Riemann-Integral und Peano-Jordan-Inhalt
Die geometrische Definition des Lebesgue-Integrals wirft die Frage auf, ob zum klassischen Riemann-Integral ebenfalls ein Flächenmaß gehört. Das Riemann-Integral wird ja oft als Flächenmessung motiviert, wenn es dann auch in der Regel analytisch und nicht geometrisch definiert wird. Zur Erinnerung geben wir eine knappe, aber vollständige Definition des Riemann-Integrals mit Hilfe des obigen Partitionsbegriffs:
Definition (Riemann-Summe bzgl. einer Partition)
Sei f : [ a, b ] → ℝ, und sei p = 〈 ti, xi | i ≤ n 〉 eine Partition von [ a, b ] (irgendeiner Feinheit). Dann ist die Riemann-Summe von f bzgl. p, in Zeichen ∑ p f, definiert als:
∑ p f = ∑i ≤ n f (xi) · |ti + 1 − ti|.
Definition (Riemann-Integral und Riemann-Integrierbarkeit)
Sei f : [ a, b ] → ℝ eine Funktion.
f heißt Riemann-integrierbar, falls ein c ∈ ℝ existiert mit:
(+) | Für alle ε > 0 existiert ein δ ∈ ℝ+ mit: |
|∑ p f − c| < ε für alle Partitionen p von [ a, b ] der Feinheit δ. |
c heißt dann das Riemann-Integral von f.
Der Leser vergleiche hierzu die analytische Definition des Lebesgue-Integrals.
Übung
(i) | c ist im Falle der Existenz eindeutig bestimmt. |
(ii) | Ist f Riemann-integrierbar, so ist f beschränkt. |
Eine zu (+) äquivalente Integrierbarkeits-Bedingung für das Riemann-Integral ist: Für jede Folge 〈 pn | n ∈ ℕ 〉 von Partitionen von [ a, b ], deren Feinheit gegen Null konvergiert, gilt limn → ∞ ∑ pn f = c.
Übung
Eine äquivalente Definition des Riemann-Integrals erhält man, wenn man überall nur äquidistante Partitionen p von [ a, b ] zulässt, d. h. Partitionen p = 〈 ti, xi | i ≤ n 〉 mit |ti + 1 − ti| = (b − a)/(n + 1) für alle i ≤ n.
Riemann selbst beschreibt in seiner Habilitationsschrift von 1854 das Integral und die Aufgabe der Bestimmung „des Umfangs seiner Gültigkeit“ so:
Riemann (1854):
„4. Die Unbestimmtheit, welche noch in einigen Fundamentalpunkten der Lehre von den bestimmten Integralen herrscht, nötigt uns, einiges vorauszuschicken über den Begriff eines bestimmten Integrals und den Umfang seiner Gültigkeit.
Also zuerst: Was hat man unter ∫baf (x) dx zu verstehen?
Um dieses festzusetzen, nehmen wir zwischen a und b der Größe nach auf einander folgend, eine Reihe von Werten x1, x2, …, xn − 1 an und bezeichnen der Kürze wegen x1 − a durch δ1, x2 − x1 durch δ2, …, b − xn − 1 durch δn und durch ε einen positiven echten Bruch. Es wird alsdann der Wert der Summe
S = δ1 f(a + ε1 δ1) + δ2 f (x1 + ε2 δ2) + … + δn f (xn − 1 + εn δn)
von der Wahl der Intervalle und der Größen ε abhängen. Hat sie nun die Eigenschaft, wie auch δ und ε gewählt werden mögen, sich einer festen Grenze A unendlich zu nähern, sobald sämtliche δ unendlich klein werden, so heißt dieser Wert ∫baf (x) dx …
5. Untersuchen wir jetzt zweitens den Umfang der Gültigkeit dieses Begriffs oder die Frage: in welchen Fällen lässt eine Funktion eine Integration zu und in welchen nicht?“
Historisch korrekter wäre Cauchy-Riemann-Summe und Cauchy-Riemann-Integral. Cauchy hatte bereits 1823 das Riemann-Integral für stetige Funktionen über Riemann-Summen eingeführt; er arbeitet zwar in seinen Summen mit den Intervallgrenzen als Stützstellen, bemerkt aber explizit, dass man auch beliebige Stützstellen innerhalb der Zerlegung des Intervalls wählen kann. Integrale über Funktionen wie 1/x2 im Intervall ] 0, 1 ] führt Cauchy als uneigentliche Integrale über eine Limesbildung ein.
