Irreguläre Mengen und die Kontinuumshypothese

 Nimmt man die Kontinuumshypothese an, so lassen sich weitere Mengen konstruieren, die gewisse Regularitätseigenschaften verletzen. Hierzu betrachten wir zunächst überabzählbare Mengen, die allen mageren Mengen so weit wie möglich ausweichen.

Mahlo-Lusin-Mengen

Definition (Mahlo-Lusin-Mengen)

Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein polnischer Raum, und sei P ⊆ X.

P heißt eine Mahlo-Lusin-Menge in 𝒳, falls gilt:

(i)

P ist überabzählbar.

(ii)

Für alle nirgendsdichten M ⊆ X ist P ∩ M abzählbar.

 Offenbar gilt: Ein überabzählbares P ⊆ X ist genau dann eine Mahlo-Lusin-Menge, wenn P ∩ M abzählbar ist für alle mageren Mengen M ⊆ X. Damit sind Mahlo-Lusin-Mengen sicher nicht mager. Stärker sind sie nicht Baire-messbar und verletzen die Scheeffer-Eigenschaft. Dies wollen wir nun beweisen.

Satz (Irrregularität von Mahlo-Lusin-Mengen)

Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein polnischer Raum, und sei P ⊆ X eine Mahlo-Lusin-Menge.

Dann enthält P keinen überabzählbaren polnischen Teilraum von X.

Insbesondere erfüllt P die Scheeffer-Eigenschaft nicht und ist nicht Baire-messbar.

Beweis

Jeder überabzählbare polnische Teilraum A von X enthält eine Kopie C des Cantorraumes 𝒞. Dann ist C ⊆ A überabzählbar und nirgendsdicht in X, und insbesondere gilt dann also non(A ⊆ P).

Die Verletzung der Scheeffer-Eigenschaft ist damit klar.

Annahme, P ist Baire-messbar. Dann ist P = ⋂n  ∈   Un ∪ M mit offenen Un und einem mageren M. Aber M ∩ P ist abzählbar, und folglich ist ⋂n  ∈   Un ⊆ P ein überabzählbarer polnischer Teilraum von X, Widerspruch.

 Wir werden dagegen gleich zeigen, dass Mahlo-Lusin-Mengen Lebesgue-messbar sind.

 Die Existenz von Mahlo-Lusin-Mengen ist unabhängig von der üblichen Mathematik. Unter Annahme der Kontinuumshypothese kann man die Existenz von Mahlo-Lusin-Mengen beweisen:

Satz (Existenz von Mahlo-Lusin-Mengen unter (CH))

Es gelte (CH). Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein überabzählbarer polnischer Raum.

Dann existiert eine Mahlo-Lusin-Menge in 𝒳.

Beweis

Es gibt 2ω-viele nirgendsdichte Teilmengen von X (!).

Wegen (CH) gilt 2ω = ω1. Sei also 〈 Nα | α < ω1 〉 eine Aufzählung aller nirgendsdichten Teilmengen von X.

Wir definieren xα  ∈  X für α < ω1 rekursiv durch:

xα  =  „ein x  ∈  X − ⋃β ≤ α Nβ mit x ≠ xβ für alle β < α“.

Ein solches x existiert für alle α < ω1, denn ⋃β ≤ α Nβ ∪ { xβ | β < α } ist eine abzählbare Vereinigung nirgendsdichter Mengen, und damit ungleich X nach dem Baireschen Kategoriensatz.

Wir setzen nun:

P  =  { xα | α < ω1 }.

Dann ist P eine Mahlo-Lusin-Menge in 𝒳. Denn ist N ⊆ X nirgendsdicht, so ist N = Nγ für ein γ < ω1. Nach Konstruktion gilt xα  ∉  Nγ für alle γ ≤ α < ω1, und damit ist

P  ∩  Nγ  ⊆  { xα | α < γ }.

Also ist P ∩ N = P ∩ Nγ abzählbar.

