1.Einführung in den Baireraum

Wir beginnen nun mit der elementaren sog. deskriptiven Mengenlehre, die „einfache“, „definierbare“ Mengen von reellen Zahlen untersucht. Die bevorzugte Interpretation von reelle Zahl ist dabei Element des Baireraumes. Der Baireraum 𝒩 besteht aus allen unendlichen Folgen

n0,  n1,  n2,  …,  nk,  …,

von natürlichen Zahlen nk  ∈  , k  ∈  . Wir werden ihn mit der Topologie versehen, die „nah beieinander“ als „identisch auf einem Anfangsstück“ interpretiert. So liegen je zwei Folgen 0, 12, 6, 3, … und 0, 12, 6, 2, … näher beieinander als je zwei Folgen 0, 9, 9, 9, … und 1, 0, 0, 0, …, die schon an der ersten Stelle voneinander abweichen.

 Der Grund für den Wechsel von den üblichen „analogen“, ein mathematisches Kontinuum bildenden reellen Zahlen  zum „digitalen“ Baireraum 𝒩 ist die für die approximative Darstellung von Elementen von  unendlich oft herrschende Unsauberkeit, die in der berühmt-berüchtigten Gleichung 0,999… = 1,000… zusammengefasst wird. Das Problem ist natürlich nicht, dass 0,999… als Grenzwert der Folge 〈 0 ≤ k ≤ n 9/10k + 1 | n  ∈   〉 exakt gleich 1,000… ist, sondern das generelle Problem ist, dass sich die beiden folgenden Ziele nicht miteinander vereinbaren lassen:

(a)

Die Darstellung einer reellen Zahl ist eindeutig.

(b)

Bei Limesbildungen stabilisieren sich die Ziffern, d. h.:

Ist x = lim ∞ xn, so ist für alle k die k-te Nachkommastelle von x der schließlich konstante Wert der k-ten Nachkommastellen der xn.

Wir erreichen z. B. eindeutige Dezimaldarstellungen, indem wir für x ≠ 0 nur die nicht in Null terminierenden Darstellungen zulassen. Dann verlieren wir aber die Approximationseigenschaft (b), denn die Nachkommastellen von xn = 1 + 1/10n stabilisieren sich in Null, aber lim ∞ xn = 0,999… Ließen wir 1,000… statt 0,999… als einzige Darstellung der Eins zu, so hätten wir das gleiche Problem mit der Folge yn = 0 ≤ k ≤ n 9/10k + 1, n  ∈  , deren Nachkommastellen sich in 9 stabilisieren. Wenn wir (b) unbedingt aufrecht erhalten wollen, so müssen wir die beiden verschiedenen Folgen 0,9,9,9, … und 1,0,0,0, … als Darstellungen der Eins zulassen und verletzen somit die Forderung (a).

 Das Phänomen betrifft nicht nur die b-adischen Darstellungen für b ≥ 2, sondern gilt für einen weitgefassten Darstellungsbegriff. Sei nämlich Z eine abzählbare Menge, versehen mit der diskreten Topologie. Sei D :   Z eine injektive Abbildung (mit der Intention: D(x)(k) = „die k-te Ziffer von x unter der Darstellung D“). Wegen der Injektivität von D existiert ein k  ∈   derart, dass die Menge E = { D(x)(k) | x  ∈   } mindestens zwei Elemente hat. Dann ist aber die Funktion g :   E mit g(x) = D(x)(k) = „die k-te Ziffer von x“ notwendig unstetig, denn andernfalls wäre  die disjunkte Vereinigung der offenen nichtleeren Mengen g−1″ z, z  ∈  E, im Widerspruch zu |E| ≥ 2. Es gibt also eine konvergente Folge 〈 xn | n  ∈   〉 in  derart, dass 〈 D(xn)(k) | n  ∈   〉 in Z nicht konvergiert, d. h. nicht schließlich konstant ist. Dieses Argument zeigt, dass die Eigenschaft (b) notwendig verletzt ist, wenn wir eine Darstellung als eine Funktion auffassen, die jedem x  ∈   eine dieses x bestimmende Folge diskreter Elemente zuweist. Eigenschaft (a) hat aber diesen funktionalen Charakter.

Übung

Seien n ≥ 2, k ≥ 1. Für x  ∈   sei f (x) die k-te Ziffer der kanonischen n-adischen Darstellung von x. Bestimmen Sie die Unstetigkeitsstellen von f :   { 0, …, n − 1 } unter der diskreten Topologie auf { 0, …, n − 1 }.

Moschovakis (1994): 

„One may think of 𝒩 as a ‘discrete,’ or ‘combinatorial’ version of the ‘continuous’ or ‘analog’  [  ]. A real number x is completely determined by a decimal expansion x(0).x(1)x(2) …, but two distinct decimal expansions may compute to the same real number. This is a big ‘but’, it is the key fact behind the so-called topological connectedness of the real line which is of interest in analysis, to be sure, but of little set theoretic consequence. We may view Baire space as a ‘digital version’ of  because it does not make any such identifications, each point x  ∈  𝒩 determines unambiguously its ‘digits’ x(0), x(1), …“

