Die Paradoxa von Hausdorff und Banach-Tarski

 Mit diesen allgemeinen Resultaten ausgestattet können wir nun die klassischen paradoxen Zerlegungen von Hausdorff für die Sphäre S2 und von Banach und Tarski für Kugeln im 3 durchführen.

Satz (Hausdorff-Paradoxon)

Sei F eine zu F2 isomorphe Untergruppe von SO3, und sei

Q  =  { x  ∈  S2 | x liegt auf der Drehachse eines g  ∈  F, g ≠ 1 }.

Dann ist S2 − Q paradox bzgl. SO3.

Beweis

Es genügt zu zeigen, dass S2 − Q paradox bzgl. F ist.

Seien hierzu x  ∈  S2 − Q, g  ∈  F. Dann gilt

(+)  gx   ∈  S2 − Q.

Andernfalls ist hgx = gx für ein h  ∈  F − { 1 }, also g−1hgx = x.

Aber g−1 h g ≠ 1, da sonst h = g g−1 = 1. Also x  ∈  Q, Widerspruch.

Ist zudem g ≠ 1, so ist offenbar gx ≠ x.

Also folgt die Behauptung aus den obigen Sätzen.

Korollar (Satz von Hausdorff über Messungen auf der Kugeloberfläche)

Es gibt keinen rotationsinvarianten Inhalt μ : (S2 +0 mit μ(S2) > 0.

Beweis

Sei μ ein voller rotationsinvarianter Inhalt auf S2. Wir zeigen μ(S2) = 0.

Seien F ⊆ SO3 und Q wie oben. Dann ist Q abzählbar und deswegen gilt:

(+)  μ(Q)  =  0.

Beweis von (+)

Wegen der Abzählbarkeit von Q existieren:

(α)

eine Drehachse D durch den Nullpunkt mit D ∩ Q = ∅,

(β)

ein Drehwinkel um diese Achse, der (O-Ton Hausdorff) „keiner der geographischen Längendifferenzen zweier Punkte von Q gleich ist“ (wobei die Längendifferenzen bzgl. der Drehachse D gemessen werden) [ Hausdorff 1914, S. 469 ].

Ist φ  ∈  SO3 diese Drehung, so ist Q ∩ φQ = ∅, also μ(Q) ≤ 1/2 μ(S2).

Anwendung des Verfahrens auf die abzählbare Menge Q′ = Q ∪ φQ liefert μ(Q) ≤ 1/4 μ(S2), usw. Allgemein zeigt das Argument, dass μ(Q) ≤ 1/2n μ(S2) für alle n  ∈   gilt. Also μ(Q) = 0.

Sei S = S2 − Q. Wegen S paradox existiert ein A ⊆ S mit S ∼ A ∼ S − A.

Wegen μ rotationsinvariant ist

μ(A)  =  μ(S − A)  =  μ(S),

also notwendig μ(S) = 0.

Nach (+) ist aber auch μ(Q) = 0, also μ(S2) = μ(S) + μ(Q) = 0.

 Es ist nützlich, das Argument für μ(Q) = 0 noch in einer etwas anderen Form zu notieren:

Satz (nichtüberlappende Drehungen einer abzählbaren Teilmenge der Sphäre)

Sei Q ⊆ S2 abzählbar. Dann existiert ein φ  ∈  SO3 derart, dass die Mengen

…,  φ−2Q,  φ−1Q,  Q,  φQ,  φ2Q,  …

paarweise disjunkt sind.

Beweis

Wir wählen wieder eine Drehachse D durch 0 mit D ∩ Q = ∅.

Für alle x, y  ∈  Q existieren nur abzählbar viele Drehungen φ um diese Achse derart, dass φzx = y für ein z  ∈   gilt. Für alle anderen Drehungen φ gilt dann aber φz1 x ≠ φz2 y für alle z1, z2  ∈  , da sonst φz1 − z2 x = y.

Da Q × Q abzählbar ist, sind also sogar alle bis auf abzählbare viele Drehungen um die Achse D wie gewünscht.

 Hieraus und aus dem Hausdorff-Paradoxon fließen eine ganze Reihe von weiteren Ergebnissen. Zunächst gilt:

Korollar

Sei Q ⊆ S2 abzählbar. Dann gilt S2 ∼ S2 − Q bzgl. SO3.

Insbesondere ist S2 paradox bzgl. SO3.

