Volle bewegungsinvariante Inhalte

 Wir zeigen den im letzten Kapitel bereits angekündigten Satz von Banach: Das Inhaltsproblem für die Dimensionen 1 und 2 hat Lösungen. Genauer gilt: Es existieren Lösungen, die auf der σ-Algebra der Lebesgue-messbaren Mengen mit dem Lebesgue-Maß übereinstimmen. Speziell lässt sich also das Lebesgue-Maß zu einem vollen translationsinvarianten σ-finiten Inhalt auf  fortsetzen.

 Banach bewies seinen Satz 1923, neun Jahre nachdem Hausdorff das Problem durch seine paradoxe Zerlegung der Kugeloberfläche aufgeworfen hatte − eine bemerkenswert lange Zeitspanne, gemessen an dem Interesse, das dem Problem entgegengebracht wurde. In der Tat führte der Beweis wesentlich neue Methoden ein: Banach verwendet eine Fortsetzungseigenschaft für gewisse Funktionen, deren allgemeine Form heute als Satz von Hahn-Banach einen Eckpfeiler der Funktionalanalysis darstellt.

 Der Beweis konstruiert Inhalte über lineare Funktionale auf einem Vektorraum. Zur Erinnerung:

Definition (lineare und sublineare Funktionale)

Sei V ein -Vektorraum. Eine Funktion p : V   heißt auch ein Funktional auf V.

p heißt linear, falls p(αf + βg) = αp(f) + βp(g) für alle α, β  ∈  , f, g  ∈  V.

p heißt sublinear, falls für alle α  ∈  +0 und alle f, g  ∈  V gilt:

p(αf)  =  αp(f)  und  p(f + g) ≤ p(f) + p(g).

 Die Vektorräume im Folgenden werden aus Funktionen bestehen, daher verwenden wir gleich hier die Symbole f und g für Elemente von V.

Übung

Sei p ein sublineares Funktional auf einem -Vektorraum V.

Dann gilt für alle f  ∈  V: −p(f)  ≤  p(−f).

[ p(0) = 0, also 0 = p(f + (−f)) ≤ p(f) + p(−f). ]

 Die andere Ungleichung, also p(−f) ≤ −p(f), gilt für sublineare Funktionale p im Allgemeinen nicht. Sie führt bereits zur Linearität von p:

Lemma (maximale lineare Teilräume für sublineare Funktionale)

Sei p ein sublineares Funktional auf einem -Vektorraum V.

Sei weiter U = { f  ∈  V | p(−f) = −p(f) }.

Dann ist U ein Unterraum von V und p|U : U   ist linear.

Weiter ist U der ⊆-größte Unterraum von V, auf dem p linear ist.

Beweis

Wegen 0  ∈  U ist U ≠ ∅.

Ist f  ∈  U und α  ∈  , so ist p(− αf) = − αp(f), da p(|α|f) = |α|p(f) und p(−|α|f) = |α| p(−f) = −|α|p(f). Also ist αf  ∈  U.

Sind f, g  ∈  U, so ist

−p(f + g)  ≤  p(−(f + g))  ≤  p(−f) + p(−g)  =  −(p(f) + p(g))  ≤  −p(f + g).

Also f + g  ∈  U. Damit ist U ein Unterraum von V.

Das Argument zeigt zudem, dass p linear auf U ist.

Ist U′ ein Unterraum von V und p linear auf U′, so ist p(−f) = −p(f) für alle f  ∈  U′, also U′ ⊆ U.

 Sei nun V ⊆ M ein -Vektorraum unter der punktweisen Addition und Skalarmultiplikation von Funktionen. Ist dann 𝒜 = { A ⊆ M | indA  ∈  V } eine Algebra auf M, so induziert jedes lineare Funktional w auf V mit w(indA) ≥ 0 für alle A  ∈  𝒜 einen endlichen Inhalt μw auf 𝒜 via

μw(A)  =  w(indA)  für alle A  ∈  𝒜.

Ist umgekehrt 〈 M, 𝒜, μ 〉 ein endlicher Inhaltsraum, so sei

T  =  { 1 ≤ i ≤ n αi indAi | n  ∈  , αi  ∈  , Ai  ∈  𝒜 für 1 ≤ i ≤ n }.

Dann ist T ein Untervektorraum von M. Wir definieren auf dem Raum T:

w(1 ≤ i ≤ n αi indAi)  =  1 ≤ i ≤ n αi μ(Ai).

Dann ist w : T   ein (wohldefiniertes) lineares Funktional auf T mit μw = μ.

 Die Lebesgue-integrierbaren Funktionen auf M = [ 0, 1 ] bilden einen Vektorraum V ⊆ M. Das Lebesgue-Integral ist ein lineares Funktional auf V, und der induzierte Inhalt ist das Lebesgue-Maß λ auf [ 0, 1 ]. Analoges gilt für die Riemann-integrierbaren Funktionen und den Peano-Jordan-Inhalt.

 Das Fundament der Konstruktion von Banach ist nun der folgende Vektorraum W ⊆ :

Definition (der Vektorraum der beschränkten Funktionen mit Periode 1)

Sei W = { f :    | f beschränkt, f(x + 1) = f (x) für alle x  ∈   }.

 Für f  ∈  W sei ∥f∥ = sup { |f (x)| | x  ∈   } die Supremumsnorm von f. Nach Definition von W ist ∥f∥ < ∞ für alle f  ∈  W. Die Supremumsnorm ist ein sublineares Funktional auf W.

 Der Raum W ist im Wesentlichen der Raum der beschränkten Funktionen auf dem halb offenen Intervall [ 0, 1 [. Wir setzen alle diese Funktionen periodisch fort, um in den Funktionsargumenten frei rechnen zu können. Sehr nützlich für das Folgende ist es auch, sich ein f  ∈  W als eine Funktion auf einer Kreislinie vorzustellen und die Argumente als Winkel.

 Die Banachsche Inhaltskonstruktion entwickelt sich aus folgendem Begriff:

Definition (äquivalent Null, f ∼ g)

Eine Funktion f  ∈  W heißt äquivalent Null, falls gilt:

infn ≥ 1, y1, …, yn  ∈   supx  ∈   1/n |1 ≤ i ≤ n f(x + yi)|  =  0.