 Dagegen kann man unter Annahme von non(CH) die Existenz von Mahlo-Lusin-Mengen weder beweisen noch widerlegen. (CH) entscheidet also diese Existenzfrage positiv, non(CH) lässt sie weiter offen.

Starke Nullmengen

 Als Anwendung des Begriffs der Mahlo-Lusin-Menge betrachten wir ein berühmtes Problem von Borel. Insbesondere zeigen wir, dass eine Mahlo-Lusin-Menge für  oder 𝒞 eine Lebesgue-Nullmenge ist.

Definition (starke Nullmenge)

Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein polnischer Raum, und sei P ⊆ X.

P heißt eine starke Nullmenge in 𝒳, falls für jede die Topologie erzeugende Metrik d und jede Folge 〈 εn | n  ∈   〉 von positiven reellen Zahlen gilt:

Es existieren offene Un ⊆ X für n  ∈   mit:

(i)

diam(Un)  <  εn  für alle n  ∈  ,

(ii)

P  ⊆  ⋃n  ∈   Un.

 In erster Linie interessieren uns starke Nullmengen in  und den Folgenräumen. Über den Umfang der starken Nullmengen bemerken wir zunächst:

Übung

(i)

Jede starke Nullmenge P ⊆  oder P ⊆ 𝒞 ist eine Lebesgue-Nullmenge.

(ii)

Jede abzählbare Teilmenge eines polnischen Raumes ist eine starke Nullmenge.

(iii)

Ist 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein polnischer Raum, und P ⊆ X eine starke Nullmenge, so ist P ∪ Q eine starke Nullmenge für alle abzählbaren Q ⊆ X.

 Andererseits gilt:

Übung

(i)

Sei C ⊆ [ 0, 1 ] die Cantormenge.

Dann ist C eine Lebesgue-Nullmenge, aber keine starke Nullmenge.

[ Betrachte εn = 1/3n + 1 für n  ∈  . ]

(ii)

Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein polnischer Raum, und sei P ⊆ X überabzählbar und abgeschlossen. Dann ist P keine starke Nullmenge.

[ P enthält eine Kopie der Cantormenge C. Weiter gilt: Bilder starker Nullmengen unter gleichmäßig stetigen Funktionen sind starke Nullmengen. Stetige Funktionen auf Kompakta sind gleichmäßig stetig. ]

 Man wird nun nach weiteren Beispielen neben den abzählbaren Mengen für starke Nullmengen fragen. Borel fand keine und vermutete 1919, dass jede starke Nullmenge von  abzählbar ist:

Borelsche Vermutung

Sei X ⊆  eine starke Nullmenge. Dann ist X abzählbar.

 Die Borelsche Vermutung ist wieder weder beweisbar noch widerlegbar. Richard Laver konstruierte 1976 ein Modell, in welchem die Borelsche Vermutung richtig ist. Andererseits können wir wieder leicht zeigen, dass unter (CH) Gegenbeispiele zur Borelschen Vermutung existieren. Es gilt nämlich:

Satz (Mahlo-Lusin-Mengen sind starke Nullmengen)

Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein polnischer Raum, und sei P eine Mahlo-Lusin-Menge in 𝒳.

Dann ist P eine überabzählbare starke Nullmenge.

Beweis

Als Mahlo-Lusin-Menge ist P überabzählbar.

Sei d eine kompatible Metrik für 𝒳, und sei εn > 0 für n  ∈  .

Sei weiter Q ⊆ X eine abzählbare dichte Teilmenge von X, und sei q0, q1, …, qn, …, n  ∈  , eine Aufzählung von Q.

Für n  ∈   sei U2n eine offene Umgebung von qn mit diam(U2n) < ε2n.

Wir setzen:

U  =  ⋃n  ∈   U2n.

Dann gilt:

(+)  P − U ist abzählbar.

Beweis von (+)

U ist dicht und offen in X, also ist X − U nirgendsdicht.

Wegen P Mahlo-Lusin-Menge ist also P − U = P ∩ (X − U) abzählbar.