Beweis

zu S2 ∼ S2 − Q:

Sei φ  ∈  SO3 mit φn Q ∩ φm Q = ∅ für alle n, m  ∈  , n ≠ m.

Wir setzen:

Q*  =  ⋃n  ∈   φnQ.

Dann gilt φQ* = ⋃n ≥ 1 φn Q  =  Q* − Q und damit

S2  =  (S2 − Q*)  ∪  Q*  ∼  (S2 − Q*)  ∪  φ Q*  =  S2 − Q.

zum Zusatz:

Nach dem Hausdorff-Paradoxon existiert ein abzählbares

Q ⊆ S2 derart, dass S2 − Q paradox bzgl. SO3 ist.

Aber S2 ∼ S2 − Q, und damit ist auch S2 paradox.

 Die Paradoxie von S2 liefert weiter die Paradoxie von Kugeln ohne den Nullpunkt, und ein Verschiebungstrick wie im Beweis von S2 ∼ S2 − Q erlaubt es, den Nullpunkt miteinzubeziehen:

Satz

Sei K ⊆ 3 eine Vollkugel um 0 mit Radius ε > 0. Dann gilt:

(i)

K − { 0 } ist paradox bzgl. SO3.

(ii)

K ist paradox bzgl. 3.

Beweis

zu (i):

Sei A ⊆ S2 derart, dass S2 ∼ A ∼ S2 − A bzgl. SO3.

Wir projizieren A auf alle Kugelschichten Kδ = { x  ∈  3 | |x| = δ }, 0 < δ ≤ ε, und erhalten so:

A*  =  { δ x | x  ∈  A, 0 < δ ≤ ε }.

Dann gilt offenbar K − { 0 }  ∼  A*  ∼  K − (A* ∪ { 0 }) bzgl. SO3.

zu (ii):

Sei D eine Gerade mit 0  ∉  D und φ0  ∈  K für alle Drehungen φ um D.

Weiter sei ψ eine Drehung um D mit ψz0 ≠ 0 für alle z  ∈  .

Wir setzen:

N  =  { ψn0 | n  ∈   }  ⊆  K.

Dann gilt ψN = N − { 0 } und also

K  =  (K − N)  ∪  N  ∼  (K − N)  ∪  ψN  =  K − { 0 }.

Also ist K wie K − { 0 } paradox bzgl. 3.

 Der Beweis zeigt genauer, dass K paradox bzgl. der Untergruppe der positiven Isometrien des 3 ist. Ebenso zeigt das Argument, dass der ganze Raum 3 paradox bzgl. 3 ist.

 Die paradoxe Zerlegung einer Vollkugel K lässt sich iterieren und liefert folgende „Vervielfachung“ von K: Sei A, B eine 3-paradoxe Zerlegung von K, also K ∼ A, K ∼ B, B = K − A. Wir fixieren eine 3-Zerlegung 〈 Ki, Bi, gi | 1 ≤ i ≤ n 〉 von K und B. Jedes disjunkte Paar P, Q mit P ∪ Q = K induziert dann eine Zerlegung von B in zwei Teile C und D mit P ∼ C und Q ∼ D via

Ci  =  gi(Ki ∩ P),  Di  =  gi(Ki ∩ Q)  für 1 ≤ i ≤ n,
C  =  ⋃1 ≤ i ≤ n Ci,  D  =  ⋃1 ≤ i ≤ n Di.

Insbesondere induziert das disjunkte Paar A und B selbst eine solche Zerlegung von B in C und D, und es gilt dann A ∼ C und B ∼ D. Wegen A ∼ B ist dann aber auch C ∼ D, und wir erhalten also eine Zerlegung von K in drei Teile A, C, D mit K ∼ A ∼ C ∼ D. Wiederholung des Verfahrens liefert für alle n ≥ 1 eine Zerlegung von K in n untereinander und mit K zerlegungsgleiche Teile A1, …, An. Jedes Ai ist dann modulo einer endlichen Zerlegung und Bewegung im 3 eine Vollkugel K.

 Mit Hilfe der Banach-Version von Cantor-Bernstein erhalten wir nun leicht ein sehr allgemeines Resultat über paradoxe Mengen im 3:

Satz (Banach-Tarski-Paradoxon, allgemeine Form)

Seien A, B ⊆ 3 beschränkte Mengen mit jeweils nichtleerem Inneren.

Dann gilt A ∼ B bzgl. der Isometriegruppe 3.