Für zwei Funktionen f, g  ∈  W setzen wir:

f ∼ g,  falls  f − g äquivalent Null.

Banach (1923): 

„Soit f (x) = f(x + 1) une fonction de période 1, définie sur la circonférence d’un cercle de rayon = 1/2π, ayant pour centre l’origine des coordonnées rectangulaires; x désigne l’arc correspondant.

Definition 1. Nous appellerons la fonction f (x) équivalente à zéro, en écrivant

f (x) ∼ 0,

s’il existe pour tout nombre positif ε une suite finie de nombres réels α1, α2, …, αn, telle qu’on a pour tout réel

1/n | nk = 1 f(x + αk) | < ε.“

 Das Supremum „supx  ∈  “ können wir wegen der Periodizität der Funktionen in W auch durch „sup0 ≤ x < 1“ ersetzen. Dieses Supremum ist weiter für alle f  ∈  W durch ∥f∥ beschränkt. Wie erwartet gilt:

Übung

(i)

∼ ist eine Äquivalenzrelation auf W.

(ii)

Ist f äquivalent 0, so auch αf für alle α  ∈  .

(iii)

Sind f, g äquivalent 0, so auch f + g.

[ zu (iii): Betrachte Ausdrücke 1/nm |1 ≤ i ≤ n, 1 ≤ j ≤ m f (x + yi + y′j) + g(x + yi + y′j)|. ]

 Wir schreiben auch f ∼ c für f  ∈  W und c  ∈  , falls f ∼ constc für die konstante Funktion constc :   { c } gilt. Dies gibt Anlass zu einem natürlichen linearen Funktional auf einem Untervektorraum von W:

Definition (das Banach-Integral b : WB  )

Wir setzen:

WB  =  { f  ∈  W | es existiert ein c  ∈   mit f ∼ c }.

Weiter definieren wir b : WB   durch

b(f)  =  „das eindeutige c  ∈   mit f ∼ c“  für  f  ∈  WB.

b(f) heißt auch das Banach-Integral von f.

 Die Funktion b ist in der Tat wohldefiniert: Ist f ∼ c und f ∼ d für c, d  ∈  , so ist wegen Transitivität c ∼ d, was offenbar nur für c = d möglich ist. Weiter ist b ein translationsinvariantes lineares Funktional auf dem Unterraum WB:

Satz

(i)

WB ist ein Untervektorraum von W.

(ii)

b : WB   ist ein lineares Funktional auf WB.

(iii)

Ist f  ∈  WB und z  ∈  , so ist auch f ∘ trz  ∈  WB und es gilt b(f ∘ trz) = b(f).

 zu (iii): Es gilt (f ∘ trz)(x + yi) = f(x + z + yi). Mit x durchläuft auch x + z ganz , und damit ist leicht zu sehen, dass die fraglichen Suprema für f und f ∘ trz übereinstimmen.

 In vielen vertrauten Fällen können wir b(f) identifizieren:

Satz (Banach-Integral und Riemann-Integral)

Sei f  ∈  WB derart, dass f|[ 0, 1 ] Riemann-integrierbar ist.

Dann ist b(f) das Riemann-Integral über f von 0 bis 1.

Beweis

Sei c das Riemann-Integral über f von 0 bis 1.

Dann konvergieren die Funktionen gn : [ 0, 1 ]  , n ≥ 1, mit

gn(x)  =  1/n 1 ≤ i ≤ n f(x + i/n)  −  c  für alle x  ∈  ,

für n gegen unendlich gleichmäßig gegen 0 (!).

Die Wahl von yi = i/n für 1 ≤ i ≤ n, n ≥ 1 zeigt also, dass

infn ≥ 1, y1, …, yn  ∈   supx  ∈   1/n | 1 ≤ i ≤ n f(x + yi)  −  c|  =  0.

Also ist b(f) = c.

 Andererseits ist das Banach-Integral eine echte Fortsetzung des Riemann-Integrals auf WB. Denn es gibt Funktionen äquivalent Null in W, deren Einschränkung auf das Einheitsintervall nicht einmal Lebesgue-integrierbar ist. Zum Beweis dieser Aussage bemühen wir die Konstruktion von Vitali.

Satz (Banach-Integral und Lebesgue-Integral)

Es gibt ein g  ∈  WB mit b(g) = 0 derart, dass g|[ 0, 1 ] nicht Lebesgue-integrierbar ist.

Beweis

Sei V ⊆ [ 0, 1 [ ein Repräsentantensystem wie im Beweis des Satzes von Vitali.

Weiter seien V* = ⋃z  ∈   (V + z) und g = indV*.

Dann ist g wie gewünscht. Denn der Beweis des Satzes von Vitali zeigt zum einen, dass g|[ 0, 1 ] = indV nicht Lebesgue-integrierbar ist.

Andererseits gilt nach Konstruktion von V: Für alle n ≥ 1, alle rationalen 0 < y1 < … < yn < 1 und alle x  ∈   gilt g(x + yi) = 1 für allenfalls ein 1 ≤ i ≤ n:

Denn sind x + y, x + y′  ∈  V* für 0 < y < y′ < 1, so ist x + y′ − (x + y) = y′ − y < 1 irrational.

Also ist g äquivalent Null, und damit g  ∈  WB wie gewünscht.

Das Banach-Funktional

 Zur weiteren Untersuchung des Banach-Integrals und insbesondere seines Zusammenhangs zum Lebesgue-Integral führen wir noch ein weiteres Funktional ein. Es hängt eng mit b zusammen, ist aber im Unterschied zu b auf ganz W definiert.

Definition (das Banach-Funktional p auf W)

Für f  ∈  W, n ≥ 1 und y1, …, yn  ∈   sei

By1 , …, yn(f)  =  supx  ∈   1/n 1 ≤ i ≤ n f(x + yi).

Wir definieren weiter p  : W   durch:

p(f)  =  infn ≥ 1, y1, …, yn  ∈   By1, …, yn(f).

Die Funktion p heißt das Banach-Funktional auf W.

 Das Funktional p erscheint in [ Banach 1928 ] nur implizit.

 Der Leser beachte das Fehlen der Betragsstriche an der Summe in der Definition von By1, …, yn(f). War b(−f) = −b(f) noch trivial richtig, so können wir nun nicht mehr erwarten, dass p(−f) = −p(f) gilt. Immerhin gilt noch:

Übung

Für alle f  ∈  W und alle c  ∈   gilt p(f + c) = p(f) + c.

