Ortung durch den Hilbert-Würfel

 Ein anderer Ansatz der Analyse polnischer Räume bringt ein neues Objekt ins Spiel, den sog. Hilbert-Würfel. Der Ansatz beruht auf folgender Beobachtung: Eine die Topologie erzeugende vollständige Metrik d : X2  [ 0, 1 ] und eine abzählbare dichte Teilmenge z0, z1, …, zk, … von X verbinden beliebige polnische Räume 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 mit den reellen Zahlen − genauer: mit einer Folge im reellen Einheitsintervall. Wir setzen hierzu für x  ∈  X:

w(x)  =  〈 d(x, zk) | k  ∈   〉.

 Die Funktion w beschreibt die Lage von x  ∈  X relativ der Aufzählung einer abzählbaren dichten Teilmenge, und versucht so, die Topologie des Raumes 𝒳 durch Folgen im Einheitsintervall zu beschreiben. Wir nennen w : X  [ 0, 1 ] die Ortungsfunktion für 𝒳 bzgl. 〈 zk | k  ∈   〉 (und bzgl. der Metrik d).

 Stellt man sich die zk als die Positionen von Satelliten vor, die den Abstand zu Objekten x  ∈  X messen können, so ist w(x) die vollständige den Satelliten mögliche Ortung eines Objekts x. In vielen Fällen ist die Ortung mit dicht im Raum verteilten Satelliten reichlich überdimensioniert: Im 2 genügen etwa drei Satelliten an drei linear unabhängigen Positionen z0, z1, z2; denn kennt man für einen Punkt x der Ebene d(x, z0), d(x, z1) und d(x, z2), so ist x bereits eindeutig bestimmt. Für einen abzählbaren Raum unter der diskreten Metrik braucht man dagegen einen „Satelliten“ an jedem Punkt des Raumes.

 Es wird sich zeigen, dass die Beschreibung von X durch eine Ortungsfunktion vollständig ist, wobei wir nicht erwarten können, dass jede Folge im Einheitsintervall als mögliche Position eines x  ∈  X vorkommt.

 Wir definieren, die Stetigkeit einer Ortung w im Auge:

Definition (Hilbert-Würfel)

Der Hilbert-Würfel  ist der Raum [ 0, 1 ], versehen mit der Produkttopologie der üblichen Topologie auf dem reellen Einheitsintervall.

 Als abzählbarer Produktraum eines polnischen Raumes ist der Hilbert-Würfel ein polnischer Raum. Die Mengen I0 × … × Ik × [ 0, 1 ] × [ 0, 1 ] × …, mit offenen Intervallen Ii ⊆ [ 0, 1 ] für 0 ≤ i ≤ k, k  ∈  , bilden eine Basis von . Nach dem Satz von Tychonov ist  kompakt, da [ 0, 1 ] kompakt ist.

Satz (über Ortungsfunktionen)

Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein polnischer Raum, und sei 〈 zk | k  ∈   〉 dicht in X.

Sei weiter d eine erzeugende vollständige Metrik für 𝒳.

Dann gilt für die Ortungsfunktion w bzgl. 〈 zk | k  ∈   〉 und d:

(i)

w  :  X   ist stetig und injektiv.

(ii)

w−1  :  rng(w)  X ist stetig.

(iii)

Es gibt offene Un ⊆ [ 0, 1 ] für n  ∈  , mit

rng(w)  =  ⋂n  ∈   Un.

Beweis

zu (i):  Ist klar.

zu (ii):  Seien x  ∈  X und 〈 xn | n  ∈   〉 eine Folge in X mit

w(x)  =  lim ∞ w(xn).

Wir zeigen, dass lim ∞ xn = x. Sei hierzu ε > 0.

Wegen 〈 zk | k  ∈   〉 dicht in X existiert ein k mit d(x, zk) < ε/2.

Wegen lim ∞ w(xn) = w(x) ist insbesondere

lim ∞ d(xn, zk)  =  lim ∞ w(xn)(k)  =  w(x)(k)  =  d(x, zk)  <  ε/2.

Also existiert ein n0  ∈   derart, dass xn in der ε/2-Umgebung von zk liegt für alle n ≥ n0. Auch x ist in dieser Umgebung, und damit gilt

d(xn, x)  <  ε  für alle n ≥ n0.

Dies zeigt lim ∞ xn  =  x.

zu (iii):  Für x  ∈  X und n  ∈   sei

k(x, n)  =  „das kleinste k mit d(x, zk) < 1/2n “.

Wir setzen für n  ∈  :

Un  =  { g  ∈  [ 0, 1 ]  |  es existiert ein x  ∈  X mit:
|w(x)(i) − g(i)| < 1/2n für alle i ≤ max(k(x, n), n) }.

Dann sind alle Un offen und es gilt rng(w) ⊆ ⋂n  ∈   Un.

Wir zeigen, dass auch rng(w) ⊇ ⋂n  ∈   Un. Sei also g  ∈  Un für alle n  ∈  .

Für n  ∈   sei xn wie in der Definition von Un für g. Es genügt zu zeigen:

(+)  〈 xn | n  ∈   〉 ist eine Cauchy-Folge in X.

Denn ist dann x = lim ∞ xn, so gilt offenbar w(x) = g.

