f ∈ ℒ2, so ist λ2(f) = 0.
[ Andernfalls existiert ein Quadrat Q = [ z1, z1 + 1 ] × [ z2, z2 + 1 ], z1, z2 ∈ ℤ, derart, dass A = f ∩ Q positives und endliches λ2-Maß hat. Aber alle Verschiebungen von A entlang der y-Achse sind paarweise disjunkt. ]
Ist also eine Funktion f : ℝ → ℝ messbar für λ2, so ist λ2(ℝ − f) = ∞, und damit ist auch das innere λ2-Maß des Komplements von f unendlich. Die von Sierpiński konstruierte Funktion ist also sicher nicht λ2-messbar.