Weiter ist p(f ∘ trz) = p(f) für alle z  ∈  .

 Entscheidend ist:

Satz (Sublinearität von p)

Das Banach-Funktional p ist sublinear.

Beweis

zu p(αf) = α p(f) für alle α ≥ 0 und f  ∈  W:

Es gilt (αf)(x) = αf (x) für alle x  ∈   und α ≥ 0. Also ist stets

By1, …, yn(αf)  =  α By1, …, yn(f),

und damit wegen α ≥ 0 auch p(αf) = αp(f).

zu p(f + g) ≤ p(f) + p(g) für alle f, g  ∈  W:

Sei k ≥ 1, und seien y1, …, yn, z1, …, zm  ∈   derart, dass

By1, …, yn(f)  ≤  p(f)  +  1/(2k),  Bz1, …, zm(g)  ≤  p(g)  +  1/(2k).

Sei w1, …, wn · m eine Aufzählung von { yi + zj | 1 ≤ i ≤ n, 1 ≤ j ≤ m }.

Es gilt p(f + g) ≤ Bw1, …, wnm(f  + g). Wir zeigen:

(+)  Bw1, …, wnm(f  + g)  ≤  p(f)  +  p(g)  +  1/k.

Da k beliebig groß gewählt werden kann, folgt aus (+) wie gewünscht, dass

p(f + g)  ≤  p(f) + p(g).

Beweis von (+)

Bw1, …, wnm(f  + g)  =  supx  ∈   1/(nm) i, j (f + g)(x + yi + zj)  ≤ 

supx  ∈   1/(nm) i, j f (x + yi + zj)  +  supx  ∈   1/(nm) i, j g(x + yi + zj).

Aber für den linken der beiden Summanden gilt:

supx  ∈   1/(nm) i, j f (x + yi + zj)  ≤ 

1/m  j supx  ∈   1/n i f (x + zj + yi)  = x + zj durchläuft wie x ganz

1/m  j supx  ∈   1/n i f(x + yi)  = 

supx  ∈   1/n i f(x + yi)  =  By1, …, yn(f)  ≤  p(f) + 1/(2k).

Analoges gilt für den rechten Summanden, und dies zeigt (+).

 Wegen der Sublinearität von p gilt −p(f) ≤ p(−f), und damit erhalten wir die folgende Äquivalenz:

Satz (äquivalent Null via p)

Für alle f  ∈  W sind äquivalent:

(i)

f ist äquivalent Null (d. h. b(f) = 0).

(ii)

p(f) = 0  und  p(−f) = 0.

Beweis

zu (i)  (ii):

Ist f äquivalent 0, so ist offenbar p(f) ≤ 0 und p(−f) ≤ 0.

Also 0 ≤ − p(−f) ≤ p(f) ≤ 0, und damit p(f) = p(−f) = 0.

zu (ii)  (i):

Sei also sowohl p(f) ≤ 0 als auch p(−f) ≤ 0.

Sei ε > 0 beliebig, und seien y1, …, yn, z1, …, zm  ∈   derart, dass

1/n 1 ≤ i ≤ n f(x + yi)  <  ε  und  1/m 1 ≤ j ≤ m − f(x + zj)  <  ε

für alle x  ∈   gilt. Dann folgt für alle x  ∈  :

1/n 1 ≤ i ≤ n 1 ≤ j ≤ m f (x + yi + zj)  <  mε  und

1/m 1 ≤ i ≤ n 1 ≤ j ≤ m −f (x + yi + zj)  <  nε.

Also 1/(mn) | 1 ≤ i ≤ n 1 ≤ j ≤ m f (x + yi + zj) | < ε.

Korollar

(i)

Es gilt b  =  p|WB.

(ii)

WB ist der größte Unterraum von W, auf dem p linear ist.

Beweis

zu (i):

Sei f  ∈  WB und sei b(f) = c. Dann ist f − c äquivalent Null und damit p(f − c) = 0. Aber p(f − c) = p(f) − c, und damit p(f) = c = b(f).

zu (ii):

Es genügt nach dem Lemma oben zu zeigen, dass

U  =  { f  ∈  W | p(−f) = −p(f) }  ⊆  WB.

Sei also f  ∈  W derart, dass p(−f) = −p(f), und sei weiter c = p(f).

Dann gilt p(f − c) = p(f) − c = 0 und p(−(f − c)) = p(−f) + c = 0.

Nach (ii)  (i) im Satz oben ist also f − c äquivalent Null, also f  ∈  WB.

 Wir untersuchen als Nächstes den Zusammenhang zwischen p und dem Lebesgue-Integral (auf [ 0, 1 [).

Definition (WL, (f))

Wir setzen:

WL  =  { f  ∈  W | f|[ 0, 1 [ ist Lebesgue-integrierbar }.

Für f  ∈  WL sei weiter (f) = L(f; 0, 1).

 Es gilt nun:

Satz (p und translationsinvariante Funktionale, (f) ≤ p(f))

Sei U ein Unterraum von W, und sei w : U   ein lineares Funktional.

Für alle f  ∈  U, y  ∈   sei f ∘ try  ∈  U und w(f) = w(f ∘ try).

Schließlich gelte für alle f  ∈  U, c  ∈   mit f ≤ constc, dass w(f) ≤ c.

Dann gilt w(f) ≤ p(f) für alle f  ∈  U.

Insbesondere ist (f) ≤ p(f) für alle f  ∈  WL.

Beweis

Sei n ≥ 1, und seien y1, …, yn  ∈  . Dann gilt nach den Voraussetzungen an w:

w(f)  =  1/n 1 ≤ i ≤ n w(f ∘ tryi)  =  w(1/n 1 ≤ i ≤ n f ∘ tryi)  ≤  By1, …, yn(f),

letzteres wegen (1/n 1 ≤ i ≤ n f ∘ tryi)(x) ≤ By1, …, yn(f) für alle 0 ≤ x < 1.

Da n ≥ 1 und y1, …, yn  ∈   beliebig, gilt also

w(f)  ≤  inf { By1, …, yn(f) | n ≥ 1, y1, …, yn  ∈   }  =  p(f).

erfüllt alle erforderlichen Eigenschaften auf U = WL, und hieraus folgt der Zusatz.