Beweis von (+)

Annahme nicht. Sei also ε > 0 derart, dass für alle n0  ∈   n, m ≥ n0 existieren mit d(xn, xm) > ε. Sei n0  ∈   mit 1/2n0 ≤ ε/4, und seien n, m ≥ n0 mit d(xn, xm) > ε.

Sei o. E. k(xm, m) ≤ k(xn, n), und sei k = k(xm, m).

Dann gilt nach Definition von k(xm, m):

(1)  d(xm, zk)  <  1/2m  ≤  1/2n0  ≤  ε/4.

Wegen xm  ∈  Um gilt:

(2)  |d(xm, zk)  −  g(k)|  <  1/2m  ≤  ε/4.

Wegen xn  ∈  Un und k ≤ k(xn, n) gilt aber auch:

(3)  |d(xn, zk)  −  g(k)|  <  1/2n  ≤  ε/4.

Also ist |d(xn, zk) − d(xm, zk)| <  ε/2 nach (2) und (3).

Mit (1) ist dann aber

d(xn, xm)  ≤  d(xm, zk) + d(xn, zk)  ≤  d(xm, zk) + d(xm, zk) + ε/2  ≤  ε.

Widerspruch.

 Also ist jede Ortungsfunktion w  : X  ⋂n  ∈   Un ⊆ [ 0, 1 ] ein Homöomorphismus, und wir erhalten:

Korollar (polnische Räume als Teilräume des Hilbert-Würfels)

Die polnischen Räume sind bis auf Homöomorphie genau die abzählbaren Schnitte von offenen Mengen im Hilbert-Würfel.

Weiter sind die kompakten polnischen Räume bis auf Homöomorphie genau die abgeschlossenen Mengen in [ 0, 1 ].

 Der Zusatz folgt, da die Bilder kompakter Mengen unter stetigen Funktionen wieder kompakt sind.

 Für kompakte Räume 𝒳 ist also die im Beweis von (iii) konstruierte Menge ⋂n  ∈   Un automatisch abgeschlossen. Umgekehrt kann wegen der Kompaktheit des Hilbert-Würfels dieser Schnitt nicht abgeschlossen sein, wenn 𝒳 nicht kompakt ist. Wir erreichen aber Abgeschlossenheit, wenn wir vom Hilbert-Würfel [ 0, 1 ] zum sog. Frechet-Raum übergehen:

Satz (polnische Räume als abgeschlossene Teilräume von )

Die polnischen Räume sind bis auf Homöomorphie genau die abgeschlossenen Mengen in .

Beweis

Nach dem Korollar genügt es, die Aussage für die abzählbaren Schnitte von offenen Mengen im Hilbert-Würfel zu zeigen.

Seien also Uk offen in [ 0, 1 ] für k  ∈  , und sei X = ⋂k  ∈   Uk.

Wir definieren nun h : X   durch:

h(g)(i)=g(k)falls i=2k,1/d(g,[0,1]Uk)falls i=2k+1.

h(g) ist also die Folge g, wobei nach jedem k-ten Glied von g der reziproke Abstand des Gliedes zum Rand von Uk eingefügt wird. Dies erschwert die Konvergenz von Folgen im Bild von h.

Sei Y = rng(h). Dann ist h : X  Y bijektiv und stetig.

Wir zeigen, dass Y abgeschlossen und h−1 : Y  X stetig ist.

Sei hierzu 〈 gn | n  ∈   〉 eine Folge in X, und sei f  ∈   mit

f  =  lim ∞ h(gn).

Dann konvergiert für alle i  ∈   die Folge 〈 h(gn)(i) | n  ∈   〉 gegen f (i).

Insbesondere gilt dies für die geraden i und damit ist lim ∞ gn = g für die Funktion g mit g(i) = f (2i).

Die Konvergenz für die ungeraden i liefert für alle k  ∈   die Existenz von

lim ∞ 1/d(g, [ 0, 1 ] − Uk).

Also existiert ein ε > 0 mit d(g, [ 0, 1 ] − Uk) > ε für alle k  ∈  .

Dann ist aber g  ∈  Uk für alle k, also g  ∈  X. Weiter ist h(g) = f.

 Wir erhalten aus der Untersuchung über den Hilbert-Würfel auch einen zweiten Beweis dafür, dass kompakte nichtleere polnische Räume stetige Bilder von 𝒞 sind. Wir nutzen entscheidend, dass 𝒞 homöomorph zu seinem eigenen unendlichen Produktraum 𝒞 ist:

Korollar (kompakte polnische Räume als stetige Bilder des Cantorraumes)

Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein nichtleerer kompakter polnischer Raum.

Dann existiert eine stetige Surjektion h : 𝒞  X.

Beweis

Sei A ⊆ [ 0, 1 ] abgeschlossen und homöomorph zu 𝒳.

Das Fortsetzungslemma liefert ein stetiges surjektives h : [ 0, 1 ]  X.

Sei f  : 𝒞  𝒞 ein Homöomorphismus. Damit ist

𝒞f𝒞g[ 0, 1 ]h  X

eine stetige surjektive Verkettung wie gewünscht, wenn g die durch die Abbildung g′ : 𝒞  [ 0, 1 ] mit

g′(x)  =  n  ∈   x(n)/2(n + 1)

induzierte stetige Surjektion von 𝒞 auf [ 0, 1 ] ist.