 So essentiell die hybride Natur der approximativ dargestellten reellen Zahlen für die Analysis auch ist, so erschwert sie doch Argumente eines bestimmten Typs unnötig, man denke etwa an die Konstruktion einer Bijektion zwischen 2 und  ohne Verwendung des Satzes von Cantor-Bernstein! Für 𝒩 erhalten wir eine kanonische Bijektion zwischen 𝒩2 und 𝒩, indem wir zwei Folgen x0, x1, x2, … und y0, y1, y2, … in 𝒩 auf die Folge x0, y0, x1, y1, …, abbilden. Im Falle von  muss man dieses Reißverschlussargument noch modifizieren, die mangelnde Eindeutigkeit der Darstellung verkompliziert die einfache Idee. Dies ist nicht das einzige Beispiel und insgesamt zeigt sich: Sind wir weniger an Limesbildungen von Punkten auf einem Kontinuum interessiert als an der Analyse und Manipulation von unendlicher Information, die sich über eine unendliche Folge diskreter Fragmente erschließt, so liefert der Baireraum den angemessenen Rahmen, während  eher deplatziert wirkt. Der Folgenraum ist für viele Untersuchungen klarer und angenehmer, und er ist ganz abgesehen davon ein sehr natürliches mathematisches Konstrukt. Insbesondere gilt dies auch aus Sicht der Informatik.

 So schwer der Übergang von einem zusammenhängenden Kontinuum zum, wie wir sehen werden, völlig zerklüfteten Baireraum zunächst auch fallen mag, so zahlt er sich doch schnell aus. Auf Dauer ist er für die Untersuchung der reellen Zahlen auch dann unvermeidlich, wenn er nur als Zwischenstufe betrachtet wird, d. h. derart, dass ein A ⊆  in ein B ⊆ 𝒩 übersetzt und dort auf Eigenschaften untersucht wird, die bei dieser Übersetzung erhalten bleiben. Eine solche Übersetzung ist leicht möglich, und wir kennen sie bereits seit dem ersten Kapitel: Ordnen wir nämlich einer unendlichen Folge n0, n1, n2, …  ∈  𝒩 den unendlichen Kettenbruch [ n0 + 1, n1 + 1, … ]  ∈   zu, so erhalten wir eine Bijektion zwischen dem Folgenraum und den irrationalen Zahlen größer als Eins. Es ist leicht zu sehen, dass diese Bijektion unter den natürlichen Topologien der beiden Räume sogar ein Homöomorphismus ist. Wir untersuchen also aus klassischer Sicht die Struktur der irrationalen Zahlen: Der Baireraum und alle irrationalen reellen Zahlen sind homöomorph.

 Die irrationalen Zahlen größer als Eins sind homöomorph zu allen irrationalen Zahlen von ; man kann den Baireraum benutzen, um dies zu zeigen. Diese Zusammenhänge und weitere natürliche Funktionen zwischen den Folgenräumen und den klassischen reellen Zahlen  werden wir unten noch genauer untersuchen.

 Die deskriptive Untersuchung der reellen Zahlen (noch auf der Basis von ) begann mit Cantor in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Auf der Suche nach einer Lösung des Kontinuumsproblems stellte er die das Problem approximierende Frage: Welche Mächtigkeiten kommen den abgeschlossenen Teilmengen von  zu? Cantor konnte diese Frage lösen, und der sie beantwortende Satz von Cantor-Bendixson bildet vielleicht das erste tiefe Resultat der deskriptiven Analyse der reellen Zahlen. Um die Jahrhundertwende untersuchten dann Emil Borel, René Baire und Henri Lebesgue allgemeinere Klassen von Punktmengen in . (Der Ausdruck „Punktklassen“ ist rein traditionell und hat nichts mit dem Unterschied zwischen Mengen und echten Klassen zu tun; Punktklassen sind bestimmte Teilmengen von () oder (𝒩) wie etwa die Klasse der offenen Mengen.)

 Ein Leitmotiv dieser Untersuchungen war und ist: Einfachen, definierbaren Teilmengen von  kommen die durch das Auswahlaxiom der Struktur  aufgenötigten und zuweilen als pathologisch empfundenen Eigenschaften nicht zu. So sollten etwa alle einfachen Mengen messbar sein für das σ-additive Lebesguesche Längenmaß, während das Auswahlaxiom die Existenz von nicht Lebesgue-messbaren Teilmengen von  impliziert. Der Begriff der Definierbarkeit kann präzisiert werden, wird aber manchmal auch als nach oben offenes Konzept verstanden, welches mit wachsendem Wissen der Mathematiker immer mehr Mengen als „definierbar“ zulässt, die dann als regulär nachgewiesen werden, zuweilen mit Hilfe von über die klassische Mengenlehre hinausgehenden Axiomen.

 In der heute als klassisch bezeichneten Periode der deskriptiven Mengenlehre von etwa 1900 bis zum Erscheinen von Lusins Buch 1930 entwickelten in erster Linie Felix Hausdorff, Nikolai Lusin und Mikhail Suslin die Theorie weiter, später führten eine Reihe von polnischen Mathematikern allgemeinere topologische Untersuchungen durch. Kleenes Arbeiten der 50er-Jahre überführten die topologische deskriptive Mengenlehre in den feineren sog. effektiven Kontext, in dem Methoden der mathematischen Logik im Vordergrund stehen und in dem der Baireraum endgültig den klassischen reellen Zahlen und allen anderen vergleichbaren topologischen Räumen vorgezogen wird.