Korollar

p|(WL ∩ WB)  =  |(WL ∩ WB).

Beweis

Sei f  ∈  WB ∩ WL. Dann ist (f) ≤ p(f). Aber p ist linear auf WB, also

−p(f)  =  p(−f)  ≥  (−f)  =  −(f).

Also p(f) = (f).

 Es gibt nun andererseits ein f  ∈  WL mit (f) < p(f). Wir werden später bei der Diskussion der Baire-Eigenschaft eine Lebesgue-Nullmenge N ⊆ [ 0, 1 [ konstruieren, deren Komplement in [ 0, 1 [ eine magere Menge ist, d. h. eine abzählbare Vereinigung von nirgendsdichten Teilmengen von [ 0, 1 [ (ein A ⊆  heißt dabei nirgendsdicht, falls für alle reellen a < b reelle c, d existieren mit a < c < d < b und A ∩ [ c, d ] = ∅). Ist nun f  ∈  W derart, dass f|[ 0, 1 [ = indN für ein derartiges N, so gilt (f) = 0 und, wie wir zeigen werden, p(f) = 1. Wir verwenden die Existenz von N hier als black-box, und geben den folgenden Beweis für Leser, die später hierher zurückkehren wollen oder mit mageren Mengen bereits etwas vertraut sind. Für die anderen genügt es, das Ergebnis zur Kenntnis zu nehmen. Die Konstruktion ist insgesamt ein hübsches und geometrisch anschauliches Verfeinern und Verschieben von symmetrischen Intervallketten.

Satz (magere Mengen unter p und b)

Sei M ⊆ [ 0, 1 [ mager, und sei N = [ 0, 1 [ − M.

Sei weiter g  ∈  W mit g|[ 0, 1 [ = indN.

Dann ist p(g) = 1.

Ist weiter g  ∈  WB, so ist b(⋃z  ∈   indM + z) = 0.

Beweis

Sei M = ⋃k ≥ 1 Nk, mit Nk nirgendsdicht für alle k ≥ 1.

Wir zeigen, dass für alle y1 < y2 < … < yn ein x  ∈   existiert mit

(+)  g(x + yi)  =  1  für alle 1 ≤ i ≤ n.

Hieraus folgt offenbar p(g) = 1.

Seien also n ≥ 1 und y1 < … < yn für den Rest fixiert.

Für k ≥ 1 sei Mk = ⋃z  ∈   (Nk + z). Dann sind alle Mk wieder nirgendsdicht und für alle x  ∈   gilt g(x) = 1 genau dann, wenn x  ∉  ⋃k ≥ 1 Mk.

Wir brauchen noch einige lokale Begriffe.

Sei x  ∈  , und sei  = ([ a1, b1 ], …, [ an, bn ]) eine Folge von abgeschlossenen reellen Intervallen. Wir nennen  eine Kette an x, falls gilt:

(a)

ai < bi für alle 1 ≤ i ≤ n,

(b)

alle Intervalle von  sind gleichlang,

(c)

x + yi ist der Mittelpunkt von [ ai, bi ] für alle 1 ≤ i ≤ n.

Für eine Kette  sei ⋃  = ⋃1 ≤ i ≤ n [ ai, bi ].

Für Ketten 1 an x1 und 2 an x2 schreiben wir 2 ⊆ 1, falls jedes Intervall von 2 ein Teilintervall des entsprechenden Intervalls von 1 ist.

Sei nun  eine beliebige Kette an einem x. Durch Induktion nach k  ∈   können wir eine Folge von Ketten k = ([ ak1, bk1 ], …, [ akn, bkn ]) an gewissen xk für k  ∈   konstruieren derart, dass für alle k  ∈   gilt:

(i)

0  =  ,  x0  =  x,

(ii)

k + 1  ⊆  k,

(iii)

k  ∩  Mk  =  ∅  falls  k ≥ 1.

Induktionsschritt von k nach k + 1 für k ≥ 0:

Alle Intervalle im Folgenden seien abgeschlossen mit Länge > 0.

Wegen Mk + 1 nirgendsdicht gibt es ein J1 ⊆ [ ak1, bk1 ] mit J1 ∩ Mk + 1 = ∅.

Sei J2 die Translation von J1 um y2 − y1 (also J2 ⊆ [ ak2, bk2 ]).

Wegen Mk + 1 nirgendsdicht gibt es ein J2′ ⊆ J2 mit J2′ ∩ Mk + 1 = ∅.

Sei J3 die Translation von J2′ um y3 − y2, J3′ ⊆ J3, J3′ ∩ Mk + 1 = ∅, usw.

Schließlich erhalten wir ein mit Mk + 1 disjunktes Jn′ ⊆ [ akn, bkn ].

Sei [ ak + 1i, bk + 1i ] die Translation von Jn′ um yi − yn für 1 ≤ i ≤ n, und sei xk + 1 = m − yn, wobei m der Mittelpunkt von Jn′ = [ ak + 1n, bk + 1n ] ist.

Dann ist k + 1 = ([ ak + 11, bk + 11 ], …, [ ak + 1n, bk + 1n ]) und xk + 1 wie gewünscht.

Sei x = lim ∞ xk (x existiert als Limes der Mittelpunkte geschachtelter endlicher Intervalle). Dann gilt wie gewünscht (+) für x, denn für alle 1 ≤ i ≤ n gilt x + yi  ∉  Mk für alle k ≥ 1, also g(x + yi) = 1.

Der Zusatz folgt aus der Linearität von b auf WB und b(const1) = 1.

 Das Resultat erscheint im Wesentlichen bereits bei Banach, vgl. [ Banach 1923 , S. 21f. ].

Korollar

Es gibt ein g  ∈  WL mit (g) = 0 und p(g) = 1.

Für jedes solche g gilt g  ∉  WB.

Beweis

Seien Nk ⊆ [ 0, 1 ] nirgendsdicht für k ≥ 1 derart, dass N = [ 0, 1 [ − ⋃k ≥ 1 Nk eine Lebesgue-Nullmenge ist. Sei weiter wieder g  ∈  W mit g|[ 0, 1 [ = indN.