Sei x0, x1, … eine Aufzählung von P − U, evtl. mit Wiederholungen.

Für n  ∈   sei U2n + 1 offen mit xn  ∈  U2n + 1 und diam(U2n + 1) < ε2n + 1.

Dann ist P ⊆ ⋃n  ∈   Un, und diam(Un) < εn für alle n  ∈  .

 Im letzten Teil des Beweises beweisen wir de facto (iii) der vorletzten Übung.

 Der Beweis des Satzes nutzt eine vielleicht etwas verblüffende Eigenschaft einer Mahlo-Lusin-Menge P: Für beliebig feine offene Überdeckungen U einer beliebigen abzählbaren dichten Teilmenge von X ist P − U abzählbar. Hatten wir uns daran gewöhnt, dass solche Überdeckungen, die zunächst den ganzen Raum auszufüllen scheinen, vom Standpunkt der Längenmessung aus betrachtet sehr klein sein können, so sind sie aus der Sicht einer Mahlo-Lusin-Menge doch in jedem Falle sehr groß, da sie nur abzählbar viele Punkte einer solchen Menge auslassen.

Wohlordnungen der Länge ω1

 Wir stellen zum Ende dieses Zwischenabschnitts noch ein klassisches Argument für das Lebesgue-Maß auf  vor. Es funktioniert analog auch für den Cantorraum. Gleich im Anschluss werden wir ein allgemeineres Resultat ohne Zuhilfenahme der Kontinuumshypothese beweisen.

 Sei I = [ 0, 1 ]. Unter (CH) existiert eine Bijektion g  : I  ω1. Sei <g die durch g induzierte Wohlordnung auf I. Dann sind 〈 I, <g 〉 und 〈 ω1, < 〉 ordnungsisomorph. Die Besonderheit einer derartigen Wohlordnung auf dem Einheitsintervall I ist:

(+)  Für alle x  ∈  I ist das Anfangsstück Ix = { y  ∈  I | y <g x } abzählbar.

 Diese Eigenschaft ist zuweilen sogar als (wohl recht schwaches) intuitives Argument gegen die Kontinuumshypothese vorgebracht worden.

 Eine Wohlordnung mit (+) kann nun aber nicht Lebesgue-messbar sein, da sie dem Satz von Fubini zuwiderläuft:

Satz (Wohlordnungen der Länge ω1 sind nicht Lebesgue-messbar)

Sei 〈 [ 0, 1 ] , < 〉 eine Wohlordnung mit 〈 [ 0, 1 ], < 〉 ≡  〈 ω1, < 〉.

Dann ist <  ⊆  [ 0, 1 ]2 nicht Lebesgue-messbar.

Beweis

Annahme doch. Sei I = [ 0, 1 ], und seien λ das Lebesgue-Maß auf I, λ2 das Lebesgue-Maß auf I × I. Für x  ∈  I setzen wir:

W(x) =  { y  ∈  I | (y, x)  ∈  < }=  { y  ∈  I | y < x }  =  Ix,
S(x) =  { y  ∈  I | (x, y)  ∈  < } =  { y  ∈  I | x < y }  =  I − (Ix ∪ { x }).

Dann ist W(x) abzählbar für alle x  ∈  I, also gilt λ(W(x)) = 0 für alle x  ∈  I.

Nach dem Satz von Fubini gilt dann λ2(<) = 0.

Andererseits ist I − S(x) abzählbar für alle x  ∈  I, also gilt λ(S(x)) = 1 für alle x  ∈  I. Nach dem Satz von Fubini gilt dann λ2(<) = 1, Widerspruch.

 Dieser Beweis ist ein klassisches Beispiel, wie (CH) manche Argumente vereinfacht und besonders klar zu Tage fördert. Wir zeigen nun aber, dass wir für dieses Resultat auf die Annahme von (CH) verzichten können, und beweisen ein analoges Ergebnis über die Baire-Messbarkeit.