Mittelbare Gruppen
Der Satz von Banach über die Existenz von bewegungsinvarianten σ-finiten Inhalten auf ℝ und ℝ2 erfuhr durch die Arbeit von John von Neumann aus dem Jahre 1929 ein Abstraktionsschicksal: Er wird heute in einem allgemeineren Umfeld bewiesen, dem der mittelbaren Gruppen.
Dies hatte einerseits ein breiteres und tieferes Verständnis des entdeckten Phänomens zur Folge. Andererseits wurde die einfache Frage mit ihrer recht elementaren Antwort dadurch auch zu einer Angelegenheit außerhalb der mathematischen Allgemeinbildung, und in diesem Kapitel wurde nicht zuletzt deswegen der originale Beweis von Banach vorgestellt.
Wir diskutieren zum Abschluss dieses Kapitels also noch die von Neumannsche Fährte zum Satz von Banach. Der grundlegende Ansatz hierbei ist, G-invariante Inhalte auf Gruppen selber in den Mittelpunkt zu rücken:
Definition (mittelbare Gruppen)
Eine Gruppe G heißt mittelbar, falls ein Inhalt μ : ℘(G) → [ 0, 1 ] existiert mit:
(i) | μ(G) = 1, |
(ii) | μ ist G-invariant, d. h. es gilt μ(gA) = μ(A) für alle g ∈ G und A ⊆ G. |
Von Neumann verwendete in der deutschsprachigen Originalarbeit die nahe liegende Bezeichnung messbare Gruppe, betonte aber den zugehörigen Integralbegriff, also eine „Mittelwertbildung“ [ Neumann 1929, S. 88f ]. Im Englischen hat sich dann amenable durchgesetzt, wohl beeinflusst durch das (bescheidene) Wortspiel a-mean-able, welches dann wiederum durch das deutsche mittelbar nachzubilden versucht wurde.
Dass dieser Rückzug auf Gruppen die ursprüngliche Intention mitträgt, zeigt der folgende starke Ausdehnungssatz von Mycielski (1979), der auf Konstruktionen von Banach (1923) und von Neumann (1929) aufbaut:
Satz (Ausdehnungssatz von Mycielski)
Sei M eine Menge, und sei G eine auf M operierende mittelbare Gruppe.
Weiter sei 𝒜 ⊆ ℘(M) eine Algebra auf M mit G𝒜 = { gA | g ∈ G, A ∈ 𝒜 } = 𝒜.
Schließlich sei μ : 𝒜 → [ 0, ∞ ] ein σ-finiter G-invarianter Inhalt auf 𝒜.
Dann existiert ein G-invarianter σ-finiter Inhalt μ′ : ℘(M) → [ 0, ∞ ] mit μ′|𝒜 = μ.
Der Beweis ist insgesamt nicht schwierig, verwendet aber einige Standardmethoden der Maßtheorie, die ausführlich zu entwickeln hier nicht der Ort ist. Wir begnügen uns mit einer konstruktionsvollständigen Skizze.
Beweisskizze
Nach dem Ausdehnungssatz oben können wir den Inhalt μ mit Hilfe des Satzes von Hahn-Banach zu einem Inhalt auf ganz ℘(M) ausdehnen, den wir ebenfalls mit μ bezeichnen. μ ist dann i.A. nicht mehr G-invariant.
Wir können aber μ bzgl. der mittelbaren Gruppe G symmetrisieren:
Sei hierzu ν : ℘(G) → [ 0, 1 ] ein G-invarianter Inhalt mit ν(G) = 1.
In kanonischer Weise definiert man nun ein Integral I(f) = IG(f, ν) ∈ ℝ für beschränkte Funktionen f : G → ℝ:
Ist f = ∑1 ≤ i ≤ n ci indGi für ci ∈ ℝ und eine Zerlegung G1, …, Gn von G (also f eine Treppenfunktion auf G), so sei
I(f) = ∑1 ≤ i ≤ n ci μ(Gi).