Dann ist g wie gewünscht. (Ein g  ∈  WL mit (g) ≠ p(g) kann nicht in WB liegen, da andernfalls g  ∈  WL ∩ WB, also (g) = b(g) = p(g).)

 Zusammenfassend ergibt sich:

Satz (Hauptsatz über p : W  ,  b : WB  ,   : WL  )

Das sublineare Banach-Funktional p setzt das lineare Banach-Integral b auf WB fort (welches das Riemann-Integral fortsetzt).

p dominiert das Lebesgue-Integral  auf WL.

b und  stimmen auf ihrem gemeinsamen Definitionsbereich WB ∩ WL überein. Zwischen WB und WL besteht kein Inklusionsverhältnis.

Abschweifung über Hamelbasen

 Bevor wir nun die Inhaltskonstruktion durchführen, zeigen wir noch mit Hilfe der bisherigen Ergebnisse einen Satz über Hamelbasen.

Satz (Hamelbasen und Banach-Integral)

Sei V der -Vektorraum , und sei H ⊆ V ∩ [ 0, 1 [ linear unabhängig.

Sei weiter h  ∈  W mit h|[ 0, 1 [ = indH.

Dann ist h  ∈  WB und es gilt b(h) = 0.

Beweis

Wir zeigen zunächst:

(+)Seien z0, …, z7  ∈  [ 0, 1 [ paarweise verschiedene Elemente von H.
Dann existiert kein x  ∈   mit h(x + z2i + z2i + 1) = 1 für alle 0 ≤ i ≤ 3.

Beweis von (+)

Annahme doch für ein x. O.E. gilt x  ∈  [ 0, 1 [.

Dann existieren u0, u1, u2, u3  ∈  H und e0, e1, e2, e3  ∈  { 0, 1, 2 } mit:

x  +  z2i  +  z2i + 1  =  ui  +  ei  für alle 0 ≤ i ≤ 3.

O. E. ist e0 = e1 (den vier ei stehen nur drei Werte zur Verfügung).

Subtraktion der Gleichungen mit i = 0 und i = 1 ergibt:

z0  +  z1  −  z2  −  z3  =  u0 − u1  =:  z.

Dann hat aber der Vektor z  ∈   zwei verschiedene Darstellungen als -Linearkombination von Elementen aus H, Widerspruch.

Die Aussage des Satzes ist klar, falls H endlich ist.

Seien also z0, …, zn, …, n  ∈  , paarweise verschiedene Elemente von H.

Für n  ∈   sei

yn  =  z2n  +  z2n + 1.

Dann gilt nach (+) für alle x  ∈  , dass h(x + yi) = 1 für höchstens drei i  ∈  .

Also ist h äquivalent Null.

 Insbesondere erhalten wir:

Korollar (Lebesgue-messbare Hamelbasen)

Sei H ⊆ [ 0, 1 [ eine Hamelbasis von .

Ist H Lebesgue-messbar, so ist H eine Lebesgue-Nullmenge.

 Es gibt nach einem Ergebnis von Sierpiński sowohl Lebesgue-messbare Hamelbasen von  als auch solche, die nicht Lebesgue-messbar sind.

Fortsetzung des Lebesgue-Maßes zu einem vollen Inhalt

 Eine Ungleichung wie „(f) ≤ p(f)“ ruft den folgenden bekannten Satz auf den Plan, den wir hier nur mit einer die wesentliche Konstruktion enthaltenden Beweisskizze angeben. Er wurde gerade durch die Inhalts-Konstruktion von Banach 1923 und allgemeiner durch Arbeiten von Hahn im Jahre 1927 und Banach im Jahre 1929 ans Licht gebracht und spielt in der Mathematik heute an verschiedenen Stellen eine Schlüsselrolle.

Satz (Satz von Hahn-Banach für reelle Vektorräume)

Sei V ein -Vektorraum, und sei U ein Unterraum von V.

Weiter seien w : U   ein lineares Funktional auf U und p : V   ein sublineares Funktional auf V mit w(f) ≤ p(f) für alle f  ∈  U.

Dann existiert ein lineares Funktional w* : V   mit:

(a)

w*|U  =  w,

(b)

w*(f)  ≤  p(f) für alle f  ∈  V.

Beweis (Skizze)

Sei g  ∈  V − U fest gewählt. Wir setzen:

a =  sup f  ∈  U − p(−(g + f))  −  w(f),
b =  inf f  ∈  U p(g + f)  −  w(f).

Dann gilt a ≤ b. Sei c  ∈  [ a, b ] beliebig. Für f  ∈  U und α  ∈   setzen wir:

w*(f + αg)  =  w(f)  +  α c.

Dann ist w* eine durch p dominierte Fortsetzung von w auf den von U ∪ { g } erzeugten Unterraum von V (mit w*(g) = c). Ein Maximalargument liefert nun ein auf ganz V definiertes Funktional w* wie gewünscht.

 Ist a < b im Beweis oben, so existieren also sogar überabzählbar viele lineare durch p dominierte Fortsetzungen w* von w. In der Tat kann man i.A. keine eindeutige Fortsetzung erwarten.

 Eine Paradeanwendung des Satzes von Hahn-Banach in unserem Kontext ist:

Satz (Fortsetzung von Inhalten zu vollen Inhalten)

Sei 〈 M, 𝒜, μ 〉 ein σ-finiter Inhaltsraum.

Dann existiert ein σ-finiter Inhalt μ* : (M)  [ 0, ∞ ] mit μ*|𝒜 = μ.

Beweis

Wir setzen:

T  =  { 1 ≤ i ≤ n αi indAi | n  ∈  , αi  ∈  , Ai  ∈  𝒜, μ(Ai) < ∞ },

V  =  { f : M   | es existiert ein g  ∈  T mit |f| ≤ g },

w(1 ≤ i ≤ n αi indAi)  =  1 ≤ i ≤ n αi μ(Ai) auf T,
p(f)  =  infg  ∈  T, |f| ≤ g w(g) für f  ∈  V.

Dann ist w linear auf T, p sublinear auf V und w(f) ≤ p(f) für f  ∈  T.

Sei also w* : V   eine lineare durch p dominierte Fortsetzung von w.

Wir setzen nun für alle A ⊆ M:

μ*(A)=w*(indA)falls indAV,sonst.

Dann ist w* wie gewünscht.

 Siehe [ Wagon 1999, S. 153 ] für einen alternativen Beweis.