Insbesondere ist jede beschränkte Teilmenge C des 3 mit nichtleerem Inneren paradox.

Beweis

zu B ≼ A:

Sei K ⊆ A eine Vollkugel mit positivem Radius.

Wegen B beschränkt existieren z1, …, zn  ∈  3 mit

B  ⊆  trz1 K  ∪  …  ∪  trzn K.

Iterierte paradoxe Zerlegung von K liefert paarweise disjunkte A1, …, An ⊆ K mit K ∼ Ai für alle 1 ≤ i ≤ n. Dann gilt aber auch:

Ai ∼ trzi K für 1 ≤ i ≤ n und damit haben wir:

B  ≼  trz1 K  ∪  …  ∪  trzn K  ∼  A1  ∪  …  ∪  An  ≼  K  ≼  A.

zu A ≼ B:

Völlig analog.

zum Zusatz:

Sei A ⊆ C derart, dass sowohl A als auch B = C − A nichtleeres Inneres haben. Dann gilt C ∼ A und C ∼ B nach dem bereits Bewiesenen.

Also ist C paradox.

Übung

Das Banach-Tarski-Paradoxon gilt für alle n ≥ 3 und alle beschränkten Mengen A, B ⊆ n mit nichtleerem Inneren.

 Man spricht der Einfachheit halber vom Banach-Tarski-Paradoxon, die Referenz an Hausdorff ist aber immer zu spüren. Im Zentrum des Arguments steht Hausdorffs Erkenntnis, dass sich kombinatorische Gruppen wie die F2 oder die Z2, 3 in die SO3 einbetten lassen und dass sich kombinatorische Zerlegungen solcher Gruppen durch abstrakte Konstruktionen in die Räume n übertragen lassen. Erst durch diese Übertragung entstehen kontraintuitive Resultate, unsere paradox-genannte Zerlegung der F2 ist ja für sich genommen ebenso wenig paradox wie die Tatsache, dass es zwei voneinander vollkommen unabhängige Rotationen gibt.

 Die gruppentheoretische Sicht des gesamten Themenkomplexes ist vor allem durch von Neumann geprägt:

von Neumann (1929):

„Banach … gab ein allgemeines, nichtnegatives, additives und orthogonal-invariantes Maß sowohl für die Gerade als auch für die Ebene an! Der Euklidische Raum scheint danach beim Erreichen der Dimensionszahl 3 jäh seinen Charakter zu ändern: für n < 3 lässt er einen allgemeinen Maßbegriff noch zu, für n ≥ 3 nicht mehr!

 Dass dem nicht so ist, dass vielmehr der innere Grund dieses sonderbaren Phänomens eine gewisse gruppentheoretische Eigenheit der n-dimensionalen Drehgruppe ist, dies zu zeigen ist der Hauptzweck der vorliegenden Arbeit.“

 Sind etwa K1, K2, K3 drei Vollkugeln im 3 mit beliebigen positiven Durchmessern, so ist K13 K2 ∪ K3. Die Vollkugel K1 kann also derart in endlich viele Teile zerlegt werden, dass sich durch geeignete Translationen und Rotationen dieser Teile die beiden Vollkugeln K2 und K3 ergeben (wir brauchen keine Spiegelungen, wie der Beweis zeigt). Weiter kann eine von einem beliebig „schmutzigen“ beschränkten Rest umgebene Vollkugel K von diesem Rest durch endliches Zerlegen und Bewegen befreit werden, denn es gilt K ∼ K ∪ R.

 Jan Mycielski schreibt über das Paradoxon:

Mycielski, im Vorwort von [ Wagon 1999 ]:

„Given any two bounded sets A and B in three-dimensional space 3, each having nonempty interior, one can partition A into finitely many disjoint parts and rearrange them by rigid motions to form B. This, I believe, is the most surprising result of theoretical mathematics. It shows the imaginary character of the unrestricted idea of a set in 3. It precludes the existence of finitely additive, congruence-invariant measures over all bounded subsets of 3 and it shows the necessity of more restricted constructions such as Lebesgue’s measure.“

 Die Theorie der paradoxen Zerlegungen lässt nun vielerlei Feinuntersuchungen zu, etwa: Wie viele Teile werden mindestens gebraucht, um eine Kugel zu verdoppeln? Daneben gibt es weitere limitierende maßtheoretische Sätze zu entdecken. Oben hatten wir zum Beispiel schon den Satz von von Neumann erwähnt: Es gibt keinen SA2-invarianten σ-finiten Inhalt μ : (2 [ 0, ∞ ] mit μ([ 0, 1 ]2) = 1. Den Grund wird der Leser erraten: Die Gruppe der speziellen affinen Abbildungen SA2 enthält eine zur F2 isomorphe Untergruppe. Wir verweisen den Leser hierzu und für viele weitere Ergebnisse auf die Literatur, etwa auf die bahnbrechende Arbeit [ Neumann 1929 ], die Gesamtdarstellung des Themas [ Wagon 1999 ] oder den Überblicksartikel [ Laczkovich 2002 ].

