Die Suslin-Operation und analytische Mengen

 Die Borel-Mengen eines metrisierbaren Raumes konnten wir durch einen Abschluss der offenen und abgeschlossenen Mengen unter abzählbaren Schnitten und Vereinigungen sowie Komplementbildung darstellen. Wir gehen nun der Frage nach:

Kann man noch mehr Mengen mit einfachen Operationen erzeugen?

 Die Antwort ist ja, und es gibt mehrere natürliche Konstruktionen eines noch umfassenderen Mengenbegriffs. Wir führen hierzu als erstes Beispiel eine allgemeine neue mengentheoretische Operation ein. Sie verwendet eine Kombination von Schnitten und Vereinigungen und nimmt zur Platzierung der Mengen den Baireraum zu Hilfe.

Definition (die Suslin-Operation)

Seien Ps Mengen für s  ∈  Seq. Dann setzen wir:

Su(〈 Ps | s  ∈  Seq 〉)  =  ⋃f  ∈  𝒩n  ∈   Pf|n.

Die Operation Su heißt die Suslin-Operation.

Ist X eine Menge und 𝒜 ⊆ (X), so setzen wir:

𝒜Su  =  { Su(F) | F : Seq  𝒜 }.

 Wir bestücken hier also den Baum Seq mit beliebigen Mengen, schneiden über alle Pfade und sammeln alle diese Schnitte auf. Wenn wir wollen, können wir immer annehmen, dass die Mengen Ps entlang aller Pfade f  ∈  𝒩 bzgl. der Inklusion absteigen, denn es gilt

f  ∈  𝒩n  ∈   Pf|n  =  ⋃f  ∈  𝒩n  ∈   P′f|n

für die Mengen P′s = ⋂n < |s| Ps|n, s  ∈  Seq.

 Zunächst würde man vielleicht vermuten, dass die Borel-Mengen eines Raumes 𝒳 abgeschlossen unter der Suslin-Operation sind. Wir werden aber zeigen, dass dies i. A. nicht der Fall ist: Ist 𝒳 ein überabzählbarer Raum, so ist bereits Π01(𝒳)Su eine echte Erweiterung von (𝒳)! Für beliebige Räume gilt zudem (𝒳) ⊆ Π01(𝒳)Su. Dies ist umso überraschender, weil die Elemente von Π01(𝒳)Su gewisse recht anschauliche Vereinigungen von abgeschlossenen Mengen sind, deren Komplexität man zunächst vielleicht in der Größenordnung von Σ02(𝒳) vermuten würde.

 Mit der Suslin-Operation lassen sich also eine erstaunliche Vielzahl von Mengen in einem einzigen Schritt erzeugen. Hat man sein Erstaunen über diese von einer vergleichsweise simplen Operation ausgelöste Mengenflut wieder etwas beruhigt, so drängt sich die Idee der Iteration der Suslin-Operation von selbst auf. Wieder etwas überraschend gilt in dieser Hinsicht das andere Extrem: Die Iteration liefert nichts Neues. Dieses limitierende Resultat wollen wir zuerst zeigen, bevor wir die von der Suslin-Operation erzeugten Mengen genauer untersuchen.

Satz (Iteration der Suslin-Operation)

Sei X eine Menge, und sei 𝒜 ⊆ (X). Dann gilt:

(𝒜Su)Su  =  𝒜Su.

Beweis

Sei  = 𝒜Su. Wir zeigen, dass Su =  gilt.

Zunächst gilt  ⊆ Su, denn für alle P ist Su(〈 P | s  ∈  Seq 〉) = P.

Seien also Rs  ∈   für alle s  ∈  Seq. Wir müssen zeigen, dass

R  =  Su(〈 Rs | s  ∈  Seq 〉)  =  ⋃g  ∈  𝒩n  ∈   Rg|n

ein Element von  ist.

Für alle s, t  ∈  Seq seien Pst  ∈  𝒜 derart, dass

Rs  =  ⋃f  ∈  𝒩m  ∈   Psf|m.

Sei weiter π : 2   die Cantorsche Paarungsfunktion.

Für n  ∈   definieren wir n0 und n1 durch

(n0, n1)  =  π−1(n),

d. h. wir lesen ein n  ∈   als Paar (n0, n1)  ∈  2. Die Kodierung und Dekodierung wird durch π gegeben.

