Das Lebesgue-Maß auf dem Cantor- und Baireraum
Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Konstruktion des Lebesgue-Maßes auf dem Cantorraum 𝒞. Am Ende des Abschnitts besprechen wir kurz zwei Möglichkeiten, ein Lebesgue-Maß für den Baireraum einzuführen.
Wie für das Kontinuum ℝ möchten wir möglichst vielen Teilmengen P von 𝒞 ein möglichst demokratisches reelles Maß μ(P) zuordnen, wobei für alle messbaren P gelten soll, dass 0 = μ(∅) ≤ μ(P) ≤ μ(𝒞) = 1. Wir werden im Folgenden dementsprechend eine Funktion μ : ℒ → [ 0, 1 ] definieren, für eine sich durch die Konstruktion ergebende Menge ℒ von Teilmengen des Cantorraumes 𝒞. Für ein P ∈ ℒ heißt dann μ(P) wieder das Lebesgue-Maß von P.
In unserer Gewichtsverteilung weisen wir der Wurzel die Masse 1 zu, und verstreichen diese Masse dann gleichmäßig über den ganzen Baum Seq2. Jedes s der Länge n trägt dann die Masse 1/2n. Damit ist μ(Cs) = 1/2|s| für alle s ∈ Seq2.
Wir geben die Stufen der Konstruktion des Lebesgueschen Maßes μ auf 𝒞 kurz an − sie verläuft analog zur Konstruktion des Lebesgue-Maßes λ für das Kontinuum ℝ.
Definition (erster Schritt der Definition von μ)
Wir setzen μ(Cs) = 1/2|s| für s ∈ Seq2.
Im Folgenden brauchen wir unendliche Summen von Mengen reeller Zahlen größergleich Null. Wir definieren solche Summen gleich allgemein für beliebig große Mengen:
Definition (Summen reeller Zahlen ∑ X)
(a) | Sei E = { x0, …, xn } eine endliche Teilmenge von ℝ. Wir setzen ∑ E = x0 + … + xn. |
(b) | Sei X ⊆ ℝ+0. Wir setzen: ∑ X = sup { ∑ E | E ⊆ X ist endlich }, falls dieses Supremum existiert. Andernfalls schreiben wir ∑ X = ∞. |
Den Zusammenhang mit den üblichen abzählbaren Summen über Folgen klärt die folgende Übung.
Übung
Sei X ⊆ ℝ+0. Dann gilt:
(i) | Ist ∑ X < ∞, so ist X abzählbar. |
(ii) | Ist X abzählbar, und ist x0, x1, … eine beliebige Aufzählung von X (ohne Wiederholungen), so gilt: ∑ X = ∑n ∈ ℕ xn (= limn → ∞ ∑0 ≤ k ≤ n xk). |
Fast automatisch ist nun wieder die Definition von μ für die offenen und abgeschlossenen Mengen:
Definition (zweiter Schritt der Definition von μ)
Sei U ⊆ 𝒞 offen, und sei S ⊆ Seq2 der kanonische Kode von U.
Wir setzen:
μ(U) | = ∑s ∈ S μ(Cs), |
μ(𝒩 − U) | = 1 − μ(U). |
Damit ist μ für alle offenen und abgeschlossenen Teilmengen von 𝒞 definiert. Man zeigt leicht, dass die beiden neuen Definitionen von μ(Cs) für s ∈ Seq2 mit der alten Definition von μ(Cs) übereinstimmen.
Wie für λ definieren wir nun ein globales inneres und äußeres Maß:
Definition (inneres und äußeres Lebesgue-Maß)
Sei P ⊆ 𝒞. Wir setzen:
μ+(P) = inf ({ μ(U) | U ⊆ 𝒞 ist offen und P ⊆ U }),
μ−(P) = sup({ μ(A) | A ⊆ 𝒞 ist abgeschlossen und A ⊆ P }).
μ+(P) heißt das äußere Lebesgue-Maß von P, und analog heißt μ−(P) das innere Lebesgue-Maß von P.
Definition (dritte Stufe der Definition von μ, Lebesgue-Messbarkeit)
Ein P ⊆ 𝒞 heißt Lebesgue-messbar, falls μ+(P) = μ−(P) gilt. In diesem Fall setzen wir μ(P) = μ+(P) = μ−(P) und nennen μ(P) das Lebesgue-Maß von P.
Weiter sei ℒ = { P ⊆ 𝒞 | P ist Lebesgue-messbar }.
Ein P ∈ ℒ heißt Lebesgue-Nullmenge, falls μ(P) = 0.