 Hier wollen wir nur noch die Frage nach der „Abstraktheit“ der Konstruktion ansprechen. Bei Verzicht auf das Auswahlaxiom kann man zwar immer noch nicht beweisen, dass jede Menge im n Lebesgue-messbar ist, aber man kann diese Aussage mit gutem Konsistenz-Gewissen quasi „als neues Axiom“ anstelle des Auswahlaxioms verwenden. Dies hat Solovay 1970 gezeigt.

 Die Sachlage ist kompliziert, weshalb wir hier von „gutem Gewissen“ reden: Solovay hat mit Hilfe der Cohenschen Erzwingungsmethode ein Modell der Mengenlehre ohne Auswahlaxiom konstruiert, in dem jede Teilmenge eines n Lebesgue-messbar ist. Allerdings wird hierzu die zusätzliche Hypothese der Existenz einer sog. unerreichbaren Kardinalzahl benutzt, von der man nicht beweisen kann, dass sie widerspruchsfrei ist. Dies ist für starke Aussagen aber nicht ungewöhnlich, und die Hypothese ist gut verstanden und „wahrscheinlich“ oder „mutmaßlich“ widerspruchsfrei. Shelah hat 1984 bewiesen, dass auf diese Hypothese bei der Modellkonstruktion von Solovay nicht verzichtet werden kann. Die Mengenlehre ohne Auswahlaxiom plus „jedes A ⊆  ist Lebesgue-messbar“ ist damit substantiell stärker als die übliche Mengenlehre mit Auswahlaxiom (vgl. auch 2.6).

 Für die Zerlegungs-Paradoxa heißt das Ergebnis von Solovay: Es muss notwendig das Auswahlaxiom oder zumindest eine Abschwächung davon verwendet werden, um die Zerlegungen zu konstruieren.

 Zum Beweis des Banach-Tarski-Paradoxons genügt bereits der Satz von Hahn-Banach, der echt schwächer ist als das Auswahlaxiom, vgl. [ Foreman / Wehrung 1991 ] und [ Pawlikowski 1991 ].

 Es gibt nun aber auch Varianten der paradoxen Zerlegungen, die ohne abstrakte Methoden auskommen. Wir definieren hierzu eine neue Zerlegungsrelation für offene Mengen:

Definition

Sei k ≥ 1, und seien A, B ⊆ k offen. Wir setzen

A ≈ B  falls es ein n ≥ 1, offene A1, …, An ⊆ A, B1, …, Bn ⊆ B und Isometrien g1, …, gn  ∈  k gibt mit:

(i)

Ai ∩ Aj  =  Bi ∩ Bj  =  ∅  für i ≠ j,

(ii)

1 ≤ i ≤ n Ai ist dicht in A,  ⋃1 ≤ i ≤ n Bi ist dicht in B,

(iii)

gi Ai  =  Bi  für alle 1 ≤ i ≤ n.

 In die Mengen A und B werden hier also endlich viele kongruente und paarweise disjunkte offene Mengen derart einbeschrieben, dass ihre Vereinigungen keine Löcher in A und B aufweisen. Diese Form der Zerlegungsgleichheit ist eine Äquivalenzrelation auf den offenen Mengen.

 Es gilt folgendes Paradoxon ([ Dougherty / Foreman 1994 ]):

Satz

Sei k ≥ 3, und seien A, B ⊆ k offen und beschränkt.

Dann ist A ≈ B.

 In eine Kugel der Größe der Erde können wir also disjunkte offene Mengen A1, …, An so einbeschreiben, dass keine Löcher übrig bleiben, und dass A1, …, An nach Anwendung Euklidischer Isometrien eine Kugel der Größe eines Sandkorns in ebensolcher Weise ausfüllen. Der Satz lässt sich zudem ohne Auswahlaxiom beweisen.