 Insbesondere existiert also eine Fortsetzung des Lebesgue-Maßes auf  zu einem vollen σ-finiten Inhalt auf  − ein nichttriviales Ergebnis. Die Symmetrieeigenschaften des Lebesgue-Maßes gehen dabei aber i.A. verloren. Bei Verwendung des Banach-Funktionals statt des gröberen dominierenden Funktionals im Beweis oben können wir diese Eigenschaften retten, wie wir sehen werden.

 In unserer Situation ist WL ein Unterraum von W, und  ein lineares Funktional auf WL, das durch das sublineare Banach-Funktional p dominiert wird. Damit liefert uns der Satz von Hahn-Banach eine lineare Fortsetzung * des Lebesgue-Integrals  nach ganz W. Jede solche lineare Fortsetzung * von  induziert nun einen Inhalt μ* auf ganz ([ 0, 1 [):

μ*(A)  =  *(indA*),  mit A* = ⋃z  ∈   (A + z) für A ⊆ [ 0, 1 [.

In der üblichen Weise können wir dann μ* zu einem σ-finiten Inhalt auf ganz () fortsetzen (durch Stückelung von A ⊆  in -Teile A ∩ [ z, z + 1 [, z  ∈  ). Wir bezeichnen diese Fortsetzung im Folgenden der Einfachheit halber ebenfalls mit μ*. Es gilt dann immer noch, dass μ* das Lebesgue-Maß auf  fortsetzt.

 Um einen bewegungsinvarianten Inhalt zu erhalten, sind noch einige Modifikationen nötig. Die Translationsinvarianz gilt aber bereits automatisch, denn p respektiert Translationen in der folgenden Form:

Satz

Seien f  ∈  W, y  ∈  , und sei g = f ∘ try  −  f.

Dann ist g äquivalent Null.

Beweis

Es genügt zu zeigen: p(g) ≤ 0 und p(−g) ≤ 0.

Für alle n ≥ 1 gilt:

p(g)  ≤  By, 2y, …, ny(g)  =  supx  ∈   1/n 1 ≤ i ≤ n g(x + iy)  = 

supx  ∈   1/n 1 ≤ i ≤ n (f (x + iy + y) − f (x + iy))  = 

supx  ∈   1/n (f (x + (n + 1)y) − f (x + y))  ≤  2∥f∥/n.

Dies gilt für beliebig große n, und damit ist p(g) ≤ 0.

Völlig analog beweist man p(−g) ≤ 0.

 Damit folgt leicht:

Satz (Eigenschaften von Hahn-Banach-Fortsetzungen von  bzgl. p)

Sei * : W   linear mit *|WL =  und *(f) ≤ p(f) für alle f  ∈  W.

Dann gilt für alle f  ∈  W:

(i)c  ≤  *(f) für alle c  ∈   mit c ≤ f (x) für alle x  ∈  ,
(ii)*(f ∘ try)  =  *(f) für alle y  ∈  .
Beweis

zu (i):  Sei also c ≤ f (x) für alle x  ∈  . Dann gilt

*(f)  =  *(−f)  ≤  p(−f)  ≤  − c.

Also c  ≤  *(f).

zu (ii):  Sei y  ∈  , und sei wieder g = f ∘ try − f.

Dann gilt nach dem Satz oben:

*(g) ≤   p(g) =   b(g) =  0,
*(−g) ≤  p(−g) =  b(−g) =  0.

Also *(g) = 0 wegen *(−g) = − *(g).

Also *(f ∘ try) − *(f) = 0 nach Linearität von * und Definition von g.

 Damit ist μ* ein translationsinvarianter σ-finiter Inhalt auf () für alle durch p dominierten Fortsetzungen * von . Die volle Bewegungsinvarianz erreichen wir, indem wir ein solches Funktional * gegen Spiegelungen symmetrisieren. Dies kann sehr einfach wie folgt geschehen:

Definition (Symmetrisierung des Funktionals *)

Sei * eine durch p dominierte lineare Fortsetzung von  nach W.

Wir definieren ** : W   durch:

**(f)  =  (*(f)  +  *(f ∘ sp))/2,

wobei sp :    die Spiegelung am Nullpunkt ist, d. h.

sp(x)  =  − x  für x  ∈  .

 Wegen der Invarianz des Lebesgue-Integrals unter Bewegungen und der Periodizität der Elemente von W gilt (f) = (f ∘ sp) für alle f  ∈  WL. Damit ist ** wie * eine Fortsetzung von , und ** ist immer noch translationsinvariant, denn für alle y gilt try ∘ sp = sp ∘ tr− y und damit:

**(f ∘ try)  =  (*(f ∘ try)  +  *(f ∘ try ∘ sp))/2  =  (*(f)  +  *(f ∘ sp ∘ tr− y))/2  =  (*(f)  +  *(f ∘ sp))/2  =  **(f).

Für alle f  ∈  W gilt wegen sp ∘ sp = id zudem:

**(f ∘ sp)  =  (*(f ∘ sp)  +  *(f ∘ sp ∘ sp))/2  =  **(f).

 Betrachten wir nun den durch ** induzierten σ-finiten Inhalt μ** auf (), so ist dieser Inhalt also invariant unter allen Translationen und unter Spiegelungen am Nullpunkt, und dies genügt nach den Ergebnissen des vierten Kapitels für die volle Bewegungsinvarianz von μ**. Damit haben wir das Inhaltsproblem für die Dimension 1 in der folgenden starken Form gelöst:

Satz (Satz von Banach für die Dimension 1)

Es existiert ein voller bewegungsinvarianter σ-finiter Inhalt auf , der das Lebesgue-Maß fortsetzt.

 Die obige Betrachtung magerer Mengen und einer Abweichung (g) < p(g) liefert weiter eine zweite Lösung des Inhaltsproblems, die zwar den Peano-Jordan-Inhalt ι fortsetzt, aber nicht mehr das Lebesgue-Maß λ:

Satz (eine andere Lösung des Inhaltsproblems für die Dimension 1)

Es existiert ein voller bewegungsinvarianter σ-finiter Inhalt μ auf , der den Peano-Jordan-Inhalt fortsetzt, und für den eine beschränkte Lebesgue-messbare Menge N existiert mit μ(N) ≠ λ(N).