Man zeigt:
Satz
〈 𝒞, ℒ, μ 〉 ist ein Wahrscheinlichkeitsraum.
In der Tat ist μ das übliche um seine Nullmengen bereits vervollständigte Lebesgue-Maß − definiert auf 𝒞 statt auf dem reellen Einheitsintervall. Genauer gilt:
(a) | μ(h−1″A) ist das Lebesguesche Längenmaß λ(A) für Lebesgue-messbare A ⊆ [ 0, 1 ], wobei h : 𝒞 → [ 0, 1 ], h(f) = ∑n ∈ ℕ f (n)/2n + 1. |
(b) | Ist P ⊆ 𝒞 mit μ+(P) = 0, so ist jedes Q ⊆ P eine Lebesgue-Nullmenge, denn für alle A ⊆ 𝒞 gilt 0 ≤ μ−(A) ≤ μ+(A). |
Der folgende Darstellungssatz für Lebesgue-messbare Mengen, der sich unmittelbar aus der Konstruktion ergibt, ist uns in der Maßtheorie auf ℝ ebenfalls schon begegnet, in der äquivalenten Form der Regularität des Lebesgue-Maßes auf ℝ. Wir werden ihn im Folgenden häufig verwenden. Der Leser vergleiche die Ergebnisse mit den obigen verwandten Resultaten über die Baire-Messbarkeit.
Satz (Darstellungssatz für Lebesgue-messbare Mengen)
Sei P ⊆ 𝒞 Lebesgue-messbar.
Dann existieren offene Un und abgeschlossene An, n ∈ ℕ, sowie Nullmengen N0 und N1 mit:
P = ⋃n ∈ ℕ An ∪ N0 = ⋂n ∈ ℕ Un − N1.
Insbesondere ist ein P ⊆ 𝒞 also genau dann Lebesgue-messbar, wenn es offene Mengen Un gibt mit: P Δ ⋂n ∈ ℕ Un ist eine Nullmenge. (Ist P Δ ⋂n ∈ ℕ Un = N eine Nullmenge, so ist P = ⋂n ∈ ℕ Un Δ N ein Element der σ-Algebra ℒ.)
Es folgt weiter, dass ℒ die kleinste σ-Algebra auf 𝒞 ist, die alle offenen Mengen und alle Nullmengen enthält:
Korollar (Umfang der Lebesgue-messbaren Mengen)
Es gilt ℒ = ⋂ { 𝒜 | 𝒜 ist eine σ-Algebra auf 𝒞 mit
{ Cs | s ∈ Seq2 } ∪ { P ⊆ 𝒞 | μ+(P) = 0 } ⊆ 𝒜 }. |
Das Lebesgue-Maß auf 𝒩
Wir skizzieren schließlich noch zwei Möglichkeiten, ein Lebesgue-Maß auf dem Baireraum zu definieren.
Sei wieder μ das Lebesgue-Maß auf 𝒞. Für P ⊆ 𝒩 mit P ∩ 𝒞 ∈ ℒ können wir μ′(P) = μ(P ∩ 𝒞) definieren und so ein Maß μ′ auf einer σ-Algebra ℒ′ auf 𝒩 erhalten. Es gilt ℒ′ = { P ⊆ 𝒩 | P ∩ 𝒞 ∈ ℒ }. 𝒩 − 𝒞 ist eine Nullmenge für das Maß μ′.
Alternativ und interessanter liefert eine Variante der Konstruktion direkt ein Maß auf einer σ-Algebra auf 𝒩, das die ganze Breite des Baireraumes berücksichtigt. Strebt man ein möglichst demokratisches Maß μ auf 𝒩 an, so kann man die Masse 1 nicht gleichmäßig auf alle Nachfolger der Wurzel verteilen, da diese unendlich an der Zahl sind. Man kann die Masse eines Knotens aber abfallend auf seine Nachfolger verteilen, und etwa μ(N〈 n 〉) = 1/2n + 1 und allgemein μ(Ns⁀n) = μ(Ns) · 1/2n + 1 für alle s ∈ Seq und n ∈ ℕ setzen. Man erhält so eine recht natürliche Verteilung der Masse 1 über den Baum Seq. Es gilt
μ(Ns) = 1/2s(0) + 1 · … · 1/2s(n − 1) + 1 = 2− ∑i < n (s(i) + 1)
für alle s ∈ Seq der Länge n. Damit hängt μ(Ns) nur von der Summe der Einträge in s und von |s| ab, und in diesem Sinne ist das Maß doch recht demokratisch.