Für beliebige beschränkte f : G → ℝ sei
I(f) = limn → ∞ I(fn),
wobei 〈 fn | n ∈ ℕ 〉 eine beliebige Folge von Treppenfunktionen ist, die gleichmäßig gegen f konvergiert. (Ein Routineargument zeigt, dass I(f) wohldefiniert ist.) Wegen der G-Invarianz von ν gilt zudem I(f ∘ g) = I(f) für alle beschränkten f : G → ℝ und alle g ∈ G.
Sei nun A ⊆ M. μ(gA) kann für unterschiedliche g ∈ G verschiedene Werte annehmen. Wir beheben diesen Mangel an G-Symmetrie, indem wir alle Werte mit Hilfe des ν-Integrals I mitteln. Für g ∈ G sei hierzu
fA(g) = μ(gA).
Ist fA : G → [ 0, ∞ ] beschränkt, so sei μ′(A) = I(fA).
Andernfalls sei μ′(A) = ∞. Dann ist μ′ G-invariant mit μ′|𝒜 = μ.
Die Integraldefinition ist allgemeiner Natur und auch anderswo nützlich. Wir definieren hierzu:
Definition (zugehöriges Integral zu einem Inhalt)
Sei μ : ℘(M) → [ 0, ∞ ] ein σ-finiter Inhalt, und sei A ⊆ M mit μ(A) < ∞.
Dann heißt die wie im Beweis oben via Treppenfunktionen auf A definierte Funktion
IA(∙, μ) : { f : A → ℝ | f beschränkt } → ℝ
das zu μ gehörige Integral (für beschränkte Funktionen auf A ⊆ M).
Übung
In der Situation der Definition gilt:
(i) | IA(·, μ) : { f : A → ℝ | f beschränkt } → ℝ ist ein lineares Funktional. |
(ii) | Ist f : M → ℝ beschränkt, so ist I∙(f, μ) : { A ⊆ M | μ(A) < ∞ } → ℝ endlich additiv. |
Die zu einem Inhalt gehörigen Integrale lassen sich in vielen Situationen zur Mittelwertbildung und damit zur Symmetrisierung der zugrunde liegenden Inhalte einsetzen. Ein Beispiel haben wir im Beweis oben gesehen, ein weiteres gibt die folgende Übung.
Übung
Sei G eine mittelbare Gruppe. Dann existiert ein beidseitig G-invarianter voller Inhalt μ auf G mit μ(G) = 1, d. h. es gilt
μ(gA) = μ(A) = μ(Ag) für alle g ∈ G und A ⊆ G.
[ Sei ν ein G-invarianter Inhalt auf G mit ν(G) = 1.
Sei A ⊆ G. Wir definieren dann fA : G → [ 0, 1 ] durch:
fA(g) = ν(A−1 g), wobei A−1 = { a−1 | a ∈ A }.
Wir setzen μ(A) = IG(fA; ν) für A ⊆ G. Dann ist μ wie gewünscht. ]
Wir können im Folgenden also immer von beidseitig invarianten Inhalten für mittelbare Gruppen ausgehen, wenn nötig oder erwünscht.
Übung
Sei G eine mittelbare Gruppe, und sei H eine Untergruppe von G.
Dann ist H mittelbar.
Satz (Satz von von Neumann über mittelbare Gruppen)
Jede auflösbare Gruppe ist mittelbar.
Der Satz ergibt sich unmittelbar aus den beiden folgenden Sätzen.
Satz (Faktorsatz von von Neumann für mittelbare Gruppen)
Sei G eine Gruppe, und sei H eine normale Untergruppe von G.
Weiter seien H und G/H mittelbar.
Dann ist G mittelbar.
Beweis
Seien μ : ℘(H) → [ 0, 1 ] und ν : ℘(G/H) → [ 0, 1 ] Zeugen für die Mittelbarkeit von H bzw. G/H.