Beweis

Sei U = { f  ∈  W | f|[ 0, 1 ] ist Riemann-integrierbar }, und sei w(f) das Riemann-Integral von f|[ 0, 1 ] für f  ∈  U, also w = b|U = p|U.

Weiter sei g = ⋃z  ∈   indN + z die im Beweis oben konstruierte Funktion mit (g) = 0, p(g) = 1, N ⊆ [ 0, 1 [, [ 0, 1 [ − N mager. Dann ist g  ∉  U.

Wir setzen das Funktional w mit Hilfe des Satzes von Hahn-Banach zu einem Funktional w* auf ganz W fort (w wird auf U durch p dominiert).

Wir starten die Hahn-Banach-Fortsetzung mit g  ∉  U und wählen

w*(g)  =  inf f  ∈  U p(g + f)  −  w(f)

als Wert für g (vgl. die Beweisskizze des Satzes von Hahn-Banach).

Aus p(g) = 1, p(f) = b(f) = w(f) für alle f  ∈  U errechnet sich w*(g) = 1 (!).

Nun argumentieren wir wie oben. Wir erhalten insgesamt einen vollen bewegungsinvarianten Inhalt μ ⊇ ι mit μ(N) = 1, während λ(N) = 0.

 Banach gab diese Konstruktion 1923 an, um die folgende Frage von Ruziewicz und Lebesgue positiv zu beantworten: Gibt es einen bewegungsinvarianten normierten Inhalt μ auf  derart, dass μ(P) ≠ λ(P) für ein beschränktes P  ∈  ? (Die Forderung einer Abweichung auf einer beschränkten Menge ist wesentlich, um triviale Gegenbeispiele auszuschließen: Setze nämlich ν(P) = λ(P) für P  ∈   beschränkt und ν(P) = ∞ für unbeschränkte P  ∈  . Dann ist ν ein bewegungsinvarianter Inhalt auf  mit ν ≠ λ.) Die Funktion λ :    ist durch „bewegungsinvariant, normiert, σ-additiv“ eindeutig charakterisiert, nicht mehr aber durch „bewegungsinvariant, normiert, additiv“. Das Gleiche gilt auch noch für die Dimension n = 2, während ab n = 3 die Funktion λ tatsächlich durch das schwächere Trio festgelegt ist (siehe [ Wagon 1999 ] für diese und verwandte Fragen der Existenz sog. Ruziewicz-Inhalte).

 Das Inhaltsproblem für die erste Dimension ist also lösbar, und es ist nicht eindeutig lösbar. Bevor wir zur Inhaltsmessung von Flächen kommen, überlegen wir uns, was unsere Konstruktion für alle Dimensionen gleichermaßen liefert.

Die Konstruktion von Banach in höheren Dimensionen

 Sei n ≥ 1 fixiert. Wir betrachten den -Vektorraum

Wn  =  { f  :  n  n  |  f ist beschränkt, f hat Periode 1 },

wobei nun ein f : n  n die Periode 1 hat, falls f(x + ei) = f (x) für alle x  ∈  n und alle kanonischen Einheitsvektoren ei, 1 ≤ i ≤ n, gilt.

 Führen wir die obige Konstruktion nun für Wn durch, so erhalten wir:

Satz

Sei n ≥ 1. Dann existiert ein σ-finiter Inhalt μ : (n [ 0, ∞ ] mit:

(i)

μ ist translationsinvariant.

(ii)

μ ist invariant unter Spiegelungen an allen von den kanonischen Einheitsvektoren aufgespannten Hyperebenen im n.

(iii)

μ setzt das Lebesgue-Maß auf dem n fort.

Bewegungsinvariante Inhalte für die Ebene

 Im Fall n = 2 können wir sogar eine volle Bewegungsinvarianz erreichen, und wir wollen das Argument, das auf den Ergebnissen für den Fall n = 1 aufbaut, nun skizzieren. Die einfache Natur der Isometrien im 2 erlaubt es, einen vollen bewegungsinvarianten Inhalt auf  zu einem solchen auf 2 durch Symmetrisierung zu liften. Wir werden sehen, dass ein analoger Dimensionssprung von der Ebene in den Raum nicht mehr möglich ist − die Isometrien im dreidimensionalen Raum sind in diesem Sinne zu kompliziert. (Der mathematisch verantwortliche Unterschied ist genau die Auflösbarkeit/Nichtauflösbarkeit der Isometriegruppen 1, 2 bzw. 3. Vgl. die Diskussion der mittelbaren Gruppen unten.)

 Seien für das Folgende:

(a)

𝔅  =  { A ⊆ 2 | A ist beschränkt },

(b)

V  =  { f :    | { x  ∈   | f (x) ≠ 0 } ist beschränkt },

(c)

w : V   ein bewegungsinvariantes (d. h. w(f ∘ g) = w(f) für alle f  ∈  V und

g  ∈  1) lineares Funktional mit w(ind[ 0, 1 ]) = 1,

(d)

μ(A)  =  w(indA) für alle beschränkten Teilmengen A von .

 Ein w wie in (c) existiert nach den obigen Ergebnissen. Wir können weiter annehmen, dass w das Lebesgue-Integral fortsetzt.

 Sei K der Kreis im 2 mit Mittelpunkt 0 und Radius 1/(2π). K hat Umfang 1, und wir identifizieren die Punkte von K in der offensichtlichen Weise mit den Elementen von [ 0, 1 [. Für φ  ∈  K sei rotφ die Rotation im 2 um φ und spφ die Spiegelung im 2 an der Geraden durch 0 und φ.

 Der Begriff „Inhalt auf 𝔅“ ist in der offensichtlichen Weise definiert (𝔅 ist keine Algebra, da 2  ∉  𝔅. 𝔅 ist aber ein Mengenring, d. h. es gilt ∅  ∈  𝔅 und 𝔅 ist abgeschlossen unter endlichen Schnitten, Vereinigungen und Differenzen). Wir definieren nun einen bewegungsinvarianten Inhalt μ* : 𝔅  +0 wie folgt:

Sei fA(x)  =  μ({ y  ∈   | (x, y)  ∈  A })  für x  ∈   und A  ∈  𝔅. Dann ist fA  ∈  V für alle A  ∈  𝔅, und wir setzen:

μ2(A)  =  w(fA)  für A  ∈  𝔅.