Erst Riemann hat dann in seiner Habilitationsschrift die Frage untersucht, welchen Funktionen sich durch Summenbildung über immer feinere Partitionen ein Integral zuordnen lässt. Riemann geht also nicht mehr von (stückweise) stetigen Funktionen aus, sondern sucht Bedingungen, die den Erfolg des Summationsprozesses garantieren und ihn im besten Fall charakterisieren. (Die Funktionen, die Riemann im Auge hatte, waren die punktweisen Limiten von Fourier-Reihen.)
Die heute häufig zu findende äquivalente Definition über das Supremum und Infimum der Funktionswerte in den Intervallen einer Partition stammt von Darboux 1875. Hier wird statt mit konkreten Funktionswerten mit den lokal schlechtesten denkbaren Werten gearbeitet:
Definition (Darboux-Summen und Riemann-Integral)
Sei f : [ a, b ] → ℝ eine beschränkte Funktion.
Wir setzen für eine Partition p = 〈 ti, xi | i ≤ n 〉 von [ a, b ]:
Sp f | = ∑i ≤ n |ti + 1 − ti| · supx ∈ [ ti, ti + 1 ] f (x), |
sp f | = ∑i ≤ n |ti + 1 − ti| · infx ∈ [ ti, ti + 1 ] f (x). |
f heißt Darboux-Riemann-integrierbar, falls gilt
(+) | Für alle ε > 0 existiert eine Partition p mit Sp f − sp f < ε. |
Die Summen spf und Spf hängen nur noch von den Zerlegungspunkten und nicht mehr von den Stützstellen der Partition p ab, sodass man stützstellenfreie Partitionen betrachten kann, wenn man nur mit Darboux-Summen arbeiten will.
Für alle Partitionen p und alle f gilt offenbar sp f ≤ ∑p f ≤ Sp f. Gilt nun die Aussage (+) für f, so gilt offenbar auch
(+′) supp sp f = infp Sp f,
wobei p alle Partitionen von [ a, b ] durchläuft. Ein Verschmelzungsargument für Partitionen zeigt andererseits, dass aus (+′) umgekehrt auch (+) folgt. Damit sind die beiden Bedingungen gleichwertig. Die Werte supp spf und infp Spf bezeichnet man auch als das obere bzw. untere Darboux-Integral. Sie existieren für jede Funktion f.
Es ist leicht zu sehen, dass die Darboux-Version der Riemann-Integrierbarkeit zur obigen Definition über Stützstellen äquivalent ist, und dass der gemeinsame Wert c des Supremums und Infimums in (+′) das Riemann-Integral von f ist. Wir werden unten sehen, dass die Definition über Stützstellen aus kulturellen Gründen eine bevorzugte Behandlung gegenüber den Darbouxschen Ober- und Untersummen geltend machen kann.
Eine geometrische Interpretation des Riemann-Integrals ist nun in der Tat möglich, wobei sich der zum Riemann-Integral gehörige Messapparat als ein nur endlich additiver Inhalt und nicht als ein σ-additives Maß entpuppt. Es handelt sich um den sog. Peano-Jordan-Inhalt auf ℝ2. Er lässt sich für beliebige Dimensionen einführen, wir besprechen ihn hier konkret aber nur für die Dimension 2, da wir mit ihm Flächen messen wollen.
Definition (δ-Quadrat)
Sei δ ∈ ℝ+. Ein Q ⊆ ℝ2 heißt ein δ-Quadrat, falls z1, z2 ∈ ℤ existieren mit
Q = [ z1δ, (z1 + 1)δ ] × [ z2δ, (z2 + 1)δ ].
Ein δ-Quadrat ist also eines der abgeschlossenen Quadrate, die durch ein Gitter der Maschenweite δ gebildet werden, das über ℝ2 ausgebreitet wird und dabei die Koordinatenachsen einschließt. Ein solches δ-Quadrat hat den elementaren und klanglich identischen Flächeninhalt δ2. Wir messen nun ein P ⊆ ℝ2, indem wir zählen, wie viele δ-Quadrate P berühren bzw. in P enthalten sind, und diese Anzahl mit δ2 multiplizieren. Schließlich lassen wir δ gegen Null gehen. Dies führt zum Lieblingsinhalt der Landesvermessungsämter [Jordan 1892 ]:
Definition (Jordan-Inhalt)
Sei P ⊆ ℝ2 beschränkt. Wir setzen:
ι+(P) = infδ > 0 | ∑ Q ist ein δ-Quadrat, Q ∩ P ≠ ∅ δ2, |
ι−(P) = supδ > 0 | ∑ Q ist ein δ-Quadrat, Q ⊆ P δ2. |
ι+(P) und ι−(P) heißen der äußere bzw. innere Jordan-Inhalt von P.