Sei A ⊆ G. A zerfällt in die Schnitte A ∩ gH, g ∈ G. Diese Schnitte können wir mit μ messen, wenn wir sie durch Transport via g−1 zu Teilmengen von H machen.
Wir definieren also fA : G/H → [ 0, 1 ] durch
fA(gH) = μ(g−1(A ∩ gH)) für gH ∈ G/H.
Zur Wohldefiniertheit:
Seien g1, g2 ∈ G mit g1H = g2H. Dann ist g1−1g2 ∈ H und somit gilt wegen der H-Invarianz von μ:
μ(g1−1(A ∩ g1H)) = μ(g1−1g2 g2−1(A ∩ g2H)) = μ(g2−1(A ∩ g2H)).
Wir definieren nun das ν-Mittel dieser Schnittmessungen.
Hierzu sei für A ⊆ G:
ξ(A) = IG/H(fA; ν).
Dann ist ξ : ℘(G) → [ 0, 1 ] ein G-invarianter Inhalt mit ξ(G) = 1.
Also ist G mittelbar.
Weiter gilt nun:
Satz (Satz von Banach und von Neumann; Mittelbarkeit abelscher Gruppen)
Jede abelsche Gruppe ist mittelbar.
John von Neumann hat in seiner Arbeit von 1929 diesen Sachverhalt als so eng verwandt mit der originalen Banachschen Lösung des Inhaltsproblems für n = 1 mit Hilfe des Banachintegrals b erachtet, dass er auf einen Beweis verzichtete:
von Neumann (1929):
„A. Jede abelsche Gruppe ist messbar [ = mittelbar ]…
… [ Wir sind nun ] in der angenehmen Lage, uns auf gewisse Überlegungen Banachs weitgehend stützen zu können. Der Beweis von A. insbesondere ist eine so gut wie wörtliche Wiederholung des Banachschen Räsonnements [ aus Banach (1923) ], wo (um unsere Terminologie zu gebrauchen), die Messbarkeit der linearen Translationsgruppe … bewiesen wird.
Wenn man nämlich dort genau zusieht, so sieht man nämlich, dass von allen Eigenschaften der linearen Transformationsgruppe einzig und allein ihr abelscher Charakter eine Rolle spielt…
Wenn wir daher die reellen Zahlen konsequent durch die Elemente einer abelschen Gruppe 𝒢 ersetzen und die Addition durch das gruppentheoretische Multiplizieren, so geht die [ Banachsche ] Schlußweise ohne weiteres in einen Beweis von A. über: in die Konstruktion eines allgemeinen Mittels für eine beliebige abelsche Gruppe 𝒢. Da all das ohne jeden weiteren Gedanken durchführbar ist, glauben wir davon absehen zu können, den Beweis hier in extenso zu wiederholen.“
Wir geben hier doch wenigstens einen knappen Beweis, damit der Leser sieht, wie sich die Banachsche Konstruktion (in modifizierter und äußerst kompakter Form) im gruppentheoretischen Gewande ausnimmt.
Beweis
Sei G eine abelsche Gruppe, und sei V = { f : G → ℝ | f beschränkt }, aufgefasst als ℝ-Vektorraum. Wir setzen
U = { f ∈ V | | es existieren n ≥ 1 und fi ∈ V, gi ∈ G für 1 ≤ i ≤ n mit f = ∑1 ≤ i ≤ n (fi ∘ gi − fi) }. |
Dann ist U ein Untervektorraum von V.
Die Kommutativität von G wird nun entscheidend benutzt, um zu zeigen, dass für alle f = ∑1 ≤ i ≤ n (fi ∘ gi − fi) ∈ U gilt:
(+) limk → ∞ 1/kn ∑ 0 ≤ k1, …, kn < k f (g1k1… gnkn) = 0.
zum Beweis von (+)
Aufgrund der Kommutativität von G und der Form von f heben sich genügend viele Terme in der Summe gegenseitig auf.
Folglich gilt für alle f ∈ U:
(++) inf (f) ≤ 0 ≤ sup(f),
denn einem f, welches (++) nicht erfüllt, kann die arithmetische Mittelwerteigenschaft (+) nicht zukommen.