Dann ist μ2 ein Inhalt auf 𝔅 mit μ([ 0, 1 ]2) = 1. Wegen der Translationsinvarianz von μ ist μ2 invariant unter Translationen entlang der y-Achse. Wegen der Translationsinvarianz von w ist weiter μ2 invariant unter Translationen entlang der x-Achse. Also ist μ2 ein translationsinvarianter Inhalt auf 𝔅.

 Aufgrund der Spiegelungsinvarianz von μ ist μ2 invariant unter der Spiegelung an der x-Achse, d. h. unter sp0. Wegen der Spiegelungsinvarianz von w ist μ2 weiter auch invariant unter der Spiegelung an der y-Achse, d. h. unter sp1/4, was wir aber nicht brauchen.

 Wir definieren nun durch Symmetrisierung einen weiteren Inhalt μ* auf 𝔅. Für φ  ∈  [ 0, 1 [ und A  ∈  𝔅 sei hierzu zunächst

gA(φ)  =  μ2(rotφ″ A).

Für φ  ∉  [ 0, 1 [ und A  ∈  𝔅 setzen wir gA(φ) = 0. Dann ist gA  ∈  V und wir definieren für alle A  ∈  𝔅:

μ*(A)  =  w(gA).

Dann ist μ* ein Inhalt auf 𝔅 und invariant unter Translationen und Rotationen um den Nullpunkt. Weiter ist μ* immer noch invariant unter der Spieglung sp0 an der x-Achse. Damit ist aber μ* invariant unter allen Spiegelungen, denn für alle φ  ∈  [ 0, 1/2 [ gilt spφ = rotφ ∘ sp0 ∘ rot1 − φ.

 Insgesamt ist damit μ* invariant unter Translationen, Rotationen um 0 und Spiegelungen an Achsen durch 0. Nach den Ergebnissen über Isometrien im 2 ist also μ* : 𝔅  +0 ein bewegungsinvarianter Inhalt. In der üblichen Weise kann μ* nun zu einem bewegungsinvarianten σ-finiten Inhalt auf ganz (2) fortgesetzt werden. Weiter gilt: Ist w eine Fortsetzung des Lebesgue-Integrals, so ist μ2 eine Fortsetzung des Lebesgue-Maßes auf 2, und das Gleiche gilt auch für μ*.

 Insgesamt erreichen wir damit:

Satz (Satz von Banach für die Dimension 2)

Es existiert ein voller bewegungsinvarianter σ-finiter Inhalt auf 2, der das Lebesgue-Maß fortsetzt.

 Die Ideen der Arbeit von Banach 1923 wurden durch von Neumann 1929 weiter ausgebaut und stark verallgemeinert. Er führte den Begriff der mittelbaren Gruppe (engl. amenable group) ein, der vor allem den Unterschied zwischen der Dimension 2 und 3 mit gruppentheoretischen Methoden beleuchtet. Weitere Untersuchungen zu diesem Thema finden sich dann insbesondere bei Mycielski (1979). Wir diskutieren diesen Ansatz am Ende des Kapitels.

 Von Neumann wies in seiner Arbeit von 1929 auch auf den folgenden „Defekt“ der Banachschen Lösungen des Maßproblems für die Ebene hin: Beim Übergang von der Geraden zur Ebene tritt ein neuer Typ von linearen Abbildungen auf, der intuitiv alle Flächen erhält, nämlich der speziellen affinen Abbildungen. Wir definieren hierzu:

Definition (affine Abbildungen, spezielle affine Gruppe, An , SAn)

Eine Abbildung f : n  n heißt affin, falls es ein z  ∈  n und ein A  ∈  Matn gibt mit f = trz ∘ fA.

Die affine Gruppe An besteht aus allen affinen Abbildungen f = trz ∘ fA mit A invertierbar (d. h. fA bijektiv).

Eine affine Abbildung f = trz ∘ fA heißt speziell, falls zudem det(A) = 1 gilt.

Wir setzen weiter:

SAn  =  { trz ∘ fA | det(A) = 1, z  ∈  n }.

SAn heißt die spezielle affine Gruppe.

 Affine Abbildungen bilden Parallelogramme auf Parallelogramme ab, und spezielle affine Abbildungen erhalten zusätzlich die Fläche (und die Orientierung) der Parallelogramme.

 Von Neumann hat nun gezeigt (1929):

Satz (Satz von von Neumann über affine Flächenmessungen)

Es gibt keinen vollen σ-finiten Inhalt μ : (2 [ 0, ∞ ] mit μ([ 0, 1 ]2) > 0, der invariant unter allen speziellen affinen Abbildungen ist, d. h. für den gilt:

μ(f ″A) = μ(A)  für alle A ⊆ 2 und alle f  ∈  SA2.

 Ein zweites negatives Resultat für die Dimension 2 ist die bereits erwähnte Entdeckung von Hausdorff von 1914, die die Untersuchungen von Banach und von Neumann anregte: Es gibt keinen rotationsinvarianten vollen endlichen Inhalt μ auf einer Kugeloberfläche K ⊆ 2 mit μ(K) > 0.

 Das anspruchsvolle σ-additive Messen scheitert im Hinblick auf die erwünschte Translationsinvarianz bereits für die Längenmessung, wie die Konstruktion von Vitali oder die Zerlegung von  in abzählbar viele C-verschiebbare Mengen zeigt. Die Krise des bescheideneren endlich additiven Messens beginnt, ganz abgesehen von mangelnder Eindeutigkeit, bei der Messung von Flächen. Speziell sind die Banachschen vollen Inhalte für die Ebene zwar invariant unter allen Isometrien, aber nicht invariant unter allen „flächenerhaltenden“ affinen Abbildungen. Der Grund für die Unmöglichkeit einer SA2-invarianten Flächenmessung ist der gleiche wie für die Unmöglichkeit einer SO2-invarianten Flächenmessung auf einer Kugeloberfläche oder der n-invarianten Volumenmessung im n für alle Dimensionen n ≥ 3: Die beteiligten Gruppen tragen eine kombinatorische Unterstruktur in sich, die zu paradoxen Zerlegungen Anlass gibt (vgl. hierzu die Überlegungen am Ende des vierten Kapitels). Wir werden uns diesem Phänomen nun zuwenden.