Damit rechnen wir nun:

R  =  g  ∈  𝒩n  ∈  f  ∈  𝒩m  ∈   Pg|nf|m =Distributivgesetz
g  ∈  𝒩h  ∈  𝒩n  ∈  m  ∈   Pg|nh(n)|m = 
g  ∈  𝒩n  ∈  m  ∈    P〈 g(0)0, …, g(n − 1)0 〉〈 g(π(n, 0))1, …, g(π(n, m − 1))1 〉  = 
g  ∈  𝒩n  ∈    P〈 g(0)0, …, g(n0 − 1)0 〉〈 g(π(n0, 0))1, …, g(π(n0, n1 − 1))1 〉  = 
g  ∈  𝒩n  ∈    Qg, n

mit  Qg, n  =  P〈 g(0)0, …, g(n0 − 1)0 〉〈 g(π(n0, 0))1, …, g(π(n0, n1 − 1))1 〉.

Dann gilt:

(+)  Qg, n  =  Qh, n  für alle g, h  ∈  𝒩 mit g|n = h|n.

Wir können also für s  ∈  Seq definieren:

Qs  =  Qs000…, |s|.

Nach (+) und obiger Rechnung ist dann

R  =  ⋃g  ∈  𝒩n  ∈   Qg|n  =  Su(〈 Qs | s  ∈  Seq 〉).

 Eine weitaus einfacher zu zeigende Abgeschlossenheitsaussage ist:

Übung

Sei X eine Menge, und sei 𝒜 ⊆ (X). Dann gilt 𝒜δ  ⊆  𝒜Su und 𝒜σ  ⊆  𝒜Su.

 Dagegen ist 𝒜c i. A. keine Teilmenge von 𝒜Su, wie wir unten zeigen werden. Die Abgeschlossenheit unter den Operationen σ und δ genügt aber für einen induktiven Beweis, dass die Suslin-Operation alle Borel-Mengen erzeugt:

Korollar (Abgeschlossenheitseigenschaften der Suslin-Operation)

Sei 𝒳 ein metrisierbarer Raum, und sei 𝒜 = Π01(𝒳)Su. Dann gilt:

(i)

𝒜δ  ⊆  𝒜,  𝒜σ  ⊆  𝒜,

(ii)

(𝒳)  ⊆  𝒜.

Beweis

zu (i):  Es gilt 𝒜δ, 𝒜σ ⊆ 𝒜Su = 01(𝒳)Su)Su = Π01(𝒳)Su = 𝒜.

zu (ii):  Wir zeigen durch Induktion nach 1 ≤ α < ω1:

(+)  Σ0α(𝒳)  ∪  Π0α(𝒳)  ⊆  𝒜.

Induktionsanfang α = 1:

Es gilt Π01(𝒳) ⊆ Π01(𝒳)Su = 𝒜.

Nach (i) ist weiter Σ01(𝒳) ⊆ Σ02(𝒳) = Π01(𝒳)σ ⊆ 𝒜.

Induktionsschritt 2 ≤ α < ω1:

Nach I. V. ist ⋃β < α Π0β(𝒳) ∪ Σ0β(𝒳)  ⊆  𝒜.

Mit (i) gilt dann aber auch

Σ0α(𝒳) =  (⋃β < α Π0β(𝒳))σ ⊆  𝒜,  und
Π0α(𝒳) =  (⋃β < α Σ0β(𝒳))δ ⊆  𝒜.

Nach (+) ist dann (𝒳) = ⋃1  ≤  α  <  ω1 Σ0α(𝒳) ⊆ 𝒜.

 Wir konzentrieren uns von nun an auf polnische Räume.

Definition (analytische und koanalytische Mengen)

Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein polnischer Raum, und sei A ⊆ X.

(i)

A heißt analytisch (im Raum 𝒳), falls A  ∈  Π01(𝒳)Su.

(ii)

A heißt koanalytisch (im Raum 𝒳), falls X − A analytisch ist.

 Nach dem Satz und seinem Korollar ist (𝒳)Su = Π01(𝒳)Su, d. h. wir könnten zur Definition der analytischen Mengen auch mit Borel-Mengen bestückte Bäume zulassen. Weiter ist auch Σ01(𝒳)Su = Π01(𝒳)Su, denn Π01(𝒳) ⊆ Σ01(𝒳)δ ⊆ Σ01(𝒳)Su, also Π01(𝒳)Su ⊆ 01(𝒳)Su)Su = Σ01(𝒳)Su ⊆ (𝒳)Su = Π01(𝒳)Su.

 Koanalytische Mengen A haben die Form

A  =  ⋂f  ∈  𝒩n  ∈   Pf|n,  mit Ps offen in 𝒳 für alle s  ∈  Seq.

Statt offener Mengen können wir wieder Borel-Mengen Ps von 𝒳 verwenden.