Die Funktion p : V → ℝ mit p(f) = sup(f) ist ein sublineares Funktional auf V, welches nach (++) das lineare Nullfunktional auf U dominiert.
Nach dem Satz von Hahn-Banach existiert also ein lineares Funktional
w : V → ℝ mit den Eigenschaften:
(i) | w(f) = 0 | für alle f ∈ U, |
(ii) | w(f) ≤ sup(f) | für alle f ∈ V. |
Für alle g ∈ G und f ∈ V ist f ∘ g − f ∈ U, also ist nach (i) und Linearität des Funktionals w:
w(f ∘ g) = w(f).
Weiter ist w(indG) = 1, da w(indG) ≤ 1 und − w(indG) = w(− indG) ≤ − 1.
Sei nun μ der induzierte Inhalt auf G, d. h.
μ(A) = w(indA) für A ⊆ G.
Dann ist μ ein voller G-invarianter Inhalt auf G mit μ(G) = w(indG) = 1.
Ist g ∈ G und A ⊆ G, so ist
μ(gA) = w(indgA) = w(indA ∘ g−1) = w(indA) = μ(A).
Die Betrachtung der beschränkten Funktionen der Form f = ∑1 ≤ i ≤ n (fi ∘ gi − fi) und der Bedingung inf (f) ≤ 0 ≤ sup(f) geht auf [ Dixmier 1950 ] zurück.
Übung
Zeigen Sie folgende Kompaktheitseigenschaft:
G ist mittelbar gdw jede endlich erzeugte Untergruppe von G ist mittelbar.
[ Annahme, G ist nicht mittelbar, obwohl die rechte Seite erfüllt ist.
Nach obiger Argumentation existiert dann ein f = ∑1 ≤ i ≤ n (fi ∘ gi − fi) mit sup(f) < 0.
Sei H die von g1, …, gn erzeugte Untergruppe von G, und sei ν ein Zeuge für die Mittelbarkeit von H. Dann ist IH(f, ν) = 0, da IH(fi ∘ gi) = IH(fi) für 1 ≤ i ≤ n.
Aber IH(f, ν) ≤ sup(f|H) · ν(H) = sup(f|H) < 0, Widerspruch. ]
Aus den Sätzen von von Neumann und Mycielski folgt nun:
Korollar (Satz von Banach)
Es existieren bewegungsinvariante σ-finite Inhalte auf ℝ bzw. ℝ2, die jeweils das Lebesgue-Maß fortsetzen.
Beweis
ℐ1 und ℐ2 sind auflösbar (vgl. Kapitel 4).
Der Autor hofft, dass es nur wenige Leser geben wird, die eine abstrakte und möglichst knappe Darstellung der Lösung des Inhaltsproblems für ℝ und ℝ2 via mittelbarer Gruppen der ausführlichen Untersuchung der originalen, stets am konkreten Problem bleibenden Konstruktion vorgezogen hätten. Auf ihrer Grundlage ist der gruppentheoretische Ansatz dann sehr natürlich.
Dagegen ist die Rotationsgruppe SO3 nicht auflösbar. Dies genügt aber noch nicht, um zu schließen, dass kein endlich additives bewegungsinvariantes Messen auf der S2 oder im ℝ3 möglich ist. Denn die mittelbaren Gruppen sind umfangreicher als die auflösbaren Gruppen (z. B. ist jede endliche Gruppe mittelbar). Dass der Begriff der paradoxen Zerlegung generell ein adäquater Ansatz ist, um die Unmöglichkeit der vollen G-invarianten Messung aufzuweisen, zeigt der folgende Satz von Tarski (1938), den wir hier ohne Beweis angeben:
Satz (Mittelbarkeit und Paradoxie einer Gruppe)
Die folgenden Aussagen sind äquivalent:
(i) | G ist mittelbar. |
(ii) | G ist nicht paradox. |