P heißt Jordan-messbar, falls ι+(P) = ι−(P). Wir setzen dann ι(P) = ι+(P) = ι−(P), und nennen ι(P) den Jordan-Inhalt von P.
Ein unbeschränktes P ⊆ ℝ2 heißt Jordan-messbar, falls die Mengen P ∩ [ − n, n ]2 Jordan-messbar für alle n ∈ ℕ sind. In diesem Fall setzen wir ι(P) = limn → ∞ ι(P ∩ [ − n, n ]2) ∈ [ 0, ∞ ].
Schließlich sei 𝒥 = { P ⊆ ℝ2 | P ist Jordan-messbar }.
Für die Dimension n = 1 werden die δ-Quadrate zu δ-Intervallen [ zδ, (z + 1)δ ], z ∈ ℤ, im Fall n = 3 zu Quadern, usw.
Würden wir ι+ und ι− wie oben für alle P ⊆ ℝ2 definieren, so erhielten wir z. B. für das Gitter P = ℤ × ℤ, dass ι+(P) = ∞, während limn → ∞ ι+(P ∩ [ −n, n ]2) = limn → ∞ 0 = 0. Man kann natürlich ι+ und ι− durch Limesbildung auf ganz ℘(ℝ2) erweitern.
Es ist leicht zu sehen, dass die Definition gleich bleibt, wenn man beliebige Quadrate im ℝ2 der Seitenlänge δ zulässt, und nicht nur Quadrate eines δ-Gitters, das die Koordinatenachsen umfasst. Statt der Quadrate kann man auch allgemeinere Rechtecke oder andere elementare geometrische Figuren zulassen (vgl. den Peano-Inhalt unten). Der entscheidende Unterschied zur Konstruktion bei Lebesgue ist die endliche Zahl der elementaren Objekte, mit denen wir eine gegebene beschränkte Menge ausmessen. Bei Lebesgue gehen in die Definition von λ+(P) alle offenen Mengen ein, und diese sind i.A. unendliche Vereinigungen von elementaren Figuren wie etwa den Rechtecken. Anders ausgedrückt: Bei Lebesgue ist bereits zur Konstruktion von approximierenden Objekten eine Limesbildung erlaubt, und dann noch eine zweite bei der Infimums- oder Supremumsbildung zur Berechnung des äußeren bzw. inneren Maßes.
Leicht zu sehen ist:
Satz (Jordan-Inhalt und Lebesgue-Maß)
Für alle beschränkten P ⊆ ℝ2 gilt:
ι−(P) ≤ (λ2)−(P) ≤ (λ2)+(P) ≤ ι+(P).
Insbesondere ist jede Jordan-messbare Menge auch Lebesgue-messbar, und es gilt λ2(P) = ι(P).
Beweis
zu ι−(P) ≤ (λ2)−(P): Die Mengen zur Bestimmung von ι−(P) sind abgeschlossene Teilmengen von P, tauchen also auch in der Supremumsbildung zur Berechnung von (λ2)−(P) auf.
zu (λ2)+(P) ≤ ι+(P): Die Mengen zur Bestimmung von ι+(P) können durch beliebig kleine Vergrößerung ihres Lebesgue-Maßes zu offenen Mengen gemacht werden, die P enthalten (benutze statt der δ-Quadrate offene δ + η-Quadrate, η ≥ 0 klein). Hieraus folgt die Behauptung.
Die beschränkten Lebesgue-messbaren Mengen sind dagegen eine echte Erweiterung der Jordan-messbaren Mengen. Ist P ⊆ ℝ2 eine beschränkte abzählbare Menge, die irgendwo dicht ist, so ist ι−(P) = 0, ι+(P) > 0, λ2(P) = 0. Ist konkret etwa P = ⋃q ∈ ℚ, 0 ≤ q ≤ 1 { q } × [ 0, 1 ], so ist ι+(P) = 1, ι−(P) = λ2(P) = 0. Hier wird die oben angesprochene doppelte Limesbildung bei Lebesgue besonders deutlich: Wir können für alle ε > 0 eine offene Menge U ∈ ⊇ P konstruieren, deren Maß kleiner als ε ist. Hierzu verwenden wir abzählbar viele offene Rechtecke, die alle { q } × [ 0, 1 ], q ∈ ℚ, überdecken, und deren Grundseitensumme kleiner als ε ist. Der zweite unendliche Prozess ist dann eine Infimumsbildung wie bei der Inhaltsdefinition.
Wir stellen einige (nicht schwer zu zeigende) Eigenschaften des Jordan-Inhalts zusammen:
Satz (über den Jordan-Inhalt)
(i) | Für alle beschränkten P ⊆ ℝ2 gilt: ι+(P) = infδ > 0 ∑ Q ist ein δ-Quadrat, Q ∩ cl(P) ≠ ∅ δ2, ι−(P) = supδ > 0 ∑ Q ist ein δ-Quadrat, Q ⊆ int(P) δ2. Insbesondere ist ι−(P) = ι−(int(P)) und ι+(P) = ι+(cl(P)). |
(ii) | Für alle beschränkten P ⊆ ℝ2 gilt: ι+(P) = ι−(P) + ι+(cl(P) − int(P)). Folglich sind äquivalent:
|
(iii) | Sei n ∈ ℕ und sei Q = [ − n, n ]2. Dann gilt für alle P ⊆ Q: ι−(P) = ι(Q) − ι+(Q − P). Insbesondere gilt P ∈ 𝒥 genau dann, wenn Q − P ∈ 𝒥. |
(iv) | Für alle P, Q ⊆ ℝ gilt ι+(P ∪ Q) ≤ ι+(P) + ι+(Q). Gilt P ∩ Q = ∅, so ist ι−(P ∪ Q) ≥ ι−(P) + ι+(Q). |
(v) | 〈 ℝ2, 𝒥, ι 〉 ist ein σ-finiter Inhaltsraum. Weiter ist 𝒥 abgeschlossen unter Bewegungen und ι ist bewegungsinvariant. |
(vi) | ι ist sogar σ-additiv innerhalb der Algebra 𝒥: Sind Pn ∈ 𝒥 für n ∈ ℕ paarweise disjunkt und derart, dass P = ⋃n ∈ ℕ Pn ∈ 𝒥, so gilt ι(P) = ∑n ∈ ℕ ι(Pn). |
Wir verweisen den Leser auf [ Mayrhofer 1952 ] für eine ausführliche Diskussion des Jordan-Inhalts.
Die Jordansche Messung läuft also darauf hinaus, den Rand einer Menge durch Überdeckung mit endlich vielen kleinen Quadraten in die Knie zu zwingen. Zur Illustration betrachten wir noch einmal das Beispiel P = ⋃q ∈ ℚ, 0 ≤ q ≤ 1 { q } × [ 0, 1 ]. Es gilt λ2(Q) = 0, aber der Rand von P ist das ganze Quadrat [ 0, 1 ] × [ 0, 1 ]. Lebesguesche Nullmengen können also einen großen Rand haben.
Es gilt schließlich der folgende aus heutiger Sicht fast offensichtliche Satz:
Satz (geometrische Interpretation des Riemann-Integrals)
Sei f : [ a, b ] → ℝ+0 eine beschränkte Funktion, und sei
A(f) = { (x, y) ∈ ℝ2 | x ∈ [ a, b ], 0 ≤ y < f (x) }.
Dann sind äquivalent:
(i) | f ist Riemann-integrierbar. |
(ii) | A(f) ist Jordan-messbar. |
In diesem Fall ist das Riemann-Integral über f gleich ι(A).
Genauer gilt: Für jede beschränkte Funktion f [ a, b ] → ℝ+0 ist der innere Peano-Jordan-Inhalt von A(f) gleich dem unteren Darboux-Integral von f, und Gleiches gilt für den äußeren Inhalt und das obere Darboux-Integral.
Die geometrische Bedeutung des Riemann-Integrals ist zuerst von Peano 1887 herausgestellt worden. Sie wird weiter bei Lebesgue mehrfach diskutiert. Eine frühe ausführliche Darstellung der Zusammenhänge findet sich im 10. Kapitel der „Grundzüge der Mengenlehre“ [ Hausdorff 1914 ].
Nach dem Satz oben ist dann das Riemann-Integral über f : [ a, b ] → ℝ+0 auch gleich λ2(A), und damit ist f auch Lebesgue-integrierbar mit gleichem Integral L(f) = ι(A) = λ2(A). Dies gilt nun aber allgemein für alle Riemann-integrierbaren Funktionen f, denn nach geeigneter Addition einer konstanten Funktion g auf [ a, b ] ist f + g überall größergleich 0, und aus der Linearität der Integrale folgt die Behauptung. Wir halten also fest:
Korollar (das Lebesgue-Integral setzt das Riemann-Integral fort)
Sei f : [ a, b ] → ℝ Riemann-integrierbar.
Dann ist f Lebesgue-integrierbar, und das Lebesgue-Integral stimmt mit dem Riemann-Integral überein.
Dieses Korollar lässt sich natürlich auch direkter ohne Verwendung eines Inhaltsbegriffs beweisen, etwa durch die Verwendung von unteren Darboux-Summen und den Satz von der monotonen Konvergenz.
Bereits einige Jahre vor Jordan hatte Peano den folgenden Inhalt, der den elementargeometrischen Flächeninhalt von Polygonen im ℝ2 verwendet, und also mit einem etwas reichhaltigeren Material als dem der Quadrate startet [ Peano 1887 ]:
Definition (Peano-Inhalt)
Sei P ⊆ ℝ2 beschränkt. Wir setzen:
π+(P) = inf ({ ρ | ρ ist die Fläche einer endlichen Überdeckung von P durch Polygone }),
π−(P) = sup({ ρ | ρ ist die Fläche von endlich vielen paarweise disjunkten
in P enthaltenen Polygonen }).
π+(P) und π−(P) heißen der äußere bzw. innere Peano-Inhalt von P.
Für beliebige P ⊆ ℝ2 wird nun P ist Peano-messbar und der Peano-Inhalt π(P) wie für den Jordan-Inhalt definiert.
Es zeigt sich, dass der Jordan-Inhalt und der Peano-Inhalt identisch sind, weshalb man heute vom Peano-Jordan-Inhalt spricht. Der Leser mag versuchen, die Identität der beiden Konstruktionen zu beweisen − eine letztendlich elementargeometrische Aufgabe. (Wie gut Polygone und andere Dinge durch kleine δ-Quadrate approximiert werden können, sieht man, wenn man eine komplexe Graphik an einem hochauflösenden Computerdisplay betrachtet.)
Wir geben schließlich noch eine Möglichkeit an, den Peano-Jordan-Inhalt direkt für alle Teilmengen von ℝ2 einzuführen, nicht nur für die beschränkten. Sei hierzu 𝒬 die Menge aller abgeschlossenen δ-Quadrate. Wir nennen ein A ⊆ 𝒬 lokal endlich, falls gilt:
(i) | Die Elemente von A überschneiden sich nur an den Rändern. |
(ii) | Für jedes n ∈ ℕ ist { Q ∈ A | Q ⊆ [ − n, n ]2 } endlich. |
Jedem lokal endlichen A ⊆ 𝒬 weisen wir als Fläche die abzählbar endliche oder abzählbar unendliche Summe seiner δ-Quadrate zu. Wir setzen dann:
ι+(P) = inf ({ ρ | ρ ist die Fläche eines lokal endlichen A ⊆ 𝒬 mit P ⊆ ⋃ A }).
ι−(P) = sup({ ρ | ρ ist die Fläche eines lokal endlichen A ⊆ 𝒬 mit ⋃ A ⊆ P }).
Ist ι+(P) = ι−(P) < ∞, so heißt P Jordan-messbar mit Maß ι(P) = ι+(P). Ist ι+(P) = ∞ und ist jedes P ∩ [ − n, n ]2 Jordan-messbar nach dem ersten Teil der Definition, so heißt P Jordan-messbar mit Maß ∞.
Statt Q kann man wieder andere geeignete elementargeometrische Objekte verwenden, etwa alle halb offenen Rechtecke im ℝ2 oder alle abgeschlossenen Dreiecke. Wichtig ist, dass jedes beschränkte P ⊆ ℝ2 durch endlich viele Grundobjekte überdeckt werden kann, die sich allenfalls an ihren Rändern überschneiden.
Man kann den Peano-Jordan-Inhalt und damit das Riemann-Integral als eine mathematische Vollendung der griechischen Ideen der Ausschöpfung und Umschreibung (Exhaustion und Kompression) ansehen. Der entscheidende Unterschied zum Lebesgue-Maß ist die Verwendung von nur endlich vielen Objekten zur Approximation. Das Lebesgue-Maß wagt im Messen den Schritt ins abzählbar Unendliche, und schließt damit die Grenzübergänge der Analysis in sich. Möglich wird dies erst durch die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen − sonst wäre ja der ganze Raum eine Nullmenge. Die Überabzählbarkeit von ℝ ist nicht nur eine Ruhmesstatue der Erforschung des Kontinuumsbegriffs, sondern sie bildet auch die technische Grundlage für die moderne Kultur von